Zum 100. Geburtstag von Walter Jens - Der Rhetor der Republik

Er war einer der prägendsten Intellektuellen der alten Bundesrepublik: Allgegenwärtig im Kulturleben und gleichermaßen gehasst wie verehrt für seine politischen Einmischungen. Erinnerungen an einen, für den „Querdenker“ ein Ehrentitel war.

Zeitlebens auch ein politischer Geist: Walter Jens mit Frau Inge im Jahr 1985 / picture alliance
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Autoreninfo

Der promovierte Politikwissenschaftler Ulrich Berls ist Fernsehjournalist und Autor. Von 2005 bis 2015 leitete er das ZDF-Studio München. Bei Knaur erschien sein Buch „Bayern weg, alles weg. Warum die CSU zum Regieren verdammt ist“.

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Für seine Fernsehkritiken in der Zeit hatte sich der habilitierte Altphilologe Walter Jens das Pseudonym Momos gewählt, ein antiker Anwalt des Tadels, ein geschmähter Gott in den unteren Regionen des Olymp, der in der deutschen Klassik gern die Rolle eines Rezensenten spielte. Momos, so schrieb Jens einmal, sei unter den Reinen und Feinen nicht beliebt gewesen, „wohl aber gefürchtet und respektiert.“ Und genau so wollte er gesehen werden.

Walter Jens war ein Tausendsassa: Romancier, Drehbuchautor, Übersetzer, Essayist und Literaturkritiker – doch das alles war er nur im Nebenberuf. Im Hauptberuf als Hochschullehrer war er der buchstäbliche Star der Universität Tübingen. Der Spiegel schrieb 1952 über den jüngsten Universitätsdozenten der Republik: „eine Karriere mit Nietzsche-Drall“. Als 39-Jähriger wurde Jens auf den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Rhetorik berufen – es war der erste in Deutschland seit anderthalb Jahrhunderten.

Skeptische Generation

So prototypisch die Figur Walter Jens später wurde, so außergewöhnlich war sein Werdegang. Geboren am 8. März 1923 in Hamburg, blieb ihm der Wehrdienst erspart. Ein schweres Asthmaleiden hatte seine Kindheit und Jugend geprägt. Während fast alle seine männlichen Altersgenossen in den Schützengräben lagen, brachte der junge Jens viel Zeit lesend im Krankenbett zu. Das Sätze-Zergliedern, schrieb er später einmal, sei ihm zur frühen Gewohnheit geworden.

Mit einem großen Vorsprung an Buchwissen, aber einem Mangel an Lebenserfahrung startete er seine Karriere als Schriftsteller. Seinen ersten Roman publiziert Jens mit 26: „Nein. Die Welt der Angeklagten“. Eine der wenigen Sozialutopien der Nachkriegsliteratur, thematisch an Orwell und Huxley erinnernd, obwohl beide damals in Deutschland noch gar nicht veröffentlicht waren. Das Buch brachte ihm die frühe Einladung zur Gruppe 47, in der er bald zu einer Schlüsselfigur aufstieg. 

Seine gesellschaftspolitische Grundhaltung in den 50er und frühen 60er Jahren glich der vieler Intellektueller seiner Generation. Die Erschütterung durch Nationalsozialismus und Krieg war prägend. Die Grundhaltung war antiideologisch, Gesellschaftskritik wurde im Ton der „skeptischen Generation“ vorgetragen, einer überstarken Politisierung von Literatur und Kunst galt erhebliches Misstrauen. Jens’ Werk jener Jahre spiegelt dies exemplarisch wider. Die Schriftsteller hätten „kritisch, politisch wachsam und sachlich“ zu sein, schrieb er 1962, ihr Ort könne aber immer nur „zwischen den Stühlen“ liegen.

Der Radikaldemokrat

Als im Zuge der Studentenrevolte Kunst und Kultur immer politischer wurden, als die APO eine Tagung der Gruppe 47 mit den Schmährufen „Dichter, Dichter, Dichter“ sprengte und mit der Parole „Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf“ jedweder Form von Ästhetizismus oder Innerlichkeit den Kampf ansagte, rückten viele Literaten nach links. Hans Magnus Enzensberger war mit seinem Kursbuch Teil der Bewegung, Heinrich Böll und Martin Walser solidarisierten sich mit der Neuen Linken und ebenso auch Walter Jens. Einzig der immer schon als links geltende Günter Grass blieb seiner sozialdemokratischen Seele einstweilen treu und rutschte in der 68er-Zeit erstaunlicherweise ziemlich nach rechts.

Walter Jens, sicherlich auch durch seine Tübinger Freundschaften mit den Marxisten Ernst Bloch und Hans Mayer beeinflusst, sprach nun ständig von den „Verblendungszusammenhängen“, die es aufzulösen gelte. Einer seiner Schlüsselsätze lautete, eine Demokratie, die an den Fabriktoren aufhöre, sei keine. Sozialist wollte er sich freilich nicht nennen, der Begriff war ihm denn doch zu besetzt und seine Liebe zur bürgerlichen Kultur einfach zu groß, aber „Radikaldemokrat“ und „Citoyen“ wurden seine Lieblings-Chiffren. 

Republikanische Reden

Von 1976 bis 1982 war Walter Jens als Nach-Nachfolger von Heinrich Böll Präsident des deutschen PEN-Zentrums. Nur eine von vielen Nebenbeschäftigungen, denn sein Hauptaugenmerk lag woanders. Er nahm sich nicht nur der Theorie der Rhetorik, sondern immer stärker auch der Praxis der Redekunst an und stieg zum Ober-Rhetor der Republik auf. Seine Ansprache auf dem SPD-Parteitag 1979 war Anlass für eine hitzige Bundestagsdebatte. 

Als begehrter Festredner sprach er kunstvoll und bildungssatt nicht nur über Jesus’ Verhältnis zu den Frauen, sondern auch über die Geschichte des Öffentlichen Nahverkehrs. Sogar der Deutsche Fußball-Bund hatte ihn anlässlich seines 75. Jubiläums eingeladen. Jens nutzte die Gelegenheit und las dem DFB die Leviten, weil er niemals seine Rolle im Nationalsozialismus richtig aufgearbeitet habe.

Mitunter vergaloppierte er sich in seinen „Republikanischen Reden“, wie der wichtigste seiner Sammelbände ganz programmatisch aus dieser Zeit hieß. Wenn er etwa immer wieder behauptete, das Grundgesetz sei bedroht wie nie zuvor, dann führte sein Zorn über die sogenannten Berufsverbote, mit denen in den 70er Jahren Extremisten vom öffentlichen Dienst ferngehalten werden sollten, seine Feder. Staatsrechtlicher Realismus war nicht unbedingt seine Stärke.
 

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Neben seiner Arbeit als Autor und Redner war er auch ein Aushängeschild der Friedensbewegung der frühen 80er Jahre. Kamerawirksam ließ sich der Herr Professor bei Blockaden im Zuge der Proteste gegen die Nachrüstung von der Polizei wegtragen. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Inge wurde er später wegen Beihilfe zur Fahnenflucht verurteilt. Das Paar hatte desertierten Berufssoldaten der US-Armee während des ersten Golfkriegs bei sich zuhause Unterschlupf gewährt. 

Eine persönliche Zäsur

Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung trafen Walter Jens genauso unvorbereitet wie die meisten anderen Intellektuellen. Das Wendejahr 1989 war auch eine persönliche Zäsur, denn er wurde emeritiert. Jens, dem viele nicht ganz zu Unrecht nachsagten, außer Texte und Wörter könne er nichts organisieren, Jens, der nicht einmal einen Führerschein besaß und den Bürokram am Institut in Tübingen gerne anderen überließ – ausgerechnet dieser pure Homme de Lettres übernahm nach dem Fall der Mauer eine besonders kniffelige Führungs-Aufgabe. Er sollte die Akademie der Künste im Westen mit der Ostakademie vereinen.

Dem spätberufenen Kulturmanager gelang in zwei Wahlperioden das Glanzstück, Künstler aus Ost und West unter einem Dach zusammen zu bringen. Ein zweiter Erfolg in seinen späten Jahren war das gemeinsam mit seiner Frau Inge publizierte Buch „Frau Thomas Mann“, ein süffiges Portrait von Katja Pringsheim, das einzige der vielen Bücher von Walter Jens, das es in die Bestsellerlisten schaffte. 

Trauriges Ende

Was für ein Leben! Marcel Reich-Ranicki schrieb: „Walter Jens ist weit mehr als ein erfolgreicher und umworbener Schriftsteller, mehr als ein geschätzter und berühmter Gelehrter. Er ist eine öffentliche Institution, die schon seit geraumer Zeit im geistigen Leben der Bundesrepublik eine außerordentliche und in einem bestimmten Sinne auch eine zentrale Rolle spielt.“

Ein vorschnelles Urteil, denn das Ende dieser beeindruckenden Karriere war tragisch. Im Jahr seines 80. Geburtstages wurde bekannt, dass Jens als Student NSDAP-Mitglied gewesen war – ausgerechnet der Linksintellektuelle Walter Jens, der immer, wenn er von seiner Jugend gesprochen, so stolz vom antifaschistischen Geist seines Elternhauses erzählt hatte.

Irgendwie habe er diese Jugendsünde wohl vergessen, die Mitgliedschaft sei ja nur pro forma gewesen, stammelte der Meister der Worte. Als kurz darauf bekannt wurde, dass auch Günter Grass die Erinnerung an seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS entglitten war, bekam Walter Jens das schon nicht mehr richtig mit. Der Geistesmensch entschwand in eine grausame Demenzerkrankung, von der ihn der Tod erst 2013 erlöste.

Ist dieses traurige Finale der Grund, warum dieser Poeta Doctus, den 50 Jahre lang jeder in der geistigen Republik kannte, heute wie aus der Zeit gefallen wirkt? Bestimmt nicht. Die Partei-Mitgliedschaft war nachweislich passiv, sie kratzt zwar am Jens’schen Moralismus, aber sie zerstört kein ganzes Lebenswerk. 

Mit scharfer Klinge

Walter Jens verkörperte eine Art von Streitkultur, die heute nur noch inkriminiert werden würde. Jens focht immer mit scharfer Klinge. Über seine Auftritte als Literaturkritiker in der Gruppe 47 schrieb Martin Walser einst, in „stürmischer Genauigkeit“ gehe er mit den Texten um, „an Demosthenes muss man denken“. Polemik war für Jens immer erlaubt. Er war sicher, dass leidenschaftliche Zuspitzung, auch Übertreibung dem Erkenntnisgewinn dienen, denn sie gehören zum demokratischen Diskurs.

Rede und Gegenrede waren für ihn das Lebenselixier einer offenen Gesellschaft. Für die heutige rhetorische Leisetreterei – gerade im universitären Milieu – hätte er sicher nur beißenden Spott übrig gehabt. Und wenn ihn etwas in Rage versetzt hätte, dann wäre es auch nur der leiseste Hauch von Cancel Culture gewesen. Wehe dem, der es gewagt hätte beispielsweise Hand an seinen Hausgott Lessing zu legen.

Darf ein Nichtjude Nathan und ein Nichtmoslem Saladin spielen oder ist das kulturelle Aneignung? Ist das Frauenbild in Emilia Galotti wirklich korrekt? Darf man auf der Bühne ein Wort wie „Frauenzimmer“ aussprechen? Es wäre ein Freude gewesen, zu sehen, wie Walter Jens auf die derzeit so beliebte Begradigung von Original-Texten reagiert hätte.

Ein liberaler Humanist

Seine Sympathie galt immer den Außenseitern, den Nörglern, den Nonkonformisten. Er sang das hohe Lied auf die „Skeptiker unter den Glaubensgewissen“, auf die „sokratischen Neinsager“, wie zwei seiner Lieblingsformeln hießen. „Querdenker“ wäre ein Ehrentitel für ihn gewesen. Dieser Vorzeige-Linke war im tiefsten Herzen letztlich ein liberaler Humanist. 

Als sein Lebensmotto hatte er „Concordia Discors“ gewählt, Eintracht in der Zwietracht. Dieser Gedanke ist es, der in unserer Gegenwart der Shitstorms und der Sprachpolizisten völlig obsolet geworden ist. Deshalb ist Walter Jens heute leider so unzeitgemäß.

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