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Was macht Alexander Solschenizyn?

Der „Archipel GULag“ machte Alexander Solschenizyn zum weltberühmten Kritiker des Sowjetregimes. Doch im heutigen Russland ist die Stimme des Dichters nicht mehr gefragt. Eine Spurensuche

Es war nicht einfach, ihn zu finden. Dafür dringend. Wo war Alexander Solschenizyn? Kontakte zu Journalisten, die ihn während der letzten Jahre einmal getroffen hatten, halfen nicht weiter. Obwohl man ihn lange nicht mehr gesehen hatte, sollte er noch in der Gegend von Moskau leben. Im April flogen wir hin. Die Solschenizyn-Stiftung in Moskau war unsere erste Anlaufstelle. Mit Bestürzung, verrieten uns deren Mitarbeiter, stelle man fest, wie das weltweite Interesse für Solschenizyn immer weiter abnehme. Es hieß, der 85-Jährige halte sich, sorgfältig bewacht, in seinem Haus auf und widme sich dem Schreiben. Mit Hilfe der Stiftung und einiger anderer Stellen in Moskau gelang es uns, die genaue Adresse zu erfahren. Wir bekamen einen Besuchstermin. Ein schicker, schwarz glänzender BMW samt Fahrer erwartete uns frühmorgens vor dem Hoteleingang. Nach einer Fahrt durch Moskau überquerten wir irgendwann die Moskwa, an derem Ufer riesige Wohnblöcke emporwachsen. Die drückende Häuserkulisse machte nach einer Weile einer winterlich kargen Landschaft Platz. Birkenwälder säumten die Straßen, führten uns zu einigen verfallenen Häusern, davor herumstreunende Jugendliche. Wo waren wir gelandet? Unser Fahrer stieg aus, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Man zeigte ihm gleich die Richtung zum „Haus von Solschenizyn“. Ein großes Tor öffnete sich – und gab den Blick frei auf das Refugium des Dichters. Ein Gebäudeensemble aus Holz und Ziegelstein, das Solschenizyn aus Vermont nach Moskau mitgebracht haben könnte, jenem isolierten Zufluchtsort, wo der größte Teil seines Mammutwerkes über die sowjetische Revolution entstand. Wir waren angekommen. Lorie Karnath Alexander Solschenizyns Weltruhm begann am 13. Februar 1974. Dem Tag, an dem der Autor des „Archipel GULag“ das Flugfeld des Frankfurter Flughafens betrat. Aus der Sowjetunion ausgewiesen, erschien er in Westeuropa nicht nur als Dissident und Emigrant, sondern auch als Übermittler authentischen Wissens über Russland und sein Volk. Zunächst in Zürich, später im US-Staat Vermont erfüllte er diese Mission über zwanzig Jahre. Man betete ihn an, man glaubte an ihn, hörte auf ihn. Zeitweise sah man in ihm einen Hellseher und Propheten. In dieser Rolle war der „Eremit von Vermont“ auf alttestamentarische Weise streng. Dem sorglosen Westen, der im Sündenpfuhl des Konsums versank, verkündete er einen baldigen Untergang. Gegen die kommunistische Bedrohung aus dem Osten forderte er unerbittliche Standhaftigkeit. Er rief zur einer „wahrhaftigen“ Entspannung auf, konsequent und unversöhnlich, ohne Kompromisse und aus der Position der Stärke. Hoffnungen auf eine Reform der Kreml-Elite von innen hielt er für unbegründet und sinnlos. Doch die düsteren Prophezeiungen dieser Zeit erfüllten sich nicht. Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems, die Kette von Revolutionen der Jahre 1987 bis 1991 waren für ihn eine vollständige Überraschung. Sacharow war in Russland geblieben.Reflektiert man diese Epoche, kommt man nicht umhin, diese beiden Schicksale einander gegenüberzustellen. Tatsächlich waren Solschenizyn und Sacharow die zwei gegensätzlichen Pole der russischen Dissidentenbewegung der siebziger und achtziger Jahre. Der eine verkörperte die „russische“, die „nationale“ Richtung, der andere die „westliche“, die „liberale“. Im Unterschied zu seinem „Mitstreiter“ im Kampf gegen das Regime fühlte sich Solschenizyn nicht als „Weltbürger“. Von Anfang an beschäftigte ihn weniger die Rolle seines Landes im allgemein menschheitsgeschichtlichen Prozess als vielmehr sein eigenes, separates, nationales Schicksal. Er war nicht – wie Sacharow – Verkünder der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten, sondern litt schwer daran, dass Russland mit der Selbstunterwerfung unter die Lockungen des Kommunismus seine Identität verraten habe. Solschenizyns Reaktion auf den Untergang des Kommunismus kam für viele überrraschend. Der Schriftsteller hatte es nicht eilig, seine Meinung zu den demokratischen Entwicklungen zu äußern. Misstrauisch beobachtete er Gorbatschow und seine Reformen. „Glasnost ist nicht ein Verdienst Gorbatschows, sondern eines seiner kurzsichtigen Täuschungsmanöver“, sagte er 1993 der schweizerischen Weltwoche. Bei uns in Russland war Solschenizyns Stimme nicht zu hören. Wir hofften auf seine moralische Unterstützung, beim Putsch gegen Gorbatschow, später gegen Jelzin. Leider vergebens. Im Frühjahr 1994 kehrte Solschenizyn nach Russland zurück. Beginnend in Wladiwostok durchquerte er mit der Eisenbahn das ganze Land, begleitet von den Fernsehkameras der BBC. Die Reise­stationen in Großstädten und kleinen Orten gerieten zu patriarchalischen Begegnungen des „Propheten“ mit seinem Volk. Der Schriftsteller machte sich Notizen – und versprach, alles in Moskau zu „melden“. Womöglich hat er wirklich alles „gemeldet“. Jedoch: Diese Geste kam verspätet. Alles das, wovon er künden konnte, war täglich in den russischen Massenmedien zu sehen und zu hören: die Armut, die weiteste Kreise der russischen Bevölkerung erfasste, der große, oft ungesetzliche Reichtum einer kleinen Gruppe von Leuten – auf Kosten der anderen. Ein wirklicher Dialog Solschenizyns mit der Staatsmacht fand nicht statt. Die neue demokratische Regierung beschuldigte er, für die ärmliche Situation der Bevölkerung verantwortlich zu sein. Er suchte nicht den Kontakt mit der russischen politischen Elite und lehnte im Jahr 1998 selbst den Andreas-Orden ab – Russlands höchste Auszeichnung. Was für den Schriftsteller jedoch viel schmerzhafter war: Der Dialog mit seinem Land, auf den er bei seiner Rückkehr so sehr gerechnet hatte, kam nicht zustande. Da er über eine große moralische Autorität verfügte, versuchte er in der ersten Zeit Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Einmal wöchentlich trat er auf dem ersten staatlichen Fernsehkanal mit programmatischen, zehnminütigen Reden auf. Bald jedoch hörten diese Sendungen auf. Die Rolle des geistigen Hirten der Nation, ihres charismatischen Führers, auf die Solschenizyn nach Sacharows Tod allen Grund hatte zu spekulieren, gelang ihm nicht. Sein Auftritt vor den Abgeordneten der Staatsduma passte in dieses Bild: Als großartiger Redner sprach er leidenschaftlich darüber, wie er sich ein künftiges Russland vorstellte. Die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten hörte ihn an wie einen Ausländer, der in einer fremden Sprache spricht. Für diese hartgesottenen Pragmatiker war er der Botschafter einer fremden Galaxie – vielleicht des GULag, von dem die Mehrheit der Duma-Abgeordneten bis heute lieber nichts wissen will. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, Solschenizyn sei ein „Erwählter“ der Geschichte. Offenbar fühlt er sich selbst als Historiker, der beständig, über lange Jahre die Vergangenheit seines Landes erforschte. Doch war in ihm von vornherein eine andere Qualität angelegt, die sich nur schwer mit den Eigenschaften eines gelehrten Historikers verträgt. Das ist die Begabung des Reform-Predigers und flammenden Publizisten. Mit hitzigem Temperament und wahrhaft religiösem Eifer stürzte er sich auf die sowjetischen Führer, auf die konformistische sowjetische Intelligenz, den verfaulten Westen, der zur Entscheidungsschlacht mit dem Bösen nicht bereit war. Besonders vehement und unversöhnlich war er als Entlarver des GULag, des monströsen KZ-Systems im stalinistischen Russland, in dem Millionen unschuldige Menschen ums Leben gekommen sind. Des Öfteren, weithin vernehmlich legte er seine gesellschaftspolitischen Überzeugungen dar. Seine wichtigste Arbeit stammt aus dem Jahr 1990: „Wie wir Russland einzurichten haben.“ Wieder und wieder erinnerte er an Russlands „besonderen“ Weg, lehnte das demokratische, „westliche“ Entwicklungsmodell ab. „Er lebt ganz in der Vergangenheit“, sagte einst Gorbatschow über Solschenizyn. Und wirklich: Das ständige Rekurrieren auf einen zweifelhaften Volksbegriff, ein nationales Pathos, schließlich das übertrieben Kategorische seiner Urteile – das machte und macht Solschenizyns Projekte für die gegenwärtige russische Gesellschaft unannehmbar. Heute ist Solschenizyn 85 Jahre alt. Der ehemalige Patient der „Krebsstation“ erfreut sich seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Sein Lebensstil ist der alte geblieben. Nach dem Haus in Vermont residiert er jetzt in einem Landhaus in Troize-Lykowo, einer gehobenen Gegend im Moskauer Gebiet. Er zeigt sich nur selten in Moskau, um ein Grußwort bei der Verleihung des Solschenizyn-Preises zu sprechen oder um an einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften teilzunehmen. Diese Zurückgezogenheit ist einerseits aller Ehren wert, andererseits zeugt sie von der geistigen Vereinsamung des Schriftstellers. Es ist keine leichte Aufgabe, dieser glänzenden Gestalt der russischen Geschichte in all ihren Facetten gerecht zu werden. Als Entlarver der Verbrechen der vergangenen Epoche war Solschenizyn in seinem moralischen Impetus wahrhaftig groß. Sein berühmter Wahlspruch „Lebe nicht in der Lüge“ erlangte in den sowjetischen Verhältnissen den Rang einer Losung. In Solschenizyns Furchtlosigkeit, seiner Bereitschaft, bis zum Ende zu gehen, spürte man bisweilen etwas Übermenschliches. Als Erster in Russland stellte er die beiden totalitären Regimes des 20. Jahrhundert, den Bolschewismus und den Nazissmus, nebeneinander, nicht ohne die seiner Meinung nach größere Gefährlichkeit des Bolschewismus und die Verwandtschaft des Hitlerismus mit dem Stalinismus zu verschweigen. In Russland, das eine Ent-Kommunisierung nicht durchlaufen hat, wirkte der „Archipel GULag“ wie der Nürnberger Prozess. In dem Buch sprechen Hunderte von Zeugen – Opfer des erbarmungslosen kommunistischen Molochs. Was Solschenizyn bis 1972 vollbrachte, kann man als menschliche, staatsbürgerliche Heldentat bezeichnen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Tatsache der wachsenden Entfremdung Solschenizyns mit der heutigen russischen Gesellschaft als etwas Tragisches. Wer, wenn nicht Solschenizyn könnte auch heute die Stimme gegen den GULag erheben, eben jenes fast unveränderte System des Strafvollzugs im zeitgenössischen Russland! Wer könnte den öffentlichen Protest gegen die ungesetzlichen Praktiken der heutigen russischen „Organe“ formulieren? Doch Solschenizyn schweigt. Für die russische Intelligenz war der Autor des GULag seinerzeit ein Abgott. Eben diese Intelligenz kann den heutigen Solschenizyn nicht akzeptieren. Die ehemaligen Gesinnungsgenossen, berühmte Kämpfer für die Menschenrechte und russische Kulturschaffende, haben sich schon vor langer Zeit von Solschenizyn abgewandt. Unter den Vorwürfen, mit denen der Publizist Wladimir Wojnowitsch in seinem gerade erschienenen Buch „Porträt vor dem Mythos“ den „großen Solschenizyn“ überzog, gibt es einen besonders schmerzhaften: Seine Werke seien langweilig. Doch die Kritik reicht weiter: Einige der Werke Solschenizyns riefen nicht nur Langeweile hervor, sondern Missbehagen, gar Widerwillen. Es fällt schwer, über sein neueres Opus „Zweihundert gemeinsame Jahre“ zu sprechen. Dieses Buch, das von der Koexistenz von Juden und Russen in Russland handelt, basiert auf einer tendenziösen Auswahl von Quellen und erzeugt bittere und zweideutige Empfindungen. In seinen intensiven Grübeleien über Russlands Vergangenheit und Gegenwart ist Solschenizyn von tiefen Zweifeln gefangen. Das sowjetische Schwarz-Weiß-Bild, das sein moralisches Bewusstsein und seine fleckenlose staatsbürgerliche Position prägte, wird durch die dynamischen Widersprüche im heutigen Russland aufgeweicht. Obwohl er sein ganzes Leben der Frage nach den Schicksalen der russisch-sowjetischen Geschichte widmete, konnte Solschenizyn das zentrale historische Ereignis am Ende des 20. Jahrhundert nicht erkennen: die Befreiung Russlands von seinem alten quälenden Erbe, der Sklaverei. Als einer der Sowjetbürger, die den Sklaven in sich seinerzeit erfolgreich besiegten, konnte Solschenizyn „nach der Wende“ nicht mit jenem Teil des „Volkes“ gehen, der sich für immer von den Spuren der Sklaverei zu befreien suchte. Der Schriftsteller und Mensch, der eine unvergleichlich große Heldentat vollbracht hat, hat seine Zeit überlebt. Und möglicherweise auch die Zeit der Heldentaten. Der Autor ist Literaturhistoriker an der Universität von St. Petersburg. 1980 bis 1982 saß er als politischer Häftling des KGB im Arbeitslager Foto: Picture Alliance

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