Beobachtungen zu Europas Substanzverlust - Triumphe der Bedeutungslosigkeit

Europa produziert weiterhin, in erfreulich hoher Qualität und Quantität, Automobile, Anti-Ageing-Produkte, Handtaschen und Windräder. Reicht das als geopolitische, geistige und zivilisatorische Daseinsberechtigung? Anders gefragt, braucht die Welt noch Europa, und falls ja, wofür eigentlich?

Michelangelos Kunst in der World Trade Center Transportation Hub in New York City / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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Bis heute vermitteln die Museen Europas von Kopenhagen bis Reggio di Calabria großartige Momente abendländischer Kunstrezeption. Wenn – was manche auch bezweifeln würden – das Lächeln etruskischer Krieger, die Ästhetik hellenischer Artefakte, Raffaels luzide Heiterkeit, Michelangelos marmorne Träume und Beckmanns moderne Mythenbilder die Quintessenz europäischer Kunst darstellen, steht man in der Tat vor dem Rätsel menschlichen Schöpfertums. Das also waren einmal wir Europäer, dies brachten wir hervor oder stellten es zumindest dar. Nicht nur Giftgas und Genozide, auch geniale Kunstschöpfungen sind unbestreitbar europäisches Erbe.

Ein vergleichbares Gefühl von Erhabenheit („sublime“) mag einen noch bei der privaten Lektüre einiger Gedichte Schillers oder Hölderlins überkommen. Europäische Sprachkunst zählt etliche Höhepunkte. Shakespeares Königsdramen, Goethes olympische Prosa, die Dichtungen Baudelaires, die Erzählungen Tschechows und Maupassants, die Gedichte Kafavis‘ – selbst bei einer radikal subjektiven Auswahl könnte man sein ganzes Leben in Bibliotheken verbringen (nicht die schlechteste Lebensform, allerdings kaum eine produktive Haltung).

Die europäische Kunsttradition vermittelt am stärksten, bis zur Berauschung, das Gefühl eines hochentwickelten, individuell verbürgten, ebenso kraftvollen wie subtilen Ausdrucksvermögens. Gewisse Werke kommen dem, was man die Wahrheit des Menschen über sich selbst nennen könnte, atemberaubend nahe. Verlässt man jedoch die musealen Gedächtnisräume (Sammlungen, Bibliotheken, Archive und Konzertsäle), bläst einem ein ganz anderer Wind ins Gesicht.

Pathologisch trivial

Das 21. Jahrhundert macht, in vielfacher Hinsicht, kurzen Prozess mit dem geistigen Erbe Europas. Eine souveräne Kunst – großzügig und tief – ist nirgends in Sicht; vermutlich entspricht dies nicht mehr dem aktuellen Daseinsgefühl.

Stattdessen werden wortreich die Nickligkeiten privater Existenz ausgebreitet, zu denen familiäres Patchwork und puerile Identitätsabenteuer ebenso gehören wie Drogenabstürze und eine ziellos mäandernde Sexualität. Weltliteratur, dieser glückliche Begriff Goethes, lässt sich auf diese entblößungsfreudige Mediokrität nicht anwenden. Aber wäre nicht genau dies der einzig gültige Maßstab – zumal in Zeiten der Globalisierung?

 

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Die bemühte Literarisierung psychischer Innenwelten, irgendwo irrlichternd zwischen dem Pathologischen und dem Trivialen, wird zu Meisterwerken umgedeutet. Ironie, Selbstdistanz, Anspielungsreichtum oder einfach nur eine genialische Monomanie wie noch bei Thomas Bernhard – sämtlich Fehlanzeige.

Womöglich sind die heutigen Autorinnen und Autoren selbst am meisten davon überrascht, dass wir auch nach Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte immer noch nicht wissen, was Liebe ist und wie man ein glückliches Leben führt. Tröstlich immerhin, dass dieses klebrige Gefühl der notorischen Überforderung längst epidemisch geworden ist; zumindest mit seinen Beziehungsneurosen ist niemand in Europa allein. Bloß, außerhalb der eigenen Peergroup interessiert das niemanden mehr.

Auf der Suche nach dem verlorenen Selbstwertgefühl

Man kann es auch so sagen: Sich zu fühlen und zu gebärden wie ein heutiger Europäer, ist menschlich einfach nicht erstrebenswert.

Man weiß nicht, wer man ist, noch zu wem man gehören will. Wer als Hund oder Purpurschnecke angesprochen werden möchte, kann dies neuerdings richterlich durchsetzen. Die eigene Herkunft wird permanent dekonstruiert; kulturell ist man ohnehin Synkretist. Jede Lebensregung, jeder Atemzug ist erklärungsbedürftig und kann im Gespräch wortreich problematisiert werden. Europa im Trauma des Übergriffigen ist neurasthenisch geworden.

Das Dasein in einem zunehmend rissigen Gesamtgefüge führt zwar nicht zu harten politischen, wohl aber zu psychischen Restriktionen. Die Angst vor der Zukunft (mit anderen Worten, vor dem Leben) hat neuerdings viele Namen: Klimawandel, Pandemien, Unverträglichkeiten aller Art. Selbstauferlegte oder sozial eingeforderte Verbote – vom Autofahren und Flugverkehr bis hin zu Fleischverzehr und Verpackungsmüll – nehmen überhand.

Akkulturierte Phobien, moralische Dünkelhaftigkeit und medial bis zur Unerträglichkeit verstärkte Millenniums-Hysterien gelten als hinreichende Motivationslagen für die gesellschaftliche Umkehr. Es gibt sie bereits, die letzte Generation, eine schwächliche Erinnerung an die christliche Eschatologie. Der Weltuntergang erfolgt mit Ankündigung durch bunte Papageien in Käfigen, die das Fliegen verlernt haben. Ist das Spektakel noch ernst zu nehmen? Vermutlich eine Frage der Perspektive.

Phlegma als Wohlstandsprivileg

Die permanente Krise Europas ist nicht das Versäumnis einzelner Politiker oder Parteien. Sie kennt keinen Schuldigen, doch wenn man die Krise als ein Versagen begreift, so ist sie das jahrzehntelange Versagen – die Feigheit, Bequemlichkeit, Saturiertheit und Indifferenz – von uns allen. Europa lebt in einem quälenden Selbstwiderspruch zwischen dem, was es zivilisatorisch und moralisch repräsentieren möchte, und dem, was es realistisch noch zu leisten imstande ist. Das idealistische Erbe ist einem Hypermaterialismus mit schlechtem Gewissen gewichen. Verzicht ohne Einschränkung, Interessendurchsetzung ohne Konflikt, Sicherheit ohne Risiko: bitte weiterträumen.

Durch den ökonomischen Aufstieg der restlichen Welt, euphemistisch Globalisierung genannt, tritt Europa in direkte Konkurrenz zu den Märkten Asiens. Es stellt sich heraus, dass die bevölkerungsreichsten Länder der Welt nicht nur tonnenweise Hosen und T-Shirts für verwöhnte und gelangweilte Konsumenten im Westen produzieren, sondern Myriaden von qualifizierten und ideenreichen Menschen hervorbringen, die noch etwas in ihrem Leben erreichen wollen. Ambition und Aggressivität treffen auf die defensiv eingestellte Mentalität einer abgedankten Führungsmacht, die ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird.

Reaktives Phlegma als historisches Privileg: Europa hat längst umgeschaltet, in einen Modus der Selbsterhaltung auf materiell auskömmlichem Niveau. Dafür gibt es in der Geschichtsschreibung nur ein einziges Wort. Richtig: Dekadenz.

Der lange Schatten der Geschichte

Dabei sind die zwei prägenden Krisenzüge der Gegenwart, Umweltzerstörung und Massenmigration, die direkten Folgen des europäischen Verständnisses von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Merkantilismus und Industrialisierung schufen erst die internationalen Märkte, deren neues Gleichgewicht nun zu Ungunsten Europas ausschlägt. Der westliche Konsumismus führte zu jenen exzessiven Einöden aus Plastik und Verseuchung, die heute den Planeten zeichnen wie die Pestbeulen einen Moribunden. Zwischen Shopping Mall und Müllhalde ist es immer nur ein kurzer Weg.

Die Kausalität zwischen Kolonialisierung, Intervention und Massenflucht wirkt hingegen zeitversetzt. Je mehr man über den europäischen Kolonialismus erfährt, desto gruseliger wird es einem. Diese beispiellose und stets beschönigte Geschichte der radikalen Ausbeutung und rassistischen Arroganz, der Rücksichtslosigkeit und des religiös verbrämten, in Wahrheit bloß angemaßten Herrenmenschentums wurde buchstäblich mit dem Blut und dem Leben von Millionen Afrikanern und Asiaten geschrieben.

Die Kolonialmächte Europas hinterließen nicht nur ein humanitäres Schlachtfeld sondergleichen, sie legten durch willkürliche Grenzziehungen und dysfunktionale politische Strukturen auch gleich die Ursachen für nicht enden wollende territoriale Konflikte und Bürgerkriege, die wiederum durch halbherzige europäische Interventionen bloß weiter eskalieren.

Die Menschheitsverbrechen von Sklaverei und Kolonialismus halten auch viele Jahrzehnte später die südliche Welt in einem Zustand der gewaltsamen Disbalance. Europa kann nicht reparieren, was es selbst einmal schief und eigennützig zusammengezimmert hat. Es ist, als ob ein böser Engel der Geschichte mit seinen dunklen Flügeln das Feuer der Vernichtung immer weiter entfachen würde. Historische Lügen, niemals verfolgte Verbrechen und die Hohlheit symbolischer Wiedergutmachungsgesten fallen nun brutal auf Europa selbst zurück.

Die Flüchtlingsströme aus dem globalen Süden haben sich in Richtung Europa in Bewegung gesetzt – in der ebenso tragischen wie irrwitzigen Annahme, dass sie hier etwas anderes erwarten würde als Vorurteile, Ausgrenzung und Diskriminierung.

Zwischen humanitärem Anspruch und zynischer Realpolitik zerreiben sich die europäischen Regierungen aller politischen Couleurs. Eine sowohl humanitäre als auch maßvolle Flüchtlingspolitik ist nicht in Sicht, vielleicht ist sie auch unmöglich. Im Ergebnis führt dies zu einer gesellschaftlichen Paralyse im Zustand grassierender Unzufriedenheit. „Politikverdrossenheit“, wie es so schön heißt, als handelte es sich um Plattfüße oder eine Hautflechte. Lästig, aber nicht lebensbedrohlich. Eine Verharmlosung?

Spiegelblicke

Die Unfähigkeit, den massiven Krisen der Gegenwart entschlossen entgegenzutreten, zeigt Europa in einem wenig schmeichelhaften Licht. Ohne den großen amerikanischen Bruder, der immer aushilft, wenn es robuster zur Sache geht, ist Europa schlicht handlungsunfähig. Während Amerikas Einfluss wieder unerwartet wächst, hat die Verzwergung Europas trotz EU-Erweiterung schon lange begonnen.

Rückblickend lässt sich sagen, die Selbstzerfleischung in zwei Weltkriegen war ausreichend, um Europa als Global Player dauerhaft auszuschalten. Im globalen Maßstab sind wir lediglich Mitläufer, nicht Frontrunner. Siege und Niederlagen machen andere Mächte exklusiv unter sich aus.

Im Mythos war Europa einst eine phönizische Prinzessin, die von einem Stier entführt wurde. Der Stier offenbarte sich als Gott, dem Europa sich hingab. Sie gebar den kretischen Inselherrscher Minos und seinen Bruder Rhadamanthys, den Richter der Unterwelt. Von Anfang an ist Europa ambivalent angelegt zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten.

Heute jedoch liegt ein anderes Bild näher. Europa, ein gealterter Lebemann, Typ Dorian Gray, mit Schmerbauch, Rückenschmerzen und Couperose. Während er sich die Fußnägel lackieren lässt, denkt er über eine mögliche Geschlechtsumwandlung nach, zumindest über eine Verjüngungskur. Es ist schon spät, Dorian Gray ist müde geworden. Auch narzisstische Selbstverzückung wird dauerhaft anstrengend.

Rom degenerierte vierhundert Jahre lang, ehe es von irgendwelchen Barbaren ultimativ in die Knie gezwungen wurde. Niedergang ist ein Zustand, der sich bisweilen sogar stabil anfühlt. Doch Geschichte wiederholt sich nicht, sie geht einfach weiter, blind und erbarmungslos, die wechselnden Mächte und Akteure sind ihr ohnehin vollkommen gleichgültig.

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