Erst Corona, dann Inflation und Krieg - Genusskultur im Krisenmodus

Auch unser Genusskolumnist guckt jetzt öfter mal nach Sonderangeboten und verkneift sich so manch kleines „Extra“ unterwegs. Seine Freude auf einen genussvollen Herbst bleibt davon aber weitgehend unberührt.

Steigende Kosten, Lieferengpässe, Personalmangel: Auch bei unseren holländischen Nachbarn ist die Gastronomie in der Krise / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Als diese Kolumne Ende März 2020 das Licht der Medienwelt erblickte, firmierte sie unter dem Titel „Coronakrisenküche“. Aufhänger waren unter anderem zeitweise leere Regale in Supermärkten, besonders einige Grundnahrungsmittel wie Mehl, Spaghetti und Konserven aller Art betreffend. Wirkliche Versorgungsengpässe gab es seinerzeit nicht, vielmehr führte das reflexhafte „Hamstern“ von Vorräten zu in der Regel nur kurzfristigen logistischen Problemen, gepaart mit düsteren Prophezeiungen über eventuell bevorstehende Schließungen von Geschäften. Auch die Preisentwicklung bot seinerzeit nicht wirklich Grund zur Sorge,  die Inflationsrate betrug für das gesamte Jahr rund 0,5 Prozent.

Ein weiterer Aufhänger waren die Einschnitte in der Gastronomie, also die zeitweilige Schließung von Kantinen, Imbissen und Gaststätten, die Absage von Märkten, Messen und Festen, die Restriktionen bei Reisen. Was nahezu zwingend die verstärkte Beschäftigung mit häuslicher Verköstigung erforderte.

Dieser Spuk scheint nunmehr der Vergangenheit anzugehören, und wenig spricht derzeit dafür, dass er bald wiederkehren könnte. Bald firmierte die Kolumne dann unter einem neuen Motto: „Genuss ist Notwehr“. Und daran hat sich bis heute nichts geändert, und das soll auch so bleiben.

Fast alles da – aber fast alles teuer

Allerdings schlidderte (nicht nur) Deutschland schnurstracks in die nächste Krise, die zwar auf andere Weise, aber vergleichbar stark oder gar noch wesentlich stärker in das Leben der Menschen eingreift. Denn in Europa gibt es einen Krieg mit vielen Facetten. Auf dem Schlachtfeld „nur“ in der Ukraine, doch bei den Handelsbeziehungen auf globaler Ebene. Deutschland ist dabei einer der Vorreiter bei der Sanktions- und Embargopolitik gegen Russland, dessen Wirtschaft man „ruinieren“ wolle, wie Außenministerin Annalena Baerbock im Februar vollmundig ankündigte. Dass man mit den „Sanktionspaketen“ aber vor allem die eigene Wirtschaft ruinieren werde, sagte sie seinerzeit nicht.

Zwar drohen – abgesehen von der Energieversorgung im Winter – zumindest kurzfristig keine wirklichen Versorgungsengpässe, denn die Geschichte mit dem Sonnenblumenöl war eine ähnlich surreale Geisterfahrt wie damals die Geschichte mit dem Klopapier. Und eigentlich hätten Gastronomie und Großveranstalter seit dem Frühsommer wieder voll durchstarten können, und üppigen Gelagen im Kreis von Freunden stehen keine Kontaktbeschränkungen mehr im Wege. Aber man muss sich das alles auch leisten können, und da sieht es angesichts der galoppierenden Inflation, besonders im Energie-, aber auch im Lebensmittelsektor, für immer mehr Menschen ziemlich mau aus.

Ernährungssoziologe wettert gegen Koalition

Für den Ernährungssoziologen Daniel Kofahl war die hinter uns liegende Coronakrise „gleichermaßen Fluch und Segen für die Ernährungskultur“. Natürlich sei es einschneidend  gewesen, „dass man von Freunden und erweiterter Familie in Zeiten der Isolation und der geschlossenen Gastronomie getrennt wurde und alleine essen musste“. Schließlich seien „erweiterte Tischgemeinschaften auch etwas Genussstiftendes“. Auf der anderen Seite habe die Entschleunigung des Alltags „durchaus auch zu einer allgemeinen Rekulinarisierung geführt, und im kleinen Kreis wurde auch mal wieder Mittags entspannt gegessen und nicht nur in der Kantine etwas schnell heruntergeschlungen“.

 

Zuletzt in „Genuss ist Notwehr“ erschienen:

 

In der Kriegs- und Wirtschaftskrise dagegen verschärfe sich die Lage in kaum erahnten Ausmaßen, „aber es trifft nicht wie bei der Corona-Krise alle Milieus gleichermaßen, sondern die sozioökonomisch starken Milieus specken bloß ein bisschen ab“. Die kauften „halt nur noch Standard-Bio statt hochpreisigen Demeterprodukten“ und speisten „weiterhin beim Nobelitaliener“, wo höchstens „beim Trinkgeld für den Service gespart wird“. Alle anderen „werden wohl bald Hungerbrot backen“. Kofahls Fazit: „Die Kriegsbeteiligung in Osteuropa wird vom normalen Mann und seiner Frau bezahlt und zwar auch am Esstisch.“ Und dafür trage die „Worst-Case-Koalition von Scholz, Habeck und Lindner“ die Verantwortung

Besondere Genussmomente im Herbst

Lebensmittelproduzenten und Gastronomen stecken in einem Teufelskreis. Die Kosten steigen teilweise exorbitant, dazu kommen gestörte Lieferketten und ein dramatischer Personalmangel. Natürlich müssen diese Kosten an die Endkunden durchgereicht werden. Das können sich viele Menschen schlicht nicht leisten. Sie gehen seltener oder gar nicht mehr auswärts essen, sie achten beim Einkauf noch stärker auf Sonderangebote und billige Lebensmittel – vor allem getrieben von der Angst vor dem ganz großen Energiepreisschock, der den meisten ja noch bevorsteht.

Auch mir persönlich vergeht schlicht der Appetit, wenn der „Flat white“ am Kaffeestand auf dem Markt jetzt 3,80 statt früher 2,60 kostet und das kleine Schawarma am Imbiss um die Ecke 4,50 statt 3,20. Und da ich nicht der Einzige bin, dem es so geht, haben die Anbieter ein Problem, das so gut wie unlösbar erscheint.

Das heißt eben nicht, dass man gerade jetzt auf Genuss verzichten sollte. Zwar gibt es in Ländern wie Deutschland dank globalisierter Warenströme und hochtechnisierter Landwirtschaft inzwischen so ziemlich alles zu jeder Jahreszeit, aber bestimmte saisonale Gewohnheiten sollte man ruhig pflegen. Der bevorstehende Herbst steht u.a. für Pilze, Muscheln, Wildgerichte, Kürbisse aller Art, Nüsse, frische Kartoffeln, Schmorgurken, heimische Birnen und Äpfel  u.v.a.m. Und mit all diesen Schätzen kann man ganz tolle Sachen machen. Denn es bleibt dabei: Genuss ist Notwehr, gerade jetzt.

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