Der Flaneur - Leiden in der Ersten Klasse

Unser Kolumnist Stefan aus dem Siepen fährt in der Bahn Erste Klasse - aber mit schlechtem Gewissen. Denn der Gedanke an seinen ökologischen Fußabdruck macht ihn melancholisch.

Auch in der ersten Klasse sind alle vor dem Gesetz gleich
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Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Ja, ich gebe es zu: Auf meinen Fahrten mit der Bahn gönne ich mir gern die Erste Klasse, dies fast unglaubwürdige Relikt aus voregalitären Zeiten. Hier hat man mehr Aussicht auf friedliche Lektüre, und die Zahl der Behelligungen durch Mitreisende ist geringer. Natürlich, ganz ungeschoren kommt man trotzdem nicht davon. 

Immer mehr Passagiere gönnen sich das unschuldige Vergnügen, bald nach Fahrtbeginn ihre Schuhe auszuziehen und die Füße auf den Sitz zu legen. Handygespräche werden mit Vorliebe in der Ruhezone geführt, denn dort herrscht Ruhe. Mit naturgesetzhafter Unausweichlichkeit gibt es einen näheren oder ferneren Nachbarn, der über Stunden hin Filme mit Autoverfolgungsjagden sieht; er pflegt seinen Bildschirm so aufzustellen, dass man ohne Mühe mitschauen kann. Die Bild-Zeitung, der es gut zu gehen scheint, hat sich von der Zweiten Klasse in die Erste ausgebreitet; immerhin wird sie in Letzterer, wenn man Glück hat, nicht quadratmetergroß entfaltet, sondern diskret auf dem Tablet gelesen.

Masse statt Klasse

Ein Freund, dessen Urteil ich schätze, erklärte mir, die Fahrt in der Ersten Klasse bereite ihm moralisches Unbehagen. Die Sitzplätze seien breiter als in der Zweiten Klasse, folglich könnten weniger Passagiere in einem Waggon befördert werden, und der ökologische Fußabdruck falle größer aus. Ein typischer Fall von Prestigedenken: Je höher der soziale Status eines Individuums, desto mehr Territorium nehme es für sich in Anspruch. Ein größeres Auto, eine größere Wohnung, ein Einzelzimmer im Krankenhaus – und ein breiterer Sitz im Zug. Ich konnte diesem Gedankengang nichts entgegensetzen, und seither macht er mich so melancholisch wie die hochgelegten Füße.

 

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Dank dem „Neun-Euro-Ticket“ waren die Züge im vergangenen Jahr monatelang bis zum Bersten gefüllt. Die Zahl der stehenden Passagiere übertraf die der sitzenden bei Weitem, oft waren die Schaffner nicht in der Lage, sich auf den Gängen zu bewegen, und selbst bei ruckhaften Bremsmanövern konnte niemand mehr fallen. Das „Deutschland-Ticket“ soll diesen schönen Erfolg wiederholen, ja noch übertreffen. Alle sind sich einig, dass das Fahren mit der Bahn eine Massenveranstaltung werden soll, ähnlich der Beförderung von Postpaketen oder Rindern. Die Maximierung des Nutzens ist alles, jede Forderung nach Komfort wird zu einer Frivolität. Da kann man sich in der Ersten Klasse nur noch auf seinem Sitz zusammenkauern und hoffen, dass man nicht entdeckt wird.

Gelebter Egalitarismus

Einmal fuhr ich in einem Zug, der so maßlos überfüllt war, dass die Stimmung der Passagiere sich einem kritischen Punkt näherte. Um Abhilfe zu schaffen, entschied der Zugführer, „die Erste Klasse aufzuheben“. Ich sehe noch die Gesichter der Hereinströmenden vor mir: Sie wirkten erleichtert und zugleich aggressiv, manche schienen es für unerhört zu halten, dass so etwas Überflüssiges wie die Erste Klasse überhaupt noch existierte. Während ich mich zusammenkauerte, musste ich unwillkürlich an Schilderungen der russischen Oktoberrevolution denken: Das befreite Volk zieht in die Paläste des enteigneten Adels ein.

Eine Anekdote aus der Corona-­Zeit: Ich las auf meinem Platz Zeitung und hatte, in einer Anwandlung von Nachlässigkeit, wenn nicht gar von mutwilligem Aufbegehren, die Maske bis zum Kinn herabgeschoben. Eine Schaffnerin kam vorbei, und in obrigkeitlichem Ton, unter dem Mützenschirm einen strengen Blick auf mich abschießend, sagte sie: „Die Maske muss den Mund und die Nase bedecken. Das gilt auch in der Ersten Klasse!“ Ich zog die Schultern ein und brachte kein Wort hervor. Da war es wieder, das schlechte Gewissen.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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