Berlinale lädt AfD-Abgeordnete aus - Kunst als Safe Space Gleichgesinnter

Die Berlinale lädt öffentlichkeitswirksam zuvor eingeladene AfD-Politiker wieder aus. Es ist für ein Filmfestival nicht nur anmaßend, die politische Gesinnung seiner Zuschauer zu prüfen. Es verrät auch den Wert, der die demokratische Kunst des Theaters und des Films auszeichnet.

Problembären müssen leider draußen bleiben / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

So erreichen Sie Bernd Stegemann:

Anzeige

Die Ausladung der AfD-Abgeordneten von der Berlinale widerspricht nicht nur demokratischen Tugenden, sie ist auch ein Angriff auf das, was die Kunst des Films ausmacht. Film ist ebenso wie Theater und Musik eine Kunstform der Öffentlichkeit. Das Theater wurde nicht zufällig gleichzeitig mit der Demokratie im antiken Athen erfunden. 

Die Bürger, die zugleich die Macht über die Geschäfte der Polis hatten, wollten sich im Theater zusammenfinden. Denn beim Anschauen der Tragödien konnten sie gemeinsam erleben, wie schnell ein Konflikt unlösbar werden kann und wie blutig ein unlösbarer Konflikt für die Stadt wird. Die streitlustigen Athener waren klug genug, sich immer wieder zu versichern, dass sie nicht einer Meinung sind, aber dennoch zu einer Polis gehören. Seitdem gehört es zum Kern demokratischer Weisheit, die fremde Meinung nicht zu verdammen, sondern sie im Wettbewerb der Argumente um Stimmen kämpfen zu lassen. 

Der Berlinale ist ein solches demokratisches Denken abhandengekommen. Sie lädt in einer Pressemitteilung die vormals eingeladenen AfD-Abgeordneten wortreich wieder aus. Ihre Begründung lautet, dass Forderungen nach „Zuwanderungsrestriktionen und Massenabschiebungen“ dort „nicht willkommen“ sind. Abgesehen von der Frage, ob Olaf „im großen Stil abschieben“ Scholz nun auch der Zutritt verwehrt wird, ist es von einem Filmfestival anmaßend, die politische Gesinnung seiner Zuschauer zu prüfen. Und ich füge an, es ist nicht nur anmaßend, es verrät auch den Wert, der die demokratische Kunst des Theaters und des Films auszeichnet. 

Erst im Theater wird der Sitznachbar zum Zeitgenossen

Vor einigen Jahren wurde ich in eine Diskussion verwickelt, in der Theaterleute überlegten, welches Zeichen sie gegen die erstarkende AfD setzen könnten. Der Vorschlag, der ernsthaft geprüft wurde, sollte darin bestehen, dass man am Theater ein Transparent aufhängt, auf dem stehen sollte: Kein Zutritt für die AfD. Ich fand und finde diesen Vorschlag grundfalsch, denn er glaubt nicht mehr an die Kraft des Theaters. 

Theater hatte zu allen Zeiten nicht nur eine unterhaltsame, sondern auch eine aufklärerische Wirkung auf sein Publikum. Seit der griechischen Tragödie sind die Geschichten, die dort erzählt werden, nicht nur spannend, sondern stellen ebenso Fragen über die menschliche Existenz und die Art des Miteinanderlebens. Und im Unterschied zur einsamen Romanlektüre werden die Nöte und Freuden der dargestellten Figuren im Theater kollektiv erlebt. Nicht nur das eigene Gefühl wird präsent, sondern ebenso die Gefühle der anderen werden zum Teil des gemeinsamen Erlebens. Erst im Theater wird der Sitznachbar zum Zeitgenossen. Und erst im Theater wird aus der anonymen Schar der Zuschauer ein Publikum, das gemeinsam aufmerksam ist, lacht, sich Fragen stellt und manchmal langweilt. 
 

Das könnte Sie auch interessieren:


Diese öffentliche Anteilnahme am fremden Schicksal gehört zu den Grundlagen der westlichen Zivilisation. Wenn, wie in Corona-Zeiten, der soziale Kontakt abbricht und sich jeder in seine Netflix-Echokammer zurückzieht, wächst nicht nur die Einsamkeit, sondern ebenso schnell radikalisieren sich die isolierten Meinungen. Gerade die letzten Jahre haben darum nochmal gezeigt, wie fundamental das gemeinsame Erlebnis für eine Demokratie ist. Wenn die Berlinale meint, einzelne Menschen davon ausschließen zu müssen, so spricht daraus eine Missachtung gegenüber diesen Voraussetzungen der Demokratie. 

Ich habe seinerzeit den Vorschlag gemacht, dass auf dem Transparent stehen sollte: Freier Eintritt für AfDler. Wenn man noch an die zivilisierende Kraft des Theaters glaubt, dann müssten doch gerade die Zeitgenossen ins Theater gelockt werden, deren Meinung man auf einem Abweg erachtet. Mein Vorschlag wurde natürlich nicht umgesetzt. Denn schon damals erwachte eine ängstliche Tugendhaftigkeit, die seitdem die Gesellschaft immer weiter spaltet. 

Demonstrationen für die Demokratie sind antidemokratisch

Es geht immer weniger darum, AfDler positiv zu beeinflussen, sondern es geht vor allem darum, ein Zeichen gegen sie zu setzen. Damit ist nichts anderes gemeint, als ein Tugendsignal zu senden, dass man selbst zu den Guten gehört. Diese Tugendsignale als Kampf für die Demokratie und Kunst zu feiern, ist nur möglich, wenn man Demokratie und Kunst ihrer grundlegenden Werte beraubt hat. Sie sind dann nur noch schön klingende Worte für etwas, das man selbst als gut empfindet, und wo nur noch die Weltanschauung vorkommen darf, die man selbst teilt. Die Einsinnigkeit der Guten ist aber etwas kategorisch anderes als Demokratie und Kunst. Die Demonstrationen für die Demokratie sind antidemokratisch

Auch das wussten die Athener Demokraten schon. Die antike Tragödie spielte gerade nicht in einem homogenen Meinungsmilieu, sondern es prallten unversöhnliche politische Interessen und Weltanschauungen aufeinander. Und als gelungen galt die Tragödie, in der nicht klar ist, wer die Guten und wer die Bösen sind. Diese Gleichrangigkeit der sich ausschließenden Meinungen galt es zu ertragen und aus ihr zu lernen. 

Mit Reinheit wurde noch nie ein Widerspruch in der Welt gelöst

Die Homogenität der Guten kleidet sich heute immer öfter in das Gewand der Demokratie, um in dieser Verkleidung die Hegemonie ihrer Weltanschauung durchzusetzen. Eine solche Tarnung wäre es wert, im Drama dargestellt und vor einem Publikum von Grünen- bis AfD-Wählern aufgeführt zu werden. Doch die Kunst der Selbstgerechten setzt lieber ein Zeichen und vermeidet jeden Kontakt mit den Bösen. 

Dass mit der Reinheit noch niemals ein Widerspruch in der Welt gelöst wurde, kümmert sie nicht. Denn es geht ihnen nicht um die Verbesserung der Welt, sondern darum, sich gut zu fühlen in der eigenen Vortrefflichkeit. Es geht ihnen nicht darum, Theater und Film für die Realität zu öffnen, um die Probleme der Gegenwart sichtbar zu machen, sondern es geht ihnen darum, Kunst zum Safe Space Gleichgesinnter umzubauen. 

Mut hätte es gebraucht, sich mit der AfD zu konfrontieren

So vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft, und keines der Probleme, für das die AfD das Symptom ist, wird angegangen. Man bleibt unter sich und feiert sich dafür, die anderen „mit klarer Haltung“ ausgeschlossen zu haben. Die Partygäste der Berlinale-Gala mögen sich gegenseitig beglückwünschen, besonders mutig gewesen zu sein. Doch das ist Selbstbetrug, sie haben ein gratismutiges Signal an die eigene Community gesendet. 

Mut hätte es hingegen gebraucht, sich mit der AfD zu konfrontieren und sie in die Diskussion der Filme und ihrer Wirkung einzubinden. Mutig wäre es gewesen, mit dem Sitznachbarn, der absolut anderer Meinung ist, gemeinsam den Film von Agnieszka Holland über die Migration an der belarussisch-polnischen Grenze zu schauen und anschließend darüber ins Gespräch zu kommen. Solange es sich für die Selbstgerechten aber besser anfühlt, nur mit Gleichgesinnten zusammenzusitzen und die fremde Meinung auszuschließen, solange werden die Demokratie und die Kunst weiter Schaden nehmen. 

Anzeige