Deniz Yücel und der PEN - Signale müder Geister

Der Streit um Deniz Yücel hat die Aufmerksamkeit noch einmal auf das PEN-Zentrum gelenkt. Doch inhaltlich ist von der Schriftstellervereinigung nichts mehr zu erwarten. Obwohl der PEN laut Statut für Meinungsfreiheit einsteht, war von ihm in den vergangenen Jahren nichts zu hören, wenn diese bedroht war - etwa durch Cancel Culture oder die Diffamierung Andersdenkender.

Ein Émile Zola ist er nicht: Ex-PEN-Präsident Deniz Yücel / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

So erreichen Sie Ralf Hanselle:

Anzeige

Marx hatte recht: Die Geschichte ereignet sich zweimal – einmal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Und als wäre das der ewigen Wiederkehr von Ödnis und Langenweile nicht genug, kommt sie neuerdings auch gerne ein drittes Mal vorbei. In dieser letzten Gestalt steht das billige, weil einzig noch um mediale Aufmerksamkeit buhlende Sample. Man nehme nur einmal die aktuelle „Debatte“ um Deniz Yücel und den deutschen PEN; dieses unerträgliche Gezeter um die angebliche Verantwortung des Intellektuellen in Zeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung. Was da in den zurückliegenden Tagen so scheinbar hochmodern und mit steil nach oben gerecktem Gouvernantenfinger in den deutschen Feuilletons diskutiert wurde, das ist bei Lichte betrachtet nur der wirklich allerletzte Aufguss einer längst ungenießbar gewordenen Kontroverse.

Begonnen hatte diese gegen Ende des 19. Jahrhunderts, an jenem Tag, an dem in der französischen Tageszeitung L’Aurore Emile Zolas berühmter Brief „J’Accuse!“ erschienen war. Es war die Geburtsstunde des politischen Intellektuellen. Seine schlaksige, stark kopfbetonte Erscheinung sollte nahezu das gesamte 20. Jahrhundert mitprägen.

Irgendwann aber, es muss gegen Ende der 60er-Jahre gewesen sein, hatte sie sich in der immer unübersichtlicher werdenden Weltgeschichte verlaufen. Und so war schon ihre letzte Wiederkehr im April 1971 für viele ein mehr als überraschendes Ereignis: Damals war die Zeitschrift Merkur, zu jener Zeit noch Hauspostille des Belesprit, mit einer für damalige Verhältnisse bereits unzeitgemäßen Headline erschienen: „Die Verantwortung des Intellektuellen“.

Tausende Untote schienen in dieser Merkur-Ausgabe noch einmal Auferstehung zu feiern: Émile Zola, Jean-Paul Sartre, Heinrich Böll, die gesamte deutsche Tendenzpoesie … Hatte man das nicht alles längst auf dem Trümmerhaufen der Literaturgeschichte entsorgt? Dank Merkur-Herausgeber Hans Paeschke aber stand diese zuweilen sehr deutsche Mischung aus Hybris und protestantischem Sündendruck plötzlich wieder vor der Tür, stickig und schwer wie undurchdringbare Zigarrenwolken.

Ein Verein, von dem man zuletzt in den 70er-Jahren gehört hat

Verstanden hat das damals niemand. Wofür sollte ein Schreiberling denn noch verantwortlich sein – zumal in einer Welt, die ihre krankhafte Neigung zur Tintensucht allmählich in den Griff zu bekommen schien? Wen bitteschön interessierten noch agitierende Dichter mit Gewissensbissen? Verantwortung des Intellektuellen? Lediglich ein paar Querköpfe – darunter Fritz J. Raddatz und Werner Ross – mochten  sich über derlei Usancen den Kopf zerbrechen. Am Rest der Welt ging Paeschkes Moralischer schon damals vorbei.

Und jetzt also, mehr als ein halbes Jahrhundert später, soll er wieder da sein: der Streit zwischen den zwei Herzen in der Brust von Dichtern und Denkern, zwischen Homme de lettres und Zoon politikon? Man will es kaum glauben. Stein des Anstoßes soll ausgerechnet eine Betriebsversammlung beim deutschen Ableger der internationalen Schriftstellerorganisation PEN in Gotha gewesen sein – eines Vereins, von dem man in der breiteren Öffentlichkeit das letzte Mal in den 1970er-Jahren gehört hatte; damals, als Heinrich Böll seinem russischen Kollegen Alexander Solschenizyn öffentlich Zuflucht in seinem Haus im kleinen Eifeldorf Langenbroich gewährte. „Wenn Alexander Solschenizyn kommt, dann erhält er bei uns Tee, Brot und Bett.“

Wie lang ist das her. Wer heute als Schriftsteller nach Gotha kommt, der erhält Spott, Hassreden und Hohngelächter. Und das, obwohl auch die diesjährige Jahrestagung des PEN-Zentrums erneut im Schatten der immer noch trendenden Markenbegriffe „Toleranz“ und „Meinungsfreiheit“ stand. So nämlich ist es in der Charta, den heiligen Grundsätzen dieser 1924 gegründeten und einst mit dem Prädikat „ehrwürdig“ versehenen deutschen PEN-Sektion niedergeschrieben, und das auf immer und ewig.

Bratwurst-Vergleich nachgewürzt

Doch schon im Vorfeld des diesjährigen Literatentreffens auf Schloss Friedenstein (sic!) hatte sich großes Unheil zusammengebraut. Deniz Yücel, bis zum letzten Freitag noch Präsident des Deutschen PEN, war in die Kritik geraten. Unverhohlen und in aller Öffentlichkeit hatte er, der sich noch nie für ein medienwirksames Scharmützel zu schade war, sich für eine Flugverbotszone über der Ukraine ausgesprochen. Ein Skandalon im ehrwürdigen Literatenclub. Namhafte PEN-Mitglieder, darunter ehemalige Vorsitzende, forderten öffentlich Yücels Abwahl.

Am Wochenende von Gotha sollte es soweit sein: Zwar hatte der prominente Welt-Journalist den eigentlichen Antrag zunächst noch gut überstanden, hernach aber hatte er freiwillig auf die Regentschaft über die Schar der literarischen „Gschaftelhuber“ (Josef Haslinger) verzichtet – mit Worten, wie sie nicht einmal Peter Handke in Princeton über die Lippen gekommen waren: „Ich will nicht Präsident dieser Bratwurstbude sein.“ Ein Satz, der Literaturgeschichte schreiben wird.

Und Yücel wäre nicht Yücel, hätte er nicht seinen Bratwurst-Vergleich am gleichen Tag noch einmal kräftig nachgewürzt: In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung wetterte der 48-Jährige gegen den PEN als einen „Haufen von Spießern“ und „Knallchargen“; eine Vereinigung, in der es eine riesige Diskrepanz zwischen der Ahnengalerie und der Realität gebe. Der PEN, in Yücels Worten „ein Haufen selbstgerechter, lächerlicher Möchtegernliteraten, die diesen Verein brauchen, um sich selbst als Teil der literarischen oder publizistischen Elite zu wähnen“.

Zum Thema Meinungsfreiheit war vom deutschen PEN zuletzt nicht viel zu hören

Der Saal frohlockte, das Feuilleton tobt. Aber kommen wir jetzt mal endlich wieder runter von der hohen Palme: Haben wir das nicht irgendwie alle längst gewusst? Wann immer es in den letzten Jahren in Sachen Meinungsfreiheit brenzlig wurde – und das kam auch in Deutschland leider immer häufig vor –, war vom PEN nichts zu hören oder zu sehen. Zwar kümmerte man sich dort bisweilen wirklich aufopferungsvoll um verfolgte Schriftsteller aus aller Herren Länder, wenn hierzulande aber Hochschullehrer um das Recht auf freie Debatte fürchten mussten oder mutige Intellektuelle dem Boulevard zum Fraß vorgeworfen wurden, war bei den Tugendschreibern aus Darmstadt Funkstille.

Wer schweigt, stimmt zu, möchte man da mit dem Titel eines dieser Tage heiß diskutierten Essays denken und sich zumindest darüber freuen, dass andere Organisationen, darunter etwa das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, mutig in die Lücke gesprungen sind, die die vor Jahren bereits stark transusig gewordenen Vereinsmeier beim PEN hinterlassen haben. Mit der Sorge um das eigene Ranking in der eng abgesteckten Aufmerksamkeitsökonomie, der Angst um die weniger werdenden Verlagsverträge und die immer kleiner ausfallenden Honorare haben sie längst unter Beweis gestellt, dass nicht jeder frei ist, der seiner Ketten spottet. Die Verantwortung des Intellektuellen? Weder in der Corona-Krise noch im drohenden Flächenbrand in Osteuropa ist davon viel zu bemerken gewesen. Auch nicht mit einem Deniz Yücel an der Spitze, der den PEN am Ende wohl immer häufiger genutzt hat, um seine private Meinung mit viel Rumms über die große Rampe zu bringen. Ganz egal, auf welcher Seite des Streites von Gotha man sich daher verortet: Die Mitgliedschaft im PEN ist längst nur noch zum „Virtue Signaling“ von müden Geistern geworden, zum Blumengebinde an den Ketten der wie Gulliver am Boden liegenden Großdenker. Möge die Welt die Verantwortung also bitte anderen in die Hände legen. Mit den Intellektuellen war noch nie ein Staat zu machen.

Anzeige