Bücher des Monats - Die Passion der unheiligen Hannah

Wie die Schottin A. L. Kennedy hinter dem brutalen Romanprotokoll einer Suchtkarriere die Leidensstationen Christi aufscheinen lässt

Die schottische Schriftstellerin Alison Louise Kennedy kennt keine falsche Emp­find­samkeit, wenn sie ihre Geschöpfe über einen mit jedem Buch neu eingerichteten Extrem-Parcours hetzt –  sie behandelt ihre Figuren als Crash Test Dummies zur Materialprüfung und Grenzbewertung des Humanen. Sublimstes und Schmutzigstes, das Heilige und der Dreck sind die Ele­mente, aus denen die schottische Prosa­istin ihre Partituren komponiert. Dabei gilt: je freundlicher deren Titel anmutet, desto heftiger jagt die Hoffnung auf Erlösung Kenne­dys Figuren durch alle Phasen von Schmerz und Demütigung.

Einen Höhepunkt der Strategie, die Höllenkreise menschlicher Leidensfähigkeit unter Titeln wie «Gleissendes Glück» oder «Also bin ich froh» zu kartieren, markiert der jüngste Roman «Paradies». Es ist Kenne­dys unerbittlichstes, intensivstes, reifstes Werk, und selbstredend erzählt es von der Hölle. Konkret besteht diese in den irdischen Infernalien im Leben der Hannah Luckraft. Der Umstand, dass bereits der Name der Ich-Erzählerin das Wörtchen «Luck» enthält, verhöhnt von vornherein jegliche Glücks-Idee, andererseits gibt er dem Leser zu verstehen, dass in die bodenlose «Fall»-Geschichte dieser Trinkerin vielfältige Anspielungen eingewirkt sind. Thematisch also: ein Sucht-Fegefeuer im Alkoholrausch. Poe­tisch indes: ein Paradies an Sprachkraft, Wortwitz und motivischer Aufladung.

Doch wovon geht Hannahs Rede?  Unumwunden, allenfalls durchzuckt von greller Selbstironie, erzählt ein weibliches Ich knapp 350 Seiten lang vom Passionsweg der Sucht. Da der Sturz nur dort als solcher empfunden werden kann, wo noch so etwas wie Hoffnung auf Genesung besteht, jagt dieses Ich wie ein Yo-Yo zwischen den Tiefpunkten von Delirium, Demütigung oder Entzug und den Höhepunkten halluzina­torischer Beseeltheit, sexueller Lust und visionärer Klarsicht auf und ab. Der Alkohol bahnt zugleich den Königsweg zu rauschhafter Transzendenz wie eine Via Dolorosa ständiger Beschämung, zum Zeitpunkt des Erzählens hält die Droge das knapp vierzig­jährige Ich schon ein halbes Leben lang in Schach.


Zweierlei Liebe: Sex und Droge

Wie alle Süchtigen ist Hannah auf der Suche, immerdar on the move. Der Leser lernt sie am Beginn des Romans in einer herzzerreißend schäbigen Absteige kennen und verabschiedet sie nach vierzehn Stationen der Hingaben und Revolten in einem mys­tischen Zug – «Heartbreak Hotel» und «Mys­tery Train» sind die Transiträume zwischen leibhaftem Vegetieren und spiritueller Existenz. Hannah bleibt darin stets Objekt. Grammatisch konsequent tritt der Alkohol als gebieterisches und verführerisches, als begehrtes und begiertes, kurzum: als aktives Subjekt auf; die Droge erfährt wortwörtliche Liebkosungen, welche ihresgleichen suchen.

Derart dichte Beschreibungen der Begierde kennt man bei dieser Autorin eher aus dem schmerzlüsternen Gebiet der Sexualität. Kennedys Prosa hat die Wertigkeiten des aktiven, passiven und imaginären Geschlechts erkundet; sie hat sadistische, masochistische und pädophile Aufreizungen in drastische Worte gesetzt, dabei jedoch stets den inbrünstigen Erlösungswunsch ihrer Protagonisten respektierend. Auch in «Paradies» gelingt es, den Leib ganz ohne sentimentales oder voyeuristisches Kalkül zur Sprache zu bringen. Der Durst nach alkoholischer Illumination und die Gier nach geschlechtlicher Begeisterung potenzieren sich im gestundeten «Paradies» der Begegnungen mit Robert.

Robert Gardener, Dentist mit Praxis, Frau und Tochter, ist – wie Hannah – Untertan der Droge. Im Guten wie im Bösen personifiziert und steigert Robert den Spirit der Sucht. Sein begehrter Körper gewährt Hannah phantastische, dem Alkoholrausch analoge Momente von Aufhebung und Zu­hause. Im Rollenfach des Trinkers indes ist Robert launisch, notorisch unzuverlässig und lässt die Geliebte dort im Stich, wo sie  strauchelt. Im Spiegelbild der Beziehung dup­lizieren sich Innen- und Außenansichten der Sucht und des von ihr ausgehenden Doppellebens: Masken der Normalität, versteckte Alkoholvorräte, chronische Un- und Umfälle. Was Hannah bislang aus der Innensicht kannte – die intimen Einverleibungen des «Allerheiligsten», den «Filmriss», die Dissoziation der linearen Zeit –, das erlebt sie nun zusätzlich in den Liebesversuchen mit einem Alkoholbesessenen.


Der Split Screen einer Säuferin

Das Prinzip des Spiegels – der Spiegelung von mentalen in gegenständliche und von realweltlichen in imaginäre Bilder – beansprucht somit eine vitale Funktion in der Konstruktion des Romans. Zum anderen explodieren in seiner Bildlichkeit eine ganze Reihe von Symbolbomben, welche die Auto­rin in die Erzählung eingesenkt hat. Wenn man sich – wie Hannah in ihren Highs – auf die Sensationen der Symbole einlässt und den Gedanken an eine lineare Zeit, eine lineare Handlungs- und Bedeutungsbahn aufgibt, stößt die Lektüre auf eine überraschende Vielschichtigkeit der Motive.

Mit der Säuferin Hannah Luckraft führt Kennedy die Split-Screen-Realität des Bewusstseins zu neuer Intensität. Als Süchtige und «Kranke» rückt ihr Devianz-Verhalten besonders in den Blick derjenigen, die das Normale und Gesunde repräsentieren: Da ist der scheele Blick der Frauen; da ist das peinliche Selbstmitleid der Eltern; da sind die moralischen Abstrafungen seitens des properen Bruders Simon; da ist der klinische Blick des Pflegepersonals in der Entwöhnungsanstalt. Wer den Schaden einer Krankheit hat, braucht für den Spott wohlfeiler Diagnosen nicht zu sorgen, und so stolpert Hannah unter dem Etikett der «Alkoholikerin» herum, ganz gleich, ob sie eben clean ist oder wieder einmal mittendrin.

Entsinnt man sich des für solche Vorverurteilung gebräuchlichen Wortes «Stigmatisierung» – «Stigmata» heißen die Wund­male Christi –, dann ist das Maß der Indizien voll, um die Annahme zu begründen, dass dieses brutale und genaue Romanprotokoll einer Suchtkarriere Kapitel für Kapi­tel der Leidensgeschichte Jesu nachgeformt ist. Nicht zufällig geraten zwei Barflys da­rüber in Streit, ob der Passionsweg aus zwölf oder vierzehn Stationen bestehe. Die Auto­rin gibt mit ihren vierzehn Romankapiteln die Antwort, dass die Passion nicht mit der zwölften Station – dem physischen Kreu­zestod –  endet; vielmehr reklamiert sie für ihre Anti-Heldin Hannah die metaphysischen Versprechen von Kreuzabnahme, Grablegung und Auferstehung.

Das hebräische «chana» steht für «Erlösung»; in Hannah finden wir den Namen einer greisen Prophetin, die im Kind Jesus den Erlöser erkennt. Für den selbstgerechten Bruder Simon, der seine Verantwortung an eine Klinik delegiert und die Schwester wie ein Stück Unrat aus seinem blitzblanken Leben entfernt, bietet sich das Vorbild des Simon Petrus an, der den Messias dreimal verleugnet. Indem er Hannah der «Abwicklung» in der Apparatur einer Anstalt ausliefert, gibt er zugleich aber auch den Part des Judas.

Janis Joplin und Bobby McGee

Mit solchen Wendungen versieht A. L. Kennedy ihre unheilige Anverwandlung der «Frohen Botschaft» – am ehesten kommt dabei wohl die Überlieferung nach Lukas infrage, die wie keine andere den Menschensohn als Heiland der Verlorenen und Entrechteten, der Sünder und der Frauen darstellt. Anhand der Leidensgeschichte Christi zitiert die Autorin die mächtigste Mythologie unserer Kultur, die – bildbesoffen und drastisch – Szenen ultimativer Demütigung mit einem fragwürdigen Heilsversprechen zupflastert. Die zwischen Dreck und Seligkeit, Überlieferung und Freigeist, Mitleid und schwarzem Humor wütende Passion à la Kennedy setzt darüber hinaus dem Gewalt-Voyeurismus von Mel Gibsons Hollywood-Grusical «The Passion of the Christ» (2004) ein entschiedenes Kontra entgegen.

Die Inspiration durch Dantes Höllenszenen und das Bildwerk des Hieronymus Bosch ist ebenso mit bloßem Auge erkennbar wie der Bezug auf den literarischen Inbegriff aller Ich-Spaltungs- und Suchtgeschichten: den 1886 erschienenen Kurzroman «The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde» des schottischen Schriftstellerkollegen Robert Louis Stevenson. Im Anagramm geistert Dr. Jekylls sinistres Alter Ego Mr. Hyde in dem von Kennedys Trinkern als mythische Figur gehandelten DOHENY durch den Roman –  in der Depressions­spirale der Sucht, im körperlichen Verfall und im Verschwinden Roberts zerbröseln Hannahs Optionen auf irdischen Unterschlupf: NO HYDE.

Wer aber ist dieser Robert, wird man – noch einmal mit Blick auf die Bibel – fragen: der teuflische Verführer? Der Verräter im Garten Gethsemane? Oder gibt seine Umarmung einen Vorgeschmack auf Gott? Nein: der Schotte Robert Gardener ist niemand anders als jener «Bobby McGee», von dessen Verschwinden Janis Joplins berühm­ter Song berichtet. In der Tat ist mit der weißen Blues-Sängerin und ihrem durch Alko­hol-, Drogen- und Sex-Exzesse zerrütteten Leben ein Vorbild für Kennedys Anti-Heldin gefunden: In der bis in die Lebens­daten hinein an der Gospel-Priesterin entlang modellierten Hannah setzt Kennedy dem männlichen Säufer-Kitsch (von Joseph Roths «Heiligem Trinker» bis hin zu Bukowskis testosteronsteilem Leerlauf) ein dezidiert weibliches Aufbegehren entgegen. «Freedom is just another word for nothing left to lose», lautet die Devise.

 

Christiane Zintzen, Literaturkritikerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Wien.

 

A. L. Kennedy
Paradies. Roman
Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Wagenbach, Berlin 2005. 368 S., 22,50 €

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