Der Flaneur - Vorsicht, Stufe!

Unser Kolumnist Stefan aus dem Siepen beobachtet, dass Treppen diskriminiert werden. Doch die millionenfachen Warnungen der Bahn sind nur allzu berechtigt: Für den Menschen der Moderne, des Treppensteigens entwöhnt, kann jede Stufe die letzte sein. 

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Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Treppen sind nicht beliebt, sie werden geradezu diskriminiert, müssen ein klägliches Randdasein führen. Zum Beispiel in Hotels oder Geschäftshäusern: Hier ist die Treppe fast immer unsichtbar, ihr Anblick soll niemandem zugemutet werden, der Aufzug hat sie, glücklicherweise, verdrängt. 

Das Treppenhaus ist der schmuddeligste Teil des Gebäudes; man betritt es nur, wenn man sich verlaufen hat. Allenfalls eignet es sich als Drehort für Krimis oder surrealistische Filme. In den Wolkenkratzern zeigt sich das Phänomen am drastischsten: Dort läuft nur noch die Treppe hinab, wer den Tod im Nacken hat, wie die Fliehenden in den Twin-Towers.

Eine Treppe aufs Rollfeld

Die Treppe am Flugzeug ist selten geworden. Der „Finger“ bringt die Passagiere auf geradem Weg, ohne sie mit einer einzigen Stufe zu belästigen, zum Flugzeug und zurück. Die waagerechte Bewegung als Inbegriff des Komforts. Wer nach der Landung feststellt, dass er eine Treppe aufs Rollfeld hinabsteigen und mit einem Bus fahren muss, ärgert sich und schaut auf die Uhr. Das Vorhandensein einer Treppe wird zur Störung: Wenn die Mobilität perfekt organisiert ist, darf es sie nicht geben.
 

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Bei der Deutschen Bahn gilt die Treppe vor allem als Gefahr. Die ein oder zwei Stufen, die vom Waggon zum Bahnsteig führen, sind zwar die kürzeste Treppe der Welt, doch zugleich stellen sie eine tückische Falle dar: An ihrem Ende gähnt eine Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante! Die millionenfachen Warnungen der Bahn sind nur allzu berechtigt: Für den Menschen der Moderne, des Treppensteigens entwöhnt, kann jede Stufe die letzte sein. 

Wer steht, stolpert nicht!

Neulich im Flugzeug gehört: „Halten Sie sich auf der Treppe zu Ihrer eigenen Sicherheit am Geländer fest, und achten Sie auf Ihre Kinder.“ Endlich wurde auch hier die Gefahr erkannt. Wenn der Schaffner vor der Treppe warnt, darf die Stewardess nicht zurückstehen. Immerhin: Es scheint zwischen Flugzeugtreppe und Rollfeld keine Lücke zu geben.

Glücklicherweise haben wir die Rolltreppe. Sie erfreut sich allgemeiner Beliebtheit, ist zur Treppe schlechthin geworden. Mit ihrer traditionellen, unbeweglichen Vorgängerin hat sie nur die äußere Form gemeinsam: In Wahrheit ist sie eine Art Aufzug oder Pater­noster, der sich den Anschein gibt, eine Treppe zu sein. Man geht nicht – man fährt. Auch hier spielt, wie könnte es anders sein, die Sicherheit eine große Rolle: Der Mensch soll keine riskanten Bewegungen machen. Wer steht, stolpert nicht!

„Ein schlechtes Omen!“

Kritisch wird es, wenn Ungeduldige auftauchen, denen die Rolltreppe zu langsam ist. Sie kennen keinen Herdentrieb: links gehen, rechts stehen! Die Geher bringen Unruhe in das sonst so friedliche, stillgelegte Treppenleben. Sie scheiden die Gesellschaft in zwei Gruppen: rechts die Gemütlichen, die Unterbeschäftigten, die Ehrgeizlosen, links die Zielstrebigen und Effizienten. Der Linksgeher ist der Nachfolger jenes Dynamikers von einst, der sich damit hervortat, dass er zwei Stufen auf einmal nahm. Die Technik hat ihn nicht ganz beseitigen können.

Eine Anekdote aus der Französischen Revolution. Malesherbes, der Innenminister Ludwigs XVI., wurde 1793 vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt. Als er die Stufen zum Schafott hinaufstieg, geriet er ins Stolpern; er wandte sich zum Scharfrichter und sagte: „Ein schlechtes Omen!“ – Dergleichen wäre heute kaum noch möglich. Wenn es das Schafott noch gäbe, wäre es aus Sicherheitsgründen ohne Stufen konstruiert, oder der Henker hätte die Pflicht, den Delinquenten vor der Gefahr des Stolperns zu warnen.

 

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