Bertrand Russells 150. Geburtstag - Logiker, Philosoph, Kämpfer für den Frieden

Als die Gesellschaft um ihn herum in eine hysterische Kriegsbegeisterung verfiel, durchschaute er die Gefahren selbstgerechter moralischer Empörung. Diese Erfahrung machte ihn zu einem konsequenten Pazifisten. Vor allem aber war Bertrand Russell ein brillanter Logiker, Vater der modernen analytischen Philosophie und begabter Schriftsteller. In der kommenden Woche jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal.

Büste von Bertrand Russell am Red Lion Square in London / Wikimedia Commons
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Drei Leidenschaften,“ schreibt Bertrand Russell am Beginn seiner Autobiografie, „haben mein Leben bestimmt: die Sehnsucht nach Liebe, das Verlangen nach Wissen und das unerträgliche Mitleid mit dem Leiden der Menschheit.“

Vor allem die Suche nach Liebe ist ein Dauermotiv seines langen Lebens, die Suche nach einer Liebe, die frei ist und nicht eingeengt durch vertrocknete Konventionen. Viermal war Russell verheiratet. Mit der berühmten Mäzenin und Salonnière Ottoline Morel verband ihn mehr als Freundschaft. Seine letzte Ehe mit der amerikanischen Autorin Edith Finch schloss er mit 80.

Doch das Thema Liebe, Sexualität und Ehe trieb ihn auch philosophisch um. In den 20er-Jahren hatte Russell intensiven Kontakt zur legendären Bloomsbury Group um Virginia Woolf, John Maynard Keynes, E.M. Forster, Roger Fry und Lytton Strachey. Dort diskutierte man unter anderem intensiv über Homosexualität, freie Liebe, Ehe und Feminismus. Als Resultat dieser Debatten erschien 1929 Russells Buch „Ehe und Moral“, in dem er sich kritisch mit der traditionellen Ehe- und Sexualmoral des viktorianischen Zeitalters auseinandersetzte. Das Buch wurde ein veritabler Skandal, insbesondere in den USA, und es ist durchaus apart, dass Russell ausgerechnet für dieses Büchlein im Jahr 1950 den Literaturnobelpreis erhielt.

Schon Russells erste Veröffentlichung war eher ungewöhnlich für einen Mathematiker und Philosophen: eine Arbeit über die deutsche Sozialdemokratie. Die erschien im Jahr 1896. In den Jahren zuvor hatte Russell in Cambridge Mathematik und Philosophie studiert. In den späten 1890er-Jahren erschienen erste Arbeiten Russells zu den Grundlagen der Mathematik, 1903 sein erstes umfangreiches Werk: „The Principles of Mathematics“. Aufbauend auf dieser Arbeit begann Russell zusammen mit seinem Kollegen Alfred North Whitehead die Arbeit an jenem Werk, das seinen wissenschaftlichen Ruhm begründen sollte: die „Principia Mathematica“, der umfangreiche Versuch, alle mathematischen Tatsachen aus einem klar definierten Satz von Axiomen und Schlussregeln abzuleiten. Seine mengentheoretischen Einsichten werden zugleich Ausgangspunkt von Russells Theorie der Bedeutung, die grundlegend für die moderne Philosophie werden wird.

Vorfreude auf das Gemetzel

Dann brach der Erste Weltkrieg aus, jenes Ereignis, das Russells Leben, wie er selbst schreibt, im zwei Hälften teilte. Eindrucksvoll beschreibt er auf den ersten Seiten des zweiten Bandes seiner Autobiografie die letzten Tage vor dem 4. August 1914, dem Kriegseintritt Großbritanniens, den Stimmungsumschwung unter seinen Kollegen, den Wandel von ehemals überzeugten Pazifisten zu glühenden Anhängern der scheinbar gerechten Sache, die hektischen Aktivitäten der Politik, die fiebrige Stimmung der Öffentlichkeit: „Ich hatte mir gerne vorgestellt, was die meisten Pazifisten behaupteten, dass nämlich Kriege einer widerwilligen Bevölkerung von despotischen und machiavellistischen Regierungen aufgezwungen würden. In den vergangenen Jahren war mir aufgefallen, wie sorgfältig Sir Edward Grey [britischer Außenminister von 1905 bis 1916] log, um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit erfuhr, mit welchen Methoden er uns im Falle eines Krieges zur Unterstützung Frankreichs verpflichtete. Ich hatte mir naiverweise vorgestellt, dass die Öffentlichkeit, wenn sie herausfindet, wie er sie belogen hat, verärgert sein würde; stattdessen war sie ihm dankbar, dass er ihr die moralische Verantwortung erspart hat.“

Russell gerät in eine Mischung aus Befremden und Verzweiflung: „Obwohl ich die ganze Katastrophe des Krieges nicht voraussah, ahnte ich viel mehr als die meisten Menschen. Die Aussicht erfüllte mich mit Grauen, aber noch mehr Grauen bereitete mir die Tatsache, dass die Vorfreude auf das Gemetzel für etwa neunzig Prozent der Bevölkerung reizvoll war. Ich musste meine Ansichten über die menschliche Natur revidieren.“

Der August 1914 macht aus dem bisher in der Öffentlichkeit wenig bekannten Professor des Trinity College in Cambridge einen streitbaren Intellektuellen. Er engagiert sich für Kriegsdienstverweigerer. Wegen eines entsprechenden Flugblatts wird er zu einer Geldstrafe verurteilt und von seiner Universität vom Dienst suspendiert. Doch Russell lässt sich nicht einschüchtern. Wegen eines weiteren Flugblatts landet er schließlich für sechs Monate im Gefängnis, wo er die Zeit nutzt, um eine – überaus lesenswerte – Einführung in die Philosophie der Mathematik zu schreiben.

Die politische Entwicklung Europas nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bestätigte Russells düstere Visionen. Nicht nur hatte der Krieg unendliches Leid über Millionen Menschen gebracht. Er hatte vor allem die politische Ordnung destabilisiert und in zwei sehr großen und mächtigen Ländern – zunächst in Russland, später in Deutschland – Diktaturen an die Macht gebracht, die Europa in eine noch viel größere Katastrophe steuerten.

Kriege werden nicht geführt, um Leid zu vermeiden

Dass Russell kein bornierter Pazifist war, zeigte sich während, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwar sah er sich in seiner Haltung bestätigt, dass der Krieg von 1914 eine Katastrophe war, doch Hitler musste auch aus seiner Sicht gestoppt werden. Und 1946 plädierte er für einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion. Sein Argument: Stalin sei ein ähnlich aggressiver Despot wie Hitler und ein Krieg unvermeidbar, also müsse man ihn führen, bevor Stalin ebenfalls im Besitz von Atomwaffen sein würde.

Diese pragmatischen Erwägungen zeigen, worum es Russell im Kern ging: um das Vermeiden von Leid. Wenn ein Krieg dazu beitragen kann, mehr Leid zu verhindern, als er unvermeidbar erzeugt, ist es notwendig, ihn zu führen. Das ist aber so gut wie nie der Fall. Kriege werden nicht geführt, um Leid zu vermeiden, sondern um machpolitischer Interessen willen, die mit hohlen Idealen kaschiert werden. Sie erzeugen maßloses Elend, dass es ohne sie nicht gäbe. Auch Kriege für eine angeblich gute Sache sind somit zu verurteilen. Dies gilt umso mehr, als die angeblich gute Sache nahezu immer geostrategische Ziele bemänteln soll. Auch das hat sich bis heute nicht geändert.

Russell steht bei seinen Erwägungen ganz in der Tradition des Utilitarismus, also jener Ethik, die das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl zum Maßstab moralischen Handelns macht. In seinem Essay „Philosophie des Pazifismus“ sieht Russell vor allem zwei Argumente gegen den Krieg: „Zunächst die ihm charakteristischen Schäden, dann die Nutzlosigkeit (vom ethischen Standpunkt betrachtet), ein Volk ‚bestrafen‘ zu wollen.“ Mit Nachdruck warnt Russell vor dem in allen Nationen grassierenden Irrglauben, man selbst sei friedliebend und der Krieg nur durch die „Skrupellosigkeit der Feinde aufgezwungen“, woraus dann geschlossen wird, dass der Feind für seine Skrupellosigkeit bestraft werden müsse, da sonst ist kein dauernder Friede möglich sei.

In einem selbstverfassten satirischen Nachruf schrieb Russell über sich selbst: „In Privatgesprächen pflegte er zu sagen, dass mordgierige Verrückte ganz recht daran täten, einander zu töten, vernünftige Leute ihnen aber dabei aus dem Wege gingen. Glücklicherweise ist diese Haltung (…) heute selten geworden. Wir anerkennen wieder den Wert des Heldentums, der mit dem Nutzen nichts zu tun hat. Zwar liegen weite Gebiete der einstigen zivilisierten Welt in Trümmern; aber kein Rechtdenkender kann zugeben, dass jene, die in dem großen Ringen für das Recht ihr Leben gaben, umsonst gefallen sind.“

In Zeiten, in denen es wieder modern geworden scheint, Kriege im Namen aufgeblasener Ideale zu führen oder zumindest zu unterstützen, sollten wir uns hin und wieder auf den großen Pazifisten, Philosophen und Logiker besinnen.

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