Eine Reise von Druskininkai über Sarajevo bis nach Granada - Das Europa unserer Träume

Der Krieg in der Ukraine scheint die Träume von einem „gemeinsamen europäischen Haus“ zerstört zu haben. Und dennoch ist es für den Schriftsteller Stanislaw Strasburger an der Zeit, von der europäischen Zukunft zu träumen.

In Sarajevo wehen die europäischen Fahnen / dpa
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Autoreninfo

Stanislaw (Stan) Strasburger ist Schriftsteller, Literaturübersetzer, Kolumnist und Kulturmanager. Seine Schwerpunkte sind Erinnerung und Mobilität. Sein aktueller Roman „Der Geschichtenhändler“ erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. 

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Ein bekanntes polnisches Sprichwort besagt: Wo zwei Polen sind, da gibt es drei Meinungen. Auf der einen Seite sind sowohl die vorherige als auch die aktuelle Regierung und somit die absolute Mehrheit der polnischen politischen Elite für die Fortsetzung der Militärhilfe für Kiew.

Laut Umfragen gibt es dafür auch eine mehrheitliche Zustimmung in der Bevölkerung. Damit geht ein beeindruckendes solidarisches und soziales Engagement zur Unterstützung der Flüchtlinge aus der Ukraine einher. Wenn es aber um die Frage geht, ob im Falle eines russischen Angriffs gekämpft werden soll, so ergibt sich ein ganz anderes Bild: Eine klare Mehrheit erklärt, sie würde flüchten.  

Diese Diskrepanz kommt nicht von ungefähr. Die Warschauer Geschichtspolitik war jahrelang darauf fokussiert, die Bewohner Polens als Opfer zweier Totalitarismen – Hitlers und Stalins – darzustellen. Damit ging eine besondere Art von Patriotismus einher: Ein Patriot opfert sein Leben, um sein Land zu verteidigen, oder zumindest unterstützt er bedingungslos all diejenigen, die dies tun.

Zugleich ist die Erinnerung an die Verluste des Zweiten Weltkriegs in Polen sehr lebendig. Man ist sich des Preises, der für diese Art von Patriotismus zu zahlen ist, sehr bewusst. Es gibt wahrscheinlich keine Familie im Lande, die nicht bis heute um die damals Ermordeten trauert. Und diejenigen, die überlebt haben, haben ihre Lebensräume verloren, sie mussten oft ihren Wohnsitz und ihren Beruf wechseln. Auch das ruft bis heute tiefen Schmerz, Trauer und Wut hervor.

Die Unterstützung für den bewaffneten Kampf als Mittel zur Lösung politischer Konflikte steht daher im Widerspruch zu dem Bewusstsein des schmerzhaften Preises, den die so genannten einfachen Menschen für den Krieg zahlen. Das polnische und somit ein Stückweit auch das europäische kollektive Bewusstsein ist geprägt von dem Versprechen „Nie wieder Krieg“.

Die sogenannte Suwałki-Lücke und der Andere

Vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine interessierte sich in der Öffentlichkeit kaum jemand für Suwałki. Die Region galt als Kältepol, bekannt für Naturparks, eher arm und vernachlässigt. Manche suchten hier den Kontakt zu „exotischen“ Minderheiten wie den sogenannten polnischen Tataren oder kosteten die ausgezeichnete regionale Küche. Der Begriff „Suwałki-Lücke“ wurde zunächst im militärischen Kontext gebraucht. Erst internationale Medienberichte über Nato-Übungen in der Gegend popularisierten den Begriff. 

Doch was waren das für Berichte? Journalisten, die in der Regel mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut waren, auf Übersetzer und so genannte Fixer angewiesen, schufen spektakuläre Kontraste. Auf der einen Seite wilde Natur, friedliche Menschen und idyllische Atmosphäre einer eher rückständigen Gegend. Auf der anderen Seite der blutrünstige Putin und gegebenenfalls die Naivität so mancher westlicher Politiker, die das Problem des „gefährlichsten Ortes der Welt“ (Matthew Karnitschnig in der Zeitschrift Politico) unterschätzten. 

Solche Veröffentlichungen erinnern mich an orientalistische Beschreibungen exotischer Länder im Sinne von Edward Said. Saids These lautet vereinfacht ausgedrückt, dass das Bild des Anderen stark von den Vorstellungen über uns selbst beeinflusst wird. Je mehr wir an unsere eigene zivilisatorische Mission glauben, an die Werte, die unsere Politiker leiten und auf denen das Funktionieren unserer Gesellschaft beruht, desto mehr schauen wir auf den Rest der Welt herab. Plötzlich scheint es so, als stünden uns Orks gegenüber, blutrünstige Bestien, die abgeschlachtet und für immer hinter einen neuen Eisernen Vorhang verbannt gehören.

Die Fallstricke des Denkens

Saids Orientalismus kann als eine Konkretisierung von Michel Foucaults Überlegungen zu den Verflechtungen von Wissen und Macht betrachtet werden. Es ist die Macht, die das Feld dessen bestimmt, was wir als Wahrheit anerkennen und was uns als Lüge erscheint, bisweilen der Zensur unterliegt oder anderswie ausgrenzt wird. Das Stereotyp des Anderen dient der Macht.

Orientalismus ist aber auch eine Art verzehrter Kommunikation. Hans-Georg Gadamer wies darauf hin, dass ein Mensch, der sich als kartesianisches „Ich denke, also bin ich“ versteht, sozial verkrüppelt sei. Denn dieser Mensch glaube, dass er durch die Kraft seiner eigenen Vernunft die Welt erkennen wird. Das sei ein fataler Irrtum. 

Denn nach Gadamer bilden sich die Ansichten eines jeden Menschen in Relation mit dem Körper, der Sprache, auch im Gespräch mit anderen und im jeweiligen historischen Moment, in dem wir leben. Niemand ist völlig frei von Vorurteilen. Das gilt sowohl für den Einzelnen als auch für das Kollektiv. Hermeneutische Sensibilität hilft dabei, das Verhalten des Anderen immer wieder neu zu interpretieren, in der Grundannahme, dass er genauso ein Recht auf seine Meinung hat, wie wir auf die unsere.  

Der Orientalismus von nebenan

Bekanntlich widmete sich Edward Said der arabischen Welt. Die Grenzen des heutigen Iraks, Syrien, Libyen oder Libanon waren für ihn ein großer Fluch für diese Länder. Sie sind nämlich von ausländischen Mächten nach dem ersten Weltkrieg so gezogen worden, dass sie ein friedliches Zusammenleben und das Wohlergehen der dortigen Menschen so gut wie ausschließen. Bis heute bleibt es ein Teufelskreis: Die internationale Gemeinschaft erwartet das Entstehen „reifer“ demokratischer Staaten innerhalb von Grenzen, die das praktisch unmöglich machen. Und solange das nicht passiert, „muss“ immer wieder „interveniert“ werden.

Saids Ansatz denke ich mit Blick auf Europa weiter. Denn die Grenzen der heutigen Ukraine werfen ähnliche Probleme auf. Und ist ein monokultureller Nationalstaat (eine Nation, die als Ethnie und nicht als Gemeinschaft von Bürgern verstanden wird) ein so hohes Gut, dass es um den Preis eines horrenden Krieges erhalten werden muss? Sollte man sich nicht vielmehr der Frage stellen, ob auch die Ukraine mit ihren Grenzen dem Wohl ihrer Bevölkerung wirklich dienen kann? Ihre Grenzen sind nämlich ein Ergebnis erklärter Böswilligkeit von Stalin, Chruschtschow und anderer, die sie in der Vergangenheit gezogen haben. Wie im Nahen Osten, sollten sie auch hier eher Konflikte schüren als friedliche Nachbarschaft fördern.

Und sucht nicht das vereinte Europa seit Jahrzehnten nach Auswegen aus der nationalstaatlichen Ordnung und ihrer Grenzen? Die EU war und bleibt hoffentlich weiterhin ein Projekt gegen eiserne Vorhänge und Schranken. Warum sollte der Rest der Welt einem Staatsmodell huldigen, mit dem wir selbst enorme Probleme haben und von dem wir versuchen, uns in der einen oder anderen Form zu verabschieden?

Der Balkan und die Ukraine

Der UN-Sonderberichterstatter für Kriege im ehemaligen Jugoslawien und erster polnischer Premierminister nach der Wende, Tadeusz Mazowiecki, trat im Jahr 1995 aus Protest zurück. Die Gründe seiner Verzweiflung am damaligen Balkan ergeben für mich eine Analogie zur aktuellen Lage in der Ukraine. 

Die wichtigsten politischen Akteure, allen voran die so genannten Großmächte wie die USA und Russland, aber auch Deutschland, Israel und sogar die Ukraine, waren weder an einer Beendigung des Krieges noch an einer wirksamen Hilfe für die leidende Bevölkerung interessiert. So weigerten sich die USA beispielsweise, der UN-Friedenstruppe geheimdienstliche Informationen zur Verfügung zu stellen, die mit aller Wahrscheinlichkeit das Massaker von Srebrenica verhindert hätten. 

Das Pentagon hat nicht nur selbst systematisch gegen das Waffenembargo verstoßen. Es lieferte Waffen an mehrere Konfliktparteien gleichzeitig (sic!). Die Lieferungen wurden u. a. vom Iran durchgeführt – und von der Hisbollah, einer von den USA als terroristisch eingestuften Organisation. Wenn man fast drei Jahrzehnte später mit Menschen auf dem Balkan spricht, bekommt man leider eine Vorahnung, wie die Zukunft in der Ukraine aussehen wird: Nach der Hölle des Krieges ist die Welt nicht besser oder gerechter geworden.

Korridore und Enklaven

In Litauen ist die Erinnerung an den russischen Vorschlag aus der ersten Hälfte der 1990er Jahre, einen exterritorialen Korridor zu schaffen, der die Kaliningrader Exklave mit Weißrussland verbinden sollte, noch heute sehr lebendig. Exterritoriale Korridore und Exklaven sind ein heißes Thema im kollektiven Gedächtnis Europas. Schon in der Grundschule in Warschau lernte ich von Hitlers Forderung nach einem Korridor, der Ostpreußen mit dem Rest des Reichs verbinden sollte. Unmittelbar darauf brach der Zweite Weltkrieg aus. An der Grenze zwischen Kaliningrad, Polen, Litauen und Weißrussland sind soweit dreißig konfliktfreie Jahre vergangen. Zahlreiche historische Analogien legen jedoch leider nahe, dass Exklaven, die durch andere Staaten vom „Mutterland“ abgetrennt sind, unbeständig sind.

 

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Die Krim, Kaliningrad, der Balkan, aber auch viele andere Orte in Europa erinnern uns im Sinne Saids daran, dass auch im Herzen unseres Kontinents Grenzen über die Köpfe der Menschen hinweg gezogen wurden. In Teheran, Jalta und Potsdam wurde über uns entschieden, ohne uns. Der Weltkrieg war noch im Gange, als im Namen der Nachkriegsordnung ethnische Säuberungen begannen. Was von den jahrhundertealten Traditionen des nachbarschaftlichen Zusammenlebens den Krieg zu überdauern schien, wurde systematisch zerstört oder durch neue Grenzen verstümmelt. 

Die Auswirkungen dieser Entscheidungen liegen bis heute wie ein dunkler Schleier über Europa. Unter zahlreichen Europäern, auch in der Ukraine und in Russland, herrscht ein Gefühl tiefer Ungerechtigkeit. Kein Krieg wird diesen Schleier lüften. Im Gegenteil: Der Krieg in der Ukraine ebnet den Weg für weitere Kriege auf dem Kontinent.

Eine regionale Perspektive

Von Druskininkai über Sarajevo bis nach Granada beklagen zahlreiche Menschen die wachsende Kluft zwischen ihren Alltagserfahrungen und der Berichterstattung in den Medien und der großen Politik. Auf der einen Seite die globale Pandemie, der neue Rüstungswettlauf, Lieferengpässe oder die angebliche Bedrohung durch „unkontrollierte“ Einwanderung. Auf der anderen Seite der Alltag, geprägt von immensen Stromrechnungen, monatelangen Wartezeiten bei Ärzten, galoppierenden Preisen für Grundnahrungsmittel, Wohnungsnot in Großstädten und Entvölkerung auf dem Land.

Menschen auf dem ganzen Kontinent stellen verblüffend ähnliche Fragen: Ist der 100-prozentige Preisanstieg für Butter und Öl wirklich eine Frage des Krieges in der Ukraine oder eher des Versagens der Agrarpolitik? Wie steht es mit den Strompreisen angesichts der explodierenden Gewinne der Energiekonzerne? Dienen Parolen über Kriegstüchtigkeit und die Notwendigkeit, den Gürtel enger zu schnallen, nicht eher der Einschüchterung der Bürger, während zahlreiche Unternehmen sich am Krieg obszön bereichern?

Vertreter von Lokalverwaltungen, mit denen ich in den letzten zwei Jahren gesprochen habe, klagen unisono, dass die Bedürfnisse ihrer Gemeinschaften in den Hauptstädten kaum wahrgenommen werden. Ihre Energie verpufft in absurden Kämpfen gegen dysfunktionale Bürokratien, gegen die Konsequenzen ineffizienter Umverteilung von finanziellen Ressourcen und gegen die Entvölkerung ganzer Regionen aufgrund von Infrastrukturmängeln, die sie nicht beeinflussen können. Hinzu kommen die fortschreitende Überalterung unserer Gesellschaften und schließlich die rückständigen Bildungs- und Gesundheitssysteme. Trotz ihres oft enormen Engagements fühlen sich viele Kommunalvertreter völlig allein gelassen.  

Die verblüffend ähnlichen Erzählungen quer durch den Kontinent deuten für mich darauf hin, dass Europäer mehr gemeinsam haben, als man denkt. Die Botschaft erscheint klar: Das Sich-durch-aufeinanderfolgende-Krisen-durchmogeln sollte endlich ein Ende haben. Ein neues Projekt für Europa muss her. Wir brauchen eine EUtopie.

Die bipolare Welt, die es nicht mehr gibt

Mehrere Jahrzehnte relativen Friedens in Europa waren in die Existenz zweier konkurrierender Blöcke und das so genannte Gleichgewicht der Großmächte eingebettet. Es lag im Interesse der USA und der UdSSR, den Frieden in Europa zu erhalten. Die politischen Systeme und Grenzen unserer Länder waren auf diese spezifische geopolitische Situation zugeschnitten.  Gleichzeitig zeigen die globalen Erfahrungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass Militärbündnisse und Interventionen zur Verteidigung der einen oder anderen Grenze oder Regierung unerwartete Wendungen einnehmen können. Vietnam, Afghanistan, der Persische Golf, der Balkan und viele andere Orte zeigen, dass auch gewonnene Kriege Verwüstungen, ein Gefühl der Ungerechtigkeit und die Wut derer, die überlebten, hinterlassen.

Mit dem Zusammenbruch der bipolaren Welt scheint es plötzlich so, als würde es an jenen zwei „Ober-Polizisten“ fehlen, die in einem zersplitterten Europa für Ordnung gesorgt haben. Ein gutnachbarschaftliches Zusammenleben erscheint nach 1989 immer schwieriger. Liegt es daran, dass sich die Nachbarn nicht mögen? Die guten zwischenmenschlichen Beziehungen unter den internationalen Kurbesuchern in Druskininkai, das bunte Leben der Erasmus-Studenten an der Uni Granada oder auch die tolle Zusammenarbeit der ukrainisch-syrisch-polnisch-deutschen Belegschaft einer psychiatrischen Klinik unweit von Köln lassen mich fest daran glauben, dass das nicht der Fall ist. Wir leben einfach in einem Haus, das für eine andere Zeit zugeschnitten war.

Die Enttäuschung Europa?

Nach der Wende träumten wir vom Ende der Welt des Kalten Krieges. Ein geeintes Europa versprach neue Qualitäten. Es sollte eine solide Grundlage für  „Nie wieder Krieg" bieten. Im Mittelpunkt sollte das Wohlergehen der Bürger auf der Grundlage eines Wertesystems stehen, das die Achtung der regionalen Vielfalt, Solidarität, Mobilität, eine freundliche Sozialpolitik und schließlich einen gemeinsamen Wirtschaftsraum fördert. Europa sollte ein Raum der demokratischen Teilhabe und der Gestaltung der Umwelt nach den Bedürfnissen der Menschen und im Einklang mit der Natur sein.

Doch mit dem wachsenden militärischen Engagement in der Ukraine, den weitgehend marktorientierten Versuchen, auf die aufeinander folgenden Wirtschaftskrisen zu reagieren, und mit der zunehmenden Gefahr sozialer Spannungen bewegt sich Europa weit weg von diesen Träumen. Und die Fragen mehren sich: Ist der Kampf gegen Russland in der Ukraine gut, aber in Syrien nicht? Ist es wirklich so viel besser, Kohle aus Indonesien oder Gas aus Katar zu importieren, als aus Russland? Wo bleibt der grüne Leitfaden bei der ankurbelnden Aufrüstung?

Und nicht nur das. Trotz Dekaden intensiver Versöhnungsarbeit fällt es offenbar vielen Europäern weiterhin extrem schwer, sich von den Tragödien der Vergangenheit zu verabschieden. Das wiederauflebende Thema der Reparationen ist nur ein spektakuläres Beispiel dafür, dass die Vergangenheit eher nicht erfolgreich aufgearbeitet wurde. Die Migrationskrise von 2015, Covid-19 und schließlich der Krieg in der Ukraine gaben den Rest. Sie haben gezeigt, dass die Schranken an Europas Grenzen wieder fallen und Europa wieder von Dämonen des Populismus beherrscht werden kann.

Die Hoffnung wiedergewinnen

Am Anfang einer EUtopie steht eine ehrliche Bestandsaufnahme des Zustands des Kontinents und der Stimmung der Europäer. EUtopie regt dazu an, kurz innezuhalten und sich zu fragen: Von welchem Europa träumen wir? Kein Traum und kein Gespräch darf dabei gecancelt werden. Vielleicht liegt das Europa unserer Träume jenseits der aktuellen Grenzlinien, die es vielmehr neu zu gestalten oder schlicht ganz zu überwinden gilt? Vielleicht ist es kein transatlantisches Europa, das mit Russland verfeindet ist und nur auf die USA schaut? 

EUtopie animiert dazu, ein neues Europa zu denken, gestärkt in seiner politischen Subjektivität und an den Träumen seiner Bürger orientiert. Dabei sollte auch die Suche nach einer friedlichen Regelung der Beziehungen zu Russland gehören, ohne die Bedürfnisse der Menschen in der Ukraine, in Georgien, Armenien, Moldawien und anderen ehemaligen UdSSR-Staaten zu missachten. Im Einklang mit Said, Foucault und Gadamer, aber auch konkreten Ansätzen von Politikern wie François Mitterrand, Helmut Kohl, Jaques Delors und Tadeusz Mazowiecki.

Und es gibt Hoffnung: Selbst während des aktuellen Krieges in der Ukraine wird weiterhin erfolgreich kommuniziert. Es existiert auch ein komplexes Regelwerk, das von allen Konfliktparteien respektiert wird. Es betrifft beispielsweise die Frage, was tendenziell bombardiert wird und was nicht, welche Arten von Waffen verwendet werden und über welche Kanäle sie zu den Kämpfenden gelangen. Der Warenverkehr und die Mobilität von Politikern, aber auch von „einfachen“ Menschen, sind grundsätzlich nicht davon ausgeschlossen.

Zugegeben, viele dieser Regeln sind unmenschlich. Sie werden auch ständig neu verhandelt. Dass diese Kommunikation dann doch fortlaufend stattfindet, lässt mich fest daran glauben, dass es weiterhin möglich ist, die Tragödie durch Friedensgespräche zu beenden. Wir werden die Geografie nicht ändern, Russland bleibt unser Nachbar. Auf kurz oder lang müssen wir miteinander klarkommen. 

Anstatt sich also auf einen kontinentalen Krieg einzustimmen, sollte das Europa unserer Träume mit allen Kräften seine Bemühungen in dieser Richtung vorantreiben. Eine EUtopische Grundsatzdebatte dürfte uns dabei helfen, aus der Sackgasse, die in die vermeintlich einzig richtige Richtung führt – in die der donnernden  Kanonen –, herauszukommen.

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Dieses Essay entstand als Erweiterung eines Interviews mit mir, veröffentlicht in der litauischen Zeitung Suvalkietis im Jahr 2022. Das Gespräch führte Algis Vaškevičius.

 

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