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() Regisseur Samuel Moaz mit dem Goldenen Löwen in Venedig 2009
"Der Mensch ist aus Stahl, der Panzer nur aus Eisen"

Am Donnerstag startet „LEBANON“ in den deutschen Kinos. Der 2009 mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnete Film handelt von einer Panzereinheit der israelischen Armee im ersten Libanonkrieg 1982. Der israelische Regisseur Samuel Maoz hat ein beeindruckendes autobiographisches Werk über die Realität des Krieges und seine Verursachung von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) geschaffen. Es bringt westlichen Zivilisten die grausame Wirklichkeit des Krieges nahe.

Sonnenblumen so weit das Auge reicht. Strahlend blauer Himmel. Mittendrin ein Panzer der israelischen Armee. Stille. Es ist Juni 1982, es herrscht der erste Libanonkrieg. Vier junge Männer, Shmulik der Richtschütze (Yoav Donat), Assi der Kommandant (Itay Tiran), Herzel der Ladeschütze (Oshri Cohen) und Yigal der Fahrer (Michael Moshonov) bilden die Besatzung des Panzers „Nashorn“. Sie sind Anfang 20, feingliedrige Jungs, keiner mit Kriegserfahrung und Teil einer Infanterieeinheit, die Jamil (Zohar Strauss) untersteht. Ihr Auftrag lautet, eine libanesische Stadt nach feindlichen Kämpfern zu durchsuchen, die bereits zuvor von der israelischen Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt worden ist. An der Wand im Inneren des Nashorns steht in hebräischen Buchstaben geschrieben: „Der Mensch ist aus Stahl, der Panzer nur aus Eisen.“ Noch ist den Jungs nicht bewusst, dass sie von nun an fortwährend, binnen Bruchteilen einer Sekunde, die dichotome Entscheidung „töten“ oder „nicht töten“ treffen müssen und dabei die bittere Erfahrung machen werden, keineswegs aus Stahl zu sein. Ein BMW biegt in den Feldweg ein und fährt auf das Nashorn zu. Die Insassen sind Palästinenser, bewaffnet. Der ruhige Befehl von Jimal an den Schützen Shmulik im Panzer „Nashorn“ lautet: zwei Warnschüsse, wenn der Wagen dann nicht anhält, auf den Motor zielen. Shmulik gibt den ersten Warnschuss ab. Der BMW fährt weiter. Shmulik gibt den zweiten Warnschuss ab. Der BMW fährt weiter. Der Befehl: „Auf das Fahrzeug schießen!“ Shmulik zögert. Er sieht den Palästinensern durch sein Fadenkreuz ins Gesicht. Er kann nicht schießen. Er kann nicht töten. Wieder der Befehl: „Schießen!“, diesmal sehr viel deutlicher. Ein Schuss aus dem BMW trifft einen israelischen Kameraden. „Schieß endlich!“, der energische Befehl. Der BMW explodiert. Die Angreifer sind tot. Und der Kamerad? Sekunden später kommt ein kleines, mit gackernden Hühnern beladenes Nutzfahrzeug um die Ecke, der Fahrer offensichtlich ein libanesischer Bauer. Er winkt, fast freundlich. Wieder Jamils Befehl: „Schießen!“ Was Shmulik, noch unter Schock, wohl durch den Kopf geht? „Aber es ist doch bloß ein Bauer! Oder eine Falle? Egal – nicht wieder unsere Sicherheit riskieren! Nicht wieder kneifen!“ Er schießt. Ein Knall. Durch das Fadenkreuz sucht er die Umgebung ab: gackernde Hühner, brennende Autos. Dann Jimal, neben dem vor Schmerzen „Allah“-flehenden Bauern, dem alle vier Gliedmaßen fehlen. Jimal versetzt ihm den Gnadenschuss. Vorwurfsvoll blickt er durch das Fadenkreuz Shmulik an. Warum zum Teufel, so steht es in seinem Blick, hast Du nicht gleich geschossen? Dein Kamerad wäre noch am Leben, und der Bauer hätte verschont bleiben können. Die Leiche des gefallenen Kameraden wird zu den Jungs ins Nashorn geladen. Sie liegt jetzt zwischen ihnen: ein Zeugnis der Schwäche, des Versagens und der Schuld, eine Mahnung zur Entschlossenheit. Es sind Erlebnisse wie diese Eröffnungsszene des Films „LEBANON“, die bei den jungen Soldaten auf ewig ins Gedächtnis und in die Seele gebrannt sein werden. Die sie tagsüber nicht los und nachts nicht schlafen lassen. Samuel Maoz, der Regisseur, war selbst als Zwanzigjähriger im Krieg von 1982 in einem Panzer im Einsatz. Er war der Richtschütze, für den er im Film den Charakter Shmulik geschaffen hat. „Am 6. Juni 1982, 6:15 Uhr, habe ich zum ersten Mal im Leben einen Mann getötet“, erinnert er sich noch genau. Es sei keine bewusste Entscheidung und kein Befehl gewesen. Er nennt es „einen Akt instinktiver Notwehr“ in „unausweichlicher Todesangst“. In Todesangst geht es auch für die Einheit des Nashorns weiter, in Richtung der Stadt, die es zu sichern gilt. „Bis 'St. Tropez'“, kündigt Jimal an, „ist es ein Kinderspiel“. Doch dieses „Kinderspiel“ wird heißer als erwartet. Sie werden verwickelt in Gefechte. Sie machen einen syrischen Gefangenen. Einen Syrer? Wie konnte das passieren? Sie sind von der Route abgekommen und auf syrisch kontrolliertem Gebiet. Allein. Der Panzer, geschädigt von den Kämpfen, springt nur noch mit Mühe an. Sie sitzen in der Falle. Jimal fordert Unterstützung an. Die Armee schickt Falangisten, christliche Libanesen, Verbündete der Israelis. Sie kommen in einem Mercedes, untauglich, um die Besatzung zu evakuieren. Schließlich bleibt nur eins: Augen zu und durch. Sie fahren los, machen sich, wenn nötig, den Weg frei und finden sich schließlich in einem Sonnenblumenfeld unter strahlend blauem Himmel wieder. Stille. Der Film endet, wie er angefangen hat. Doch für die Kriegsheimkehrer ist nichts mehr wie zuvor. Moaz erzählt, wie glücklich seine Mutter gewesen war, dass er gesund und wohlbehalten aus dem Krieg zu Hause eintraf: „Damals konnte ich noch nicht erkennen, dass ich keineswegs gesund und wohlbehalten war. Meine Mutter ahnte nicht, dass ihr Sohn im Libanon gestorben war und sie gerade eine leere Hülle umarmte.“ Er berichtet von heftigen Wutattacken, Alpträumen, Antriebsschwäche und einem Mangel an Verantwortungsgefühl: Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Seit die USA und ihre Verbündeten Kriege in Afghanistan und im Irak führen, häufen sich die Fälle von PTBS von Veteranen im Westen, auch in Deutschland. Wie Dr. Peter Zimmermann, Oberstarzt und Leitender Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Bundeswehrkrankenhaus in Berlin, mitteilte, ist die Zahl von in Behandlung der Bundeswehrkrankenhäuser befindlichen Fällen von 145 im Jahr 2007 über 245 im Jahr 2008 auf 466 im Jahr 2009 angestiegen – sie hat sich also in nur zwei Jahren mehr als verdreifacht. Für 2010 erwartet er mehr als 600 Fälle. „Damit werden nur die in Behandlung befindlichen Fälle erfasst“, sagte Dr. Zimmermann. Wie hoch die Dunkelziffer liegt, darüber kann bislang nur spekuliert werden. Ein Vierteljahrhundert Abstand hat Samuel Moaz gebraucht, um diesen autobiographischen Film drehen zu können. Davon abgehalten hatte ihn lange „der Geruch verkohlten menschlichen Fleisches“, der aus seinem Unterbewusstsein zurückkehrte, sobald er anfing, über seine Kriegserlebnisse zu schreiben. 2006, in finanziellen Schwierigkeiten, beschloss er, sich seiner Erinnerung zu stellen: „Ich war vorsichtig. Ich wartete auf den Geruch, doch er kam nicht. Nach ungefähr einer Woche stellte ich fest, dass ich mich emotional gelöst hatte. Der Junge in meiner Erinnerung war nicht länger ich.“ Der Film hat ihm geholfen, mit sich selbst ins Reine zu kommen: „Er konnte sich selbst vergeben“, meint Yoav Donat, Darsteller des Shmulik. Samuel Moaz schuf einen Film, der nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch mit den Konventionen bricht: „Ich wollte über emotionale Verwundungen sprechen. Mir war klar, dass ich einige starre filmische Regeln aushebeln und ein totales Experiment eingehen musste.“ Dieses Experiment ist fulminant geglückt. Mit geringem Budget und ohne neuesten Schnickschnack wie hochauflösende HD-Technik oder gar 3D-Technik gelingt ihm das, wovon jeder Regisseur träumt: Er macht den Zuschauer zum Teilnehmer. Die klaustrophobische Erfahrung der vier Jungs in dem engen Panzer, in ihrer Todesangst, überträgt sich auf den Zuschauer. Alles, was von der Umgebung des Panzers gezeigt wird, zeigt Moaz durch das Visier des Schützen Shmulik. Oft wechselt er dann die Perspektive und zeigt das zweite, das weit aufgerissene freie Auge von Shmulik: die Pupillen geweitet, die Bewegungen hastig beim Anblick des Grauens um ihn herum. Diese schonungslose, ungefilterte Schilderung der Realität des Krieges in „LEBANON“ lässt den Zuschauer im Kinosessel erstarren. Es wird klar, wovon Altkanzler Helmut Schmidt spricht, wenn er seine Sorge darüber äußert, heutige Politiker könnten allzu leichtfertig Kriege initiieren, da sie selbst „die große Scheiße des Krieges“ nie erlebt hatten. Samuel Moaz zeigt den Preis, den diejenigen zu entrichten haben, die diese „große Scheiße“ auf sich nehmen. Ihnen widmete er auf der Preisverleihung zum Goldenen Löwen seinen Film: „Diese Menschen tragen die Erinnerung an den Krieg ein Leben lang mit sich. Sie arbeiten, sie heiraten, sie haben Kinder, aber die Kriegserlebnisse haben sich in ihre Seelen gebrannt.“

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