Evolutionsbiologe Axel Meyer im Gespräch - „Diese Aktivisten könnten genauso gut sagen, die Erde sei eine Scheibe“

Nach Protesten von Queer-Aktivisten gegen die Biologin Marie-Luise Vollbrecht hat die Humboldt-Universität Berlin ihren Vortrag über das binäre Geschlechtersystem abgesagt. Im Interview spricht der Evolutionsbiologe Axel Meyer über den Vorfall, die Behauptung, es gebe mehr als zwei Geschlechter, und über den Stand der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland. Meyer ist Mitglied im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, das sich für einen ideologiefreien Diskurs in Forschung und Bildung einsetzt.

Debattenfreier Raum: Auf Transparenten vor der Humboldt Universität wird die Biologin Marie-Luise Vollbrecht beschimpft / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Axel Meyer ist Professor für Zoologie und Evolutionsbiologe an der Universität Konstanz, gehört der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina an und ist Mitglied des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit. Außerdem ist er Gastgeber des Cicero-Wissenschaftspodcasts.

Herr Meyer, weil die Biologin Marie-Luise Vollbrecht von der Humboldt-Universität ausgeladen wurde, nachdem Queer-Aktivisten Stimmung gegen einen von ihr geplanten Vortrag zum binären Geschlechtersystem in der Biologie gemacht haben, diskutiert Deutschland einmal mehr über Wissenschaftsfreiheit. Wie bewerten Sie den Vorfall?

Das ist ein alarmierendes Zeichen – ein weiterer Fall von eingeschränkter Wissenschaftsfreiheit, durch lautstarke ideologische Minderheiten und eine feige Universitätsverwaltung verursacht. Ich habe mir diesen Vortrag auf YouTube angeschaut. Es war schön zu sehen, dass eine Doktorandin bereits einen so fachlich fundierten Vortrag halten kann. Und aus meiner Sicht war da nichts dabei, das besonders politisch oder besonders kritisch gewesen wäre, auch nicht derart, dass Frau Vollbrecht die gesellschaftliche Akzeptanz von Transpersonen infrage gestellt hätte. Was die Reaktion der Humboldt-Universität betrifft: Die hat in punkto Wissenschaftsfreiheit eh nichts mehr zu verlieren. Dass zudem auch noch gelogen und erst behauptet wurde, der Vortrag sei „krankheitsbedingt“ abgesagt worden, dann aber, es habe Sicherheitsbedenken gegeben, ist ein hanebüchener Vorgang. Ich denke, die Humboldt-Universität hat sich einfach mal wieder dem Druck irgendeiner kleinen Gruppe von Ideologen gebeugt.

Sie sagten gerade, die Humboldt-Universität habe in punkto Wissenschaftsfreiheit eh nichts mehr zu verlieren. Was meinen Sie?

Das ist eine Universität, an der ich nicht gerne Professor wäre. Nehmen Sie das Beispiel Jörg Baberowski. Es ist schlimm, wie dieser Mann von der Universität behandelt wurde. Ich habe den Eindruck, dass die HU keine besonders gut geleitete Hochschule ist, zu viele politische Interessen und zu wenige Prinzipien. Und ich würde mir wünschen, dass diese Hochschule sich wieder mehr um Wissenschaft kümmert, anstatt ständig politisch wohlfeil entsprechend dem politischen Klima zu agieren. Aus meiner Sicht sind Universitäten dafür da, zu forschen und zu lehren, wie man die Welt besser versteht. Und nicht aktivistisch zu versuchen, die Welt zu „verbessern“, in dem man (Meinungs-)Vielfalt unterdrückt.

Transaktivisten und junge Studenten, die in ihrer Weltsicht bisweilen ein bisschen überhitzen, sind das eine. Das andere ist, dass sich auch gestandene Erwachsene auf die Seite dieser Aktivisten schlagen und es gut finden, dass Frau Vollbrecht gecancelt wurde. Der Grünen-Politiker Volker Beck wirft Vollbrecht „inhumanen Biologismus” vor, der parlamentarische Staatssekretär der FDP, Jens Brandenburg, ein Politikwissenschaftler und VWLer, behauptet, dass Vollbrecht „schwer erträglichen Unsinn“ verbreiten würde. Was halten Sie davon? 

Es ist doch offensichtlich, dass Leute wie Beck und Brandenburg keinen biologischen Sachverstand haben. Evolution ist wie Erdbeben oder Tsunamis eine Naturgewalt, die keine Moral hat. Der Mensch ist schlicht durch Evolution geformt. Ob ein Studienabbrecher das will oder versteht, ist der Biologie ziemlich egal. Wissen Sie, ich hatte ein Schlüsselerlebnis, als ich Fellow war im Wissenschaftskolleg in Berlin im Jahr 2008. Dort habe ich zum ersten Mal den Begriff „Biologismus“ gehört. Mir war vorher nicht bekannt, dass man Wissenschaft, in diesem Fall Biologie, als „-ismus“, also eine Ideologie bezeichnen kann. Die Wissenschaft dient erst einmal lediglich der Wahrheitsfindung. Aber „Wahrheit“ wird ja mittlerweile in den Geistes- und Kulturwissenschaften als etwas Relatives gesehen. Die Unterschiede à la C.P. Snow sind leider immer noch groß und scheinen wieder größer zu werden. Wenn irgendwelche Aktivisten nun sagen, es gebe mehr als zwei Geschlechter, dann könnten sie genauso gut sagen, die Erde sei eine Scheibe. Es ist schlicht falsch und wissenschaftlich widerlegt.

Lassen Sie uns das kurz vertiefen: Wenn ein Biologiestudent heute in eine Vorlesung geht, in der die Geschlechter behandelt werden, was lernt er dann?

Zunächst würde ich sagen, dass dieser Student das binäre Geschlechtersystem eigentlich schon längst aus dem Biologie-Unterricht in der Schule kennen sollte. Es sind banale biologische Fakten. Unter jenen Individuen aller Arten, egal ob Tier oder Pflanze, die sich sexuell fortpflanzen, gibt es genau zwei Geschlechter. Die mit den großen Keimzellen werden nach Konvention Frauen, die mit den vielen kleineren Keimzellen Männer genannt. Der Sinn von Sex und damit von geschlechtlicher Fortpflanzung ist, genetisches Material durcheinander zu bringen und damit neue genetische Variation in der folgenden Generation herzustellen. Dazu werden aus unseren zwei Chromosomensätzen – die jeder Mann und jede Frau in jeder Zelle hat, weil wir diploid sind – in den Hoden oder Eierstöcken dann durch einen Prozess, der Meiose heißt, diese haploiden Keimzellen gemacht, die nur je einen Chromosomensatz enthalten. Am Ende entsteht ein wieder diploider Embryo, der entweder Mann oder Frau ist, aus der Verschmelzung der beiden haploiden Keimzellen. Die Definition der Geschlechter nach der unterschiedlichen Keimzellengröße, Anisogamie genannt, gibt es übrigens seit ungefähr 1890, was auch mit Fortschritten der Mikroskopie zu tun hat. Denn die Geschlechtszellen sind ja sehr klein, weshalb man sie erst einmal sehen können muss. Dass es Männer und Frauen gibt, ist ja wohl spätestens seit der Bibel sozusagen aktenkundig. Die Begriffe Sex oder Gender werden im Englischen schon seit mindestens dem 14. Jahrhundert so verwandt.

War das in der Geschichte der Evolution mal anders? Gab es andere Formen?

In der Evolution früh gab es ganz sicherlich zuerst isogame, also gleich große Geschlechtszellenorganismen. Wenn man sich den evolutionären Stammbaum aller lebenden Arten anschaut, ist es auch klar, dass Anisogamie dann mehr als einmal entstanden ist.

Jetzt sagen Kritiker des binären Geschlechtersystems allerdings, dass dieses längst wissenschaftlich widerlegt sei. Welche Erkenntnisse sollen dem zugrunde liegen?

Lassen Sie mich hierzu kurz ausholen: Ich habe ja das Buch „Adams Apfel und Evas Erbe: Wie Gene unser Leben bestimmen und warum Frauen anders sind als Männer“ geschrieben (C.Bertelsmann, 2015). Da beschäftige ich mich in einigen Kapiteln mit dem Thema. Fast alle ungefähr 8000 Arten von Säugetieren haben eine Geschlechtsbestimmung durch zwei Sex-Chromosomen X und Y genannt. Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Diese Art der Geschlechtsbestimmung ist im Tierreich aber nicht universell. Bei Vögeln zum Beispiel haben die Männchen zwei gleiche Geschlechtschromosomen. Das heißt, die Art und Weise, wie das Geschlecht genetisch und chromosonal bestimmt wird, ist evolutionär variabel. Die Leute, die nun behaupten, dass das Geschlecht ein Spektrum sei, berufen sich – wenn sie einigermaßen wissenschaftlich argumentieren wollen – darauf, dass es eben Menschen gibt, die nicht XX oder XY sind, sondern zum Beispiel X0 (Turner-Syndrom, tritt bei weniger als 1 von 2500 Frauen auf, ist aber dennoch die häufigste sex-chromosomale Krankheit) oder XXY (Klinefelter-Syndrom, tritt bei weniger als 1 in 5000 Männern auf). Träger beider Syndrome sind unfruchtbar. Es sind also zum Glück nur sehr, sehr wenige Menschen, die großes Pech hatten in der genetischen Lotterie des Lebens. Die Einzelschicksale sind natürlich bedauerlich, ändern aber nichts daran, dass alle Menschen einem der beiden Geschlechter – auch chromosomal klar – zugeordnet werden können.

Anders gefragt: Warum bilden intersexuelle Menschen keine neuen Geschlechter?

Weil sie meist nicht fortpflanzungsfähig und extrem selten sind. Viele dieser Fälle können keine Kinder austragen oder keine Samen produzieren. Evolutionär betrachtet, sind sie – so muss man es leider sagen – Sackgassen. Das klingt hart, ich weiß, und ich urteile hier auch nicht über das Individuum, aber es geht um wissenschaftliche Tatsachen. Und diese Menschen spielen evolutionsbiologisch einfach keine Rolle, was aber zwingend wäre, um als eigene Geschlechter zu gelten, die nicht Mann oder Frau sind. Diese Mutationen treten immer wieder, aber extrem selten auf.

 

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Wie nah, ich formuliere es mal so, kann ein Mann biologisch an eine Frau herankommen und wie nah eine Frau biologisch an einen Mann? 

Der Sport ist hier ein gutes Beispiel. Ich habe ein Kapitel in meinem Buch, in dem es um Sportlerinnen wie Caster Semenya (südafrikanische Mittelstreckenläuferin und mehrfache Olympiasiegerin; Anm. d. Red.) geht, die biologische Vorteile gegenüber ihren Konkurrentinnen hat. Semenya hat einen sehr hohen Testosteronspiegel, weil sie interne Hoden hat, der ihr gegenüber anderen Frauen ähnliche Vorteile bringt, wie man sie von Männern gegenüber Frauen kennt.

Wie äußern sich diese Vorteile beispielsweise?

In allen Sportarten liegt der Unterschied zwischen Männern und Frauen bei den Weltrekorden zwischen zehn und 15 Prozent. Besonders extrem ist das übrigens beim Werfen, da Männer typischerweise sehr viel weiter werfen als Frauen. Mit Training hat das aber nichts zu tun, sondern damit, wie der typische Körper gebildet ist, mit statistischen Unterschieden in physischer Stärke zwischen Männern und Frauen. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie man als Sportverband, zum Beispiel als Internationales Olympisches Komitee (IOC), damit umgeht.

Das finde ich interessant. Lassen Sie uns da näher darauf eingehen.

Gerne. In den 1960er-Jahren gab es sehr viele männlich aussehende Athletinnen aus dem Ostblock bei internationalen Wettbewerben. Irgendwann hat man dann vermutet, dass da etwas nicht stimmt. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass weitaus überdurchschnittlich viele dieser Sportlerinnen interne Hoden hatten, was deren Testosteronspiegel beeinflusste. Eine Reaktion war, dass von Sportlerinnen dann verlangt wurde, bei Olympischen Spielen die Hosen herunter zu lassen, um einen Blick auf deren Geschlechtsorgane werfen zu können, um dann zu entscheiden, wer noch Frau ist und wer vielleicht schon Mann. Das ist natürlich weder ethisch vertretbar noch besonders objektiv und wäre heute ohnehin undenkbar. Also ist man längst zu anderen Methoden übergegangen.

Die da wären?

Das wurde geändert, als klar wurde, dass bei Frauen, die zwei X-Chromosomen haben, das zweite X-Chromosom in jeder Zelle inaktiviert und zum sogenannten Barrkörperchen wird. Das lässt sich mit einem Abstrich im Rachenraum nachweisen, indem man diesen zytologisch einfärbte und die Zellen unter dem Mikroskop anschaute. Bei solchen Frauen konnte man dann in jeder Zelle einen kleinen schwarzen Klumpen feststellen, der das inaktivierte X-Chromosom war. Das wurde bis in die 1980er-Jahre angewendet, um zu entscheiden, ob es sich um eine Frau handelt oder nicht. Als dann später das SRY-Gen auf dem Y-Chromosom gefunden wurde, wurde via PCR das Vorhandensein dieses Gens im genetischen Satz der Person angeschaut. Wenn man ein SRY-Gen hatte, wurde gesagt: Das ist ein Mann, keine Frau. Das SRY-Gen wird in der embryonalen Entwicklung sehr früh eingeschaltet in der Kaskade zum Männlichwerden im Embryo. Aber es gibt eben auch Menschen – und darunter sind bei diesen weiblichen Athleten eine viel größere Häufigkeit als in der menschlichen Gesamtpopulation –, die genetisch männlich sind, auch Testosteron produzieren, aber möglicherweise Rezeptoren haben, die das Testosteron nicht so stark erkennen wie bei Männern.

Mit welchen Folgen?

Die haben dann einen höheren Testosteronspiegel, aber vielleicht nicht ganz den interzellulären Effekt wie bei Männern. Das letzte Kapitel in dieser Geschlechterbestimmung bei internationalen Sportwettbewerben war dann, zu schauen, wie hoch der Testosteronspiegel ist. Mit der Folge, dass Sportlerinnen wie Semenya bei manchen Wettbewerben antreten durften, bei anderen nicht. Die Debatte hält im Spitzensport aber an. Bis zuletzt vorgeschlagen wurden eigene „Trans“-Kategorien von Athleten zu etablieren, sodass sie nicht gegen biologische Frauen im Wettbewerb antreten, was ein Versuch zu mehr Fairness den biologischen Frauen gegenüber ist.

Kann man also sagen, dass es selbst dort, wo das Geschlecht nicht eindeutig erkennbar ist, trotzdem bestimmte Prozesse gibt, um nachvollziehen zu können, ob eine Person eher Mann oder eher Frau ist? Zumindest habe ich Sie so verstanden.

Genau. Beim Testosteronspiegel zum Beispiel gibt es da fast keine Überlappung. Männer haben einen zehn- bis fünfzehnfach höheren Testosteronspiegel als Frauen. Das ist wie bei der Spektrumsfrage: Natürlich gibt es Variationen, aber diese beiden Verteilungskurven überlappen sich nicht. Das wäre ein Kriterium, ein anderes als die XY-Chromosomen, um eine objektivere Einteilung in Mann und Frau zu bewerkstelligen – benachteiligt aber Menschen wie Caster Semenya, die sich als Frauen fühlen, aber genetisch und hormonell als Männer einzuteilen wären. Aber diese ganz kleine Zahl von Ausnahmen sind, wie gesagt, kein Grund, vom binären Geschlechtersystem abzurücken.

Sie sind Mitglied im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Wie dramatisch ist die Situation in Deutschland denn bereits, was die Freiheit der Wissenschaft betrifft?

Zunehmend immer schlechter. Es fängt mit zwanghaftem und vorgeschriebenem Gendern an, geht über exponentiell wachsende Genderreferate, die in Berufungsentscheidungen hineinreden, von denen sie objektiv nichts verstehen, bis zu Quoten auf allen Ebenen der Universitäten, Ministerien und der Gesellschaft. Das ist aber nur ein Teil des großen Ganzen in dem Narrativ, dass Frauen immer Opfer und Männer immer Täter sind und in einer Gesellschaft, in der Identität und selbstzerstörerische Hypermoralität und Gleichmacherei immer wichtiger zu sein scheinen als Talent, Begabung und Fleiß. Die Vorgaben an Universitäten führen nicht dazu, allein nach Qualität und Leistung Berufungsentscheidungen zu treffen und jede Meinung zu tolerieren, sondern nach aktivistischen, vermeintlich weltverbessernden Kriterien zu agieren. Dadurch wird die Welt nicht nur nicht besser, sondern ganz sicher weniger kompetent. Gleichstellung, also die politische Vorgabe, gleich viele Frauen wie Männer in bestimmte Positionen zu befördern, diskriminiert ganz offensichtlich gegen Männer.

Was lässt sich noch beobachten?

Jeder von uns weiß, dass wir, wenn wir Forschungsverbünde gründen wollen, heute einen gewissen Prozentsatz von Frauen brauchen, zwischen 30 und 40 Prozent. Da geht es nicht  primär oder ausschließlich um Qualität, egal welchen Geschlechts, sondern einzig ums Geschlecht. Das wiederum führt auch zu einer Diskriminierung junger Männer in der Wissenschaft. Viele meiner Mitarbeiter, Post-Docs, die sich um Professuren bewerben, sind jetzt die Angeschmierten, weil sie ausgesiebt werden, nur weil sie das falsche Geschlecht haben oder eben verwerflicherweise als weißer Mensch geboren wurden. In Amerika ist es mittlerweile sogar so, dass jeder Bewerber um eine Professur ein sogenanntes „Diversity Equality Inclusion“-Statement schreiben muss. Da muss in einem Aufsatz dargelegt werden, wie ein Professor gedenkt, zukünftig für mehr Inklusion und Gleichheit zu sorgen. Das hat nichts mehr mit Wissenschaft zu tun. Das ist eine Gesinnungsprüfung McCarthyschen Ausmaßes, denn diese DEI-Aufsätze werden in einigen Universitäten benotet und als erstes im Auswahlprozess um Professuren in Betracht gezogen.

Gutes Stichwort: Wo verorten Sie sich denn politisch?

Ich sehe mich als liberal, geprägt durch meine 20 Jahre in den USA, wo ich in sehr progressiven Städten wie Berkeley, Cambridge und New York lebte und mich wohlfühlte. Die Entwicklungen zu gesteuerter und damit illiberaler Politik auf beiden Seiten des Atlantiks finde ich aber sehr bedenklich. Wissen Sie, als Biologe kann ich nur gegen Gleichheit beziehungsweise Gleichmacherei sein, weil die Ungleichheit das Brot der Evolution ist. Wenn wir alle gleich wären, würde die Evolution aufhören, denn das Rohmaterial, die Variation, oder Diversity, wenn Sie so wollen, ginge ihr aus. Wir haben im Durchschnitt rund drei Millionen Mutationen in unserem Genom, die jeden von uns von einander unterscheiden. Da ist die Musik der Evolution drin. Dass es in Deutschland Gleichheit vor dem Gesetz gibt, finde ich natürlich richtig und einen nicht selbstverständlichen Segen. Und ich komme aus einem bildungsfernen Haushalt, deshalb bin ich sehr froh, dass Deutschland sozial viel durchlässiger ist, als immer behauptet wird. Wenn wir aber aufhören, in meinem Beruf oder im ganzen Land nach Qualität und Fähigkeiten zu selektieren, dann kann die Qualität nur runtergehen. Deshalb bin ich auch gegen Quoten, weil das eben nicht die beste Wissenschaft hervorbringen kann, wenn nicht alle Kandidaten in Betracht gezogen werden, sondern nur 50 Prozent davon.

Axel Meyer

Was sagen denn Ihre Kollegen zu diesen Entwicklungen? Denn so eine Uni-Leitung ist ja immer auch einer politischen Einflussnahme ausgesetzt.

Ich glaube, das ist auch eine Generationsfrage. Die Älteren mucken vielleicht ein bisschen mehr auf oder verdrehen zumindest die Augen im Privaten, wenn sich die immer größeren Verwaltungen noch irgendeine neue Vorschrift oder ein überflüssiges Formular mehr ausdenken, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Die Jüngeren machen das tendenziell eher mit. Ich glaube, dass dieses Duckmäusertum in der Professorenschaft, aber auch in der Bevölkerung einfach da ist. Es scheint eben menschlich, keinen Widerstand zu leisten, sich der Gewalt zu beugen und dem medial gemachten Mainstream unhinterfragt hinterherzulaufen. Und diese Translobbyisten haben es geschafft, dass viele Ministerien, Verwaltungen und Hochschulen diesem Zeitgeist längst erlegen sind. Sie haben längst die Macht. Das sehe ich als bedauerliche Entwicklung an. Für mich ist die rote Linie aber auf jeden Fall erreicht, wenn von mir als Biologe erwartet wird, dass ich sagen soll, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Orwell hat dies schon mit seinem Winston Smith vorhergesagt.

Sind all das, worüber wir gesprochen haben, Indizien dafür, dass sich der Wissenschaftsstandort Deutschland gerade selbst abschafft?

Unterm Strich kommt all das ja aus dem angelsächsischen Raum mit Judith Butler und Co. Ich habe manchmal den kulturpessimistischen Eindruck, dass der Westen gerade seine Errungenschaften der Aufklärung und der wissenschaftlichen Methode, die ihn groß und stark gemacht haben, selbst abschafft oder zumindest schwächt, indem er die aufklärerischen Prinzipien verlässt. China und andere noch kompetitivere und hungrigere Länder lachen sich ins Fäustchen. In den meisten Ländern der Welt macht sich doch keiner Gedanken darum, was eine Frau zur Frau macht. Allein die gesellschaftliche Reibung, die durch diese völlig unnötigen Diskussionen entsteht, steht in keinem Verhältnis zu der verschwindend geringen Anzahl von Menschen, um die es hier geht. Wie gesagt, jeder soll sein Leben leben wie er will und ich bin froh, dass unser Land so tolerant ist. Aber es kann nicht sein, dass eine kleine, lautstarke und einflussreiche Minorität von Trans-Aktivisten dem Land vorschreibt, wie wir zu reden und zu denken haben. Und da hinken wir als Deutschland ja sogar noch etwas hinterher, wenn wir das mit den USA oder Großbritannien vergleichen.

Befürchten Sie also, dass es noch schlimmer werden könnte?

Ich hoffe nicht. Jeder lebt in seiner Bubble, und ich höre Podcasts oder lese Artikel und Bücher von klugen Leuten, die Zeichen dafür sehen, dass es langsam einen Backlash gibt, weil der Bogen längst überspannt wird und die Revolution anfängt auch ihre eigenen Kinder zu fressen. Niemand ist je woke genug für die woken Garden. Ich bin erfreut darüber, wie Zeitungen wie die FAZ, NZZ und die Welt, aber auch Cicero endlich unisono dagegen opponieren – zumindest im Falle von Marie-Luise Vollbrecht. Denn ich gebe den Medien auch Schuld an dieser ganzen Entwicklung, weil da – weshalb auch immer – ständig mitgemacht wurde.

Woher kommt das, denken Sie?

Die einfachste Erklärung ist, dass es den Zeitungen mittlerweile leider finanziell so schlecht geht, dass sie auf Anzeigen der Ministerien angewiesen sind, oder eben vom Subskriptionsmodel abhängig sind, was der Diversität der Meinungen innerhalb der Zeitungen nicht zuträglich ist. Mir scheint es, dass die Medien nicht mehr die unabhängige vierte Macht im Staate sind. Auf der anderen Seite: All diese Gender-Beauftragten und woken Profiteure in von Ministerien bezahlten NGOs, Verwaltungen und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden ja nicht entlassen werden, bloß, weil sie den Steuerzahler unnütz Geld kosten, um den Steuerzahler wiederum zu maßregeln und zu bevormunden. Mein Eindruck ist, dass auch das „normale“ Lieschen Müller viel Vertrauen in Medien, staatliche Institutionen und Politik verloren hat. Man kann deshalb nur hoffen, dass die Ratio irgendwann zurückkehrt, die die Wissenschaft und den Westen stark gemacht hat. Denn diesen wirklichen Fortschritt technischer Art werden wir für die zukünftigen Herausforderungen wie Pandemien, Klima und Energie brauchen. Da werden uns viele verschieden Pronomen nicht retten, sondern nur dringend benötigte wissenschaftliche und technische Expertise.

Das Gespräch führte Ben Krischke.

 

Sandra Kostner im Cicero-Podcast: „Mit bestimmten Themen schießt man sich ins wissenschaftliche Aus“

 

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