Alltagsfremde Empfehlungen der SWK - Auch Lehrer sind keine Maschinen

Die „Ständige Wissenschaftliche Kommission“ gibt gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz Empfehlungen zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels. Diese sind ein Lehrstück darüber, wie weit Wissenschaft und Bürokratie von der Lebensrealität der Lehrer entfernt sind.

Müssen Lehrer künftig länger und größere Klassen unterrichten? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Ewald Kiel ist Ordinarius für Schulpädagogik an der LMU München und war Direktor des Departments für Pädagogik und Rehabilitation sowie Mitglied des Universitätssenats. Zur Zeit ist er Dekan der Fak. 11 der LMU.

So erreichen Sie Ewald Kiel:

Anzeige

Es ist in der Politik populär, politische Entscheidungen durch Vertreter der Wissenschaft absichern zu lassen. Dies verleiht Entscheidungen scheinbar eine höhere Legitimität und entlastet Politik von der Verantwortung. Die Entwicklung von Maßnahmen zur Eindämmung von Covid sind ein populäres und allseits bekanntes Beispiel dafür. Bildungspolitiker wünschen sich ebenfalls eine solche Absicherung. Die „Ständige Wissenschaftliche Kommission“ (SWK) soll dies leisten.

Gerade hat sich diese Kommission gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel geäußert. Die Äußerungen sind ein Lehrstück darüber, wie schwer sich Wissenschaft bisweilen mit der Realität tut, und wie schwer es ist, vernünftige wissenschaftliche Empfehlungen für Menschen zu entwickeln, die nicht wie Automaten agieren und reagieren, sondern lebendig sind, Gefühle haben und ihr Leben möglicherweise anders planen, als Wissenschaft und Bürokratie sich das vorstellen.

Die empfohlenen Maßnahmen

Betrachten wir hierzu zunächst einige der empfohlenen Maßnahmen. Es wird empfohlen,

•    befristet Unterrichtsdeputate zu erhöhen,
•    Teilzeitarbeit zu begrenzen,
•    den Eintritt in den Ruhestand hinauszuzögern, das heißt, konkret weniger großzügige Vorruhestandsregeln zu gewähren,
•    Klassengrößen zu erhöhen,
•    Hybridunterricht in der Oberstufe auszuweiten, das heißt, Unterricht mit größeren Selbstlernphasen zu entwickeln und zu organisieren,
•    eine Qualifikation von gymnasialen Lehrkräften für andere Schulformen durchzuführen, weil es einen Überschuss an gymnasialen Lehrkräften gibt, die anderswo sinnvoller eingesetzt werden können,
•    Modelle von Quer- und Seiteneinstieg zu entwickeln, zum Beispiel sprachliche Anforderungen von zugewanderten Lehrkräften senken, auf ein zweites Fach verzichten etc.

Diese Maßnahmen werden mit Sätzen kommentiert wie „Adhoc-Maßnahmen dürfen nicht dazu führen, dass die Pädagogen verunsichert werden. Denn wir müssen den Bestand an Lehrkräften sichern und pflegen“. Man kann sehr bezweifeln, ob dieser Teil der Maßnahmen Pädagogen tatsächlich nicht verunsichert und ihr Bestand hierdurch gesichert und gepflegt wird. Denn die Botschaft lautet in einem Satz: Ihr müsst mehr unterrichten, dafür bekommt ihr größere Klassen, ihr sollt neue Unterrichtsformate in der Oberstufe entwickeln und diese möglichst ohne großen Arbeitsaufwand zum Erfolg führen, um mehr Zeit für weiteren Unterricht mit größeren Klassen zu bekommen, die Flexibilisierung der Arbeitszeiten wird reduziert, es wird mehr Kollegen geben, die weniger qualifiziert an der Schule unterrichten und dafür von den höher qualifizierten Lehrkräften mehr unterstützt werden müssen.

Attraktivitätsverlust des Lehrerberufs

Das sind tolle Aussichten! Als Professor für Schulpädagogik an einer der größten lehrerbildenden Institutionen der Bundesrepublik, an der Ludwig-Maximilians-Universität München, frage ich mich sehr ernsthaft, wie ich Studierende mit diesen Aussichten für den Beruf motivieren soll. Meine Kenntnis an Motivationstheorien nützt mir in Anbetracht der demotivierenden Kraft des Faktischen wenig. Wissenschaftliche Befunde, dass Klassengrößen wenig Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler haben, werden Lehrkräfte kaum begeistern, denn selbstverständlich bedeuten mehr Schüler mehr Arbeit und Belastung. 

Die erhöhten Anforderungen an Lehrkräfte durch Digitalisierung, Heterogenität der Schülerschaft und Inklusion lassen diese Maßnahmen ebenfalls nicht als Beitrag zur Pflege des Bestands von Lehrkräften erscheinen. Auch die Aussage, die Maßnahmen müssten einerseits begrenzt sein, jedoch müsse andererseits die nächsten 20 Jahre mit der Mangelsituation umgegangen werden, sind wohl kaum ein Beitrag, Lehrkräfte nicht zu verunsichern. Ich selbst war in Zeiten eines zurückliegenden Lehrkraftmangels vor ca. 30 Jahren Lehrer in Niedersachsen, habe ein erhöhtes Stundendeputat gehabt, ohne dafür bezahlt zu werden, und warte noch heute auf Gutschriften.

Soziale und psychologische Folgen vernachlässigt

Dieser Teil der Empfehlungen wiederholt ein Muster, das mich fatal an die wissenschaftlichen Empfehlungen zur Eindämmung der Covid-Pandemie erinnert. Die Empfehlungen in der Hochzeit der Covid-Pandemie waren ebenfalls durch ein naives Rechnen, wenn auch auf der Basis komplexer Statistik, geprägt. Die Argumentationskette war ungefähr wie folgt: Wenn Menschen miteinander Kontakt haben, besteht die Möglichkeit der Ansteckung. Reduziert man die Kontakte, indem man Schulen und Kindergärten schließt, soziale Beziehungen grundsätzlich verringert, Sport und Freizeitaktivitäten einschränkt oder gar verbietet, dann wird die Pandemie beherrschbar oder zumindest beherrschbarer, weil es so weniger Ansteckung gibt. 

Niemand hat in dieser Hochzeit danach gefragt, was diese Maßnahmen mit den Menschen machen, welche negativen Konsequenzen in wohlgemeinten und wohlbegründeten Maßnahmen stecken können. Niemand hat an erhöhte häusliche Gewalt, Depression oder schwer aufzuholende Bildungsdefizite gedacht oder diese zumindest nicht ernst genug genommen, um diese in Gestaltung der Maßnahmen angemessen zu berücksichtigen. Alle waren nur eindimensional auf eine einzige Konsequenz konzentriert. Heute bemühen sich viele Beteiligte, sich von diesen Maßnahmen zu distanzieren – allen voran der Bundesgesundheitsminister.

 

Lesen Sie weitere Artikel zum Thema:

 

Ähnlich kann es auch mit den oben genannten Empfehlungen zum Lehrkräftemangel laufen. Statt mehr Personen in den Beruf zu bekommen, die den Mangel ausgleichen, kann etwas ganz anderes passieren. Der Lehrerberuf wird weniger attraktiv, weniger Menschen finden es erstrebenswert, diesen Beruf zu ergreifen, und der Mangel vergrößert sich sozusagen an der Wurzel des Übels – der Motivation zum Beruf. Der Krankenstand der Kollegen an der Schule steigt, weil die Belastungen überhandnehmen, wenn beispielsweise mehr und in größeren Klassen unterrichtet werden muss oder fehlende Teilzeitmodelle die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erschweren. Dies wiederum führt dazu, dass immer weniger Personen immer größeren Belastungen ausgesetzt sind. Ein negativer Kreislauf entsteht. 

Die Qualität des Unterrichts sinkt, trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse, die meine Kollegen über Lehren und Lernen gewonnen haben, weil Menschen unter Belastung Strategien entwickeln müssen, sich zu entlasten – das heißt zum Beispiel, sich weniger vorbereiten, Kontakte zu Schülern oder Eltern einschränken, Teambesprechungen zur Förderung von Schülern mit Förderbedarf zu begrenzen etc. Normative Vorgaben werden dem kaum Einhalt gebieten können. Jenseits aller Rechenmodelle ist es einfach menschlich, rational und auch noch gesund, so zu reagieren! Zudem muss man sich ernsthaft fragen, ob ein forcierter Seiten- und Quereinstieg nicht auf Jahrzehnte die Qualität des Bildungswesens reduziert. Diesen nur in Ansätzen skizzierten dynamischen Prozess einzufangen, wird sich als nicht einfach erweisen.

Die SWK hat durchaus eine Ahnung davon, was passieren könnte, denn sie fordert auch

•    Entlastung der Lehrkräfte von Verwaltungsaufgaben
•    Maßnahmen der Gesundheitsförderung
•    Entlastung und Unterstützung qualifizierter Lehrkräfte durch Studierende und andere Personen.

Pilates hilft wenig bei dauerhafter Überlastung

Das sind durchaus richtige Empfehlungen – auch wenn die gleichzeitige Forderung nach einer Erhöhung sowohl von Deputat als auch Klassengröße und die Forderung nach Maßnahmen der Gesundheitsförderung fast schon zynisch anmuten. Die Dokumentationspflichten von Lehrkräften, ihre Beteiligung an Verwaltungs- und Organisationsaufgaben haben sich zu einem Dämon des Berufs entwickelt, der nicht dazu beiträgt, dass Lehrkräfte motiviert und belastungsfähig ihren Beruf ausüben. Maßnahmen der Gesundheitsförderung sind fraglos richtig und wichtig, aber Kenntnisse der Entstehung von Stress, Achtsamkeit, Yoga und Pilates helfen wenig in einem Kontext, der Anforderungen längerfristig erhöht und Flexibilisierung erschwert – in einem Rahmen ungeklärter Dauer. Nimmt man Theorien zur Achtsamkeit und Gesundheitsorientierung ernst, dann sollten diese im Kontext der schönen neuen Lehrerwelt dazu führen, den Beruf zu verlassen. 

Die Entlastung und Unterstützung qualifizierter Lehrkräfte vor allem durch Studierende ist ebenfalls richtig, aber durchaus zweischneidig. Denkt man etwa an Studierende im Praktikum, dann sollen diese lernen und in ihre professionelle Rolle hineinwachsen. Das heißt nicht, dass sie Lehrkräften Unterricht abnehmen, sondern sie sollen sich unter Anleitung und Begleitung qualifizierter Lehrkräfte entwickeln und Einblick in den Lehrerberuf bekommen. Auch hier ist die Frage interessant, wie motivierend für die berufliche Zukunft es wirkt, wenn Studierende im Praktikum auf von großen Klassen und zusätzlichen Unterrichtsstunden erschöpfte Lehrkräfte treffen.

Steuerung statt Krisenmanagement

Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Der Staat und in diesem Fall die Kultusbürokratie haben es seit Kriegsende nicht geschafft, Bedarfe für Lehrkräfte valide und reliabel zu ermitteln. Die Kultusbürokratie mit dem Finanzministerium im Nacken rechnet Bedarfe konservativ gering. In der Stellungnahme der SWK und der Kultusministerkonferenz etwa geht die Konferenz von 25.000 Lehrkräften aus, die fehlen, während andere Schätzungen sehr viel höher liegen. Es ist bisher nicht gelungen, antizipatorisch zu handeln, das heißt, kommende Probleme vorauszusehen und ihnen entgegenzusteuern. Stattdessen wird immer auf eine aktuelle Krise reagiert und diese aktuelle Krise als unvorhersehbar klassifiziert. Jedoch sei daran erinnert, dass das Wechselspiel von Lehrkraftmangel und Lehrkraftüberangebot seit vielen Jahrzehnten existiert und sich immer und immer wieder wiederholt. 

Verschärft wird das Problem durch absurde Planungsannahmen. Gerne hat sich Kultusbürokratie in den letzten Jahrzehnten damit gebrüstet, der Bestand an Lehrkräften gewährleiste in einer Schulform oder einem Unterrichtsfach eine Unterrichtsversorgung von 95%, 97% oder 100%. Es gebe demzufolge kaum Probleme. Übersehen wird dabei, dass jeder Betrieb, der möchte, dass 100% gearbeitet wird, mehr als 100% Arbeitskräfte braucht, weil einige Urlaub nehmen, krank sind, Familienangehörige versorgen müssen, im Zuge einer Work-Life-Balance ihre Arbeitszeit reduzieren etc. 

Qualifizierte Lehrkräfte lassen sich nicht hervorzaubern

Das gilt ganz besonders für Berufe mit einem hohen Anteil an Frauen wie etwa an der Grundschule. Bei einer Grundschule, die etwa zu 100% mit Lehrkräften versorgt iss, wird es meistens Lehrkräfte geben, die aufgrund von Schwangerschaft oder Elternzeit nicht arbeiten. In vielen Bundesländern wird dies nur begrenzt oder gar nicht eingerechnet. Ganz besonders der Lehrerberuf, dem man insgesamt eine Feminisierung zuspricht, erfordert eine Bedarfsplanung, die personale Puffer enthält. Qualifizierte Lehrkräfte lassen sich nicht just in time hervorzaubern.

Es gibt die Redensart „Handle mutig und kraftvoll, aber bedenke die Konsequenzen“. Das gilt auch für Kontexte, in denen man verzweifelt ist. Die Empfehlungen der SWK und der Kultusministerkonferenz zum Lehrkraftmangel erscheinen in ihrer drastischen Formulierung mutig und kraftvoll, und man wünscht sich als Konsequenz eine mittel- oder kurzfristige Lösung des Problems – mehr Menschen, die unterrichten. Das Durchdenken der Konsequenzen jedoch hat, wenn man es gemäß erziehungswissenschaftlicher Begrifflichkeiten anerkennungstheoretisch ausdrückt, viel Potenzial nach oben!

Anzeige