Berlinale in der Zeitgeist-Falle - Bonjour Tristesse

Die Berlinale steckt in einer tiefen Krise. Das Programm ist aufgebläht, die politische Einflussnahme hat zugenommen. Doch auch allzu Zeitgeistiges hat den Mythos angekratzt.

Filmlager der ersten Berlinale 1951 / Herrmann Bredehorst, Polaris
Anzeige

Autoreninfo

Rüdiger Suchsland (Foto privat), Jahrgang 1968, ist Kulturjournalist, Regisseur und Filmkritiker.

So erreichen Sie Rüdiger Suchsland:

Anzeige

Tricia wer? Diese Überraschung zumindest war Kulturstaatsministerin Claudia Roth geglückt. Als Mitte Dezember die ersten Meldungen zur Personalie eintrafen, fingen fast alle Vertreter der internationalen Filmwelt erst einmal an zu googeln. Dann wurde klar: Tricia Tuttle, eine 53-jährige Amerikanerin, die vor 30 Jahren mal in einer Indie-­Rockband gespielt und in den letzten zehn Jahren in London gelebt, dort zuletzt von 2019 bis 2022 das Londoner Filmfestival geleitet und sich besondere Verdienste um die Vergrößerung des Publikums und die Inklusion der schwul-lesbischen Filmszene erworben hat, wird neue Intendantin der Berlinale. 

Im Vorfeld war viel über mögliche Kandidaten für das wichtigste deutsche Filmfest diskutiert worden, aber der Name Tricia Tuttle fiel nie. Vielleicht hatte das auch seine Gründe. Der Ernennung von Tuttle vorangegangen war eine lange strukturelle und inhaltliche Hängepartie, die von zahlreichen Misstönen begleitet wurde: Bereits im Frühjahr hatte Mariette Rissenbeek, die eine Hälfte des amtierenden Direktorenduos, bekannt gegeben, dass sie ihren Vertrag nicht verlängern würde. Ihr Direktoren-Kollege, der Italiener Carlo Chatrian, warf dann im August beleidigt das Handtuch. Zuvor hatte ihm die Kulturstaatsministerin in instinktloser Weise signalisiert, dass man im Kanzleramt zum früheren Modell mit einem einzigen Direktor an der Spitze der Filmfestspiele zurückkehren werde – und ihn als alleinigen Boss nicht in Betracht ziehe. 

Die Gründe dafür waren vielfältig. In Berlinale-Kreisen war schon lange vom schlechten Verhältnis zwischen Rissenbeek und Chatrian die Rede. Hinzu kamen Sparzwänge, die dazu führten, dass im Sommer verkündet werden musste, dass das Programm erheblich eingestampft werde. Zwei Sektionen wurden komplett gestrichen, weitere Streichungen scheinen nur eine Frage der Zeit zu sein.

Die Politik greift ein

Noch gravierender sind die strukturellen Probleme der Berlinale, zu denen ebenso eine desaströse Raumsituation gehört wie immer mehr fehlendes und unter Wert bezahltes Personal. Und nicht zuletzt das schlechte Erscheinungsbild eines aufgeblähten und konturlosen, auch ästhetisch unbefriedigenden Programms, das viel zu viele Filme zeigt, auch jetzt, nach den Kürzungen, noch aus zehn bis zwölf Sektionen besteht und eine Unmenge an bis zu 400 Filmen aufführt. Selbst versierte Kenner sind zuweilen nicht in der Lage, deren Profil zu unterscheiden.

Die deutsche wie internationale Presse ist entsprechend schlecht gelaunt und zunehmend ungeduldig: Den Turnaround bei der Berlinale, den man sich nach Jahren des schleichenden Niedergangs unter dem Vorgänger von Rissenbeek und Chatrian, dem Medienliebling Dieter Kosslick, erhofft hatte, hat das mit viel Vorschusslorbeeren gestartete Duo nicht geschafft. Allerdings litten sie in ihrer knapp fünfjährigen Amtszeit nicht nur an der handwerklich lausigen Übergabe durch den Vorgänger und an zahlreichen Altlasten aus Kosslicks 18-jähriger „Ära“, sondern vor allem auch unter der Corona-Pandemie, die zwei von vier Festivalausgaben nur unter stärksten Einschränkungen zuließ. 
 

Das könnte Sie auch interessieren:


Nicht zuletzt aber machen der Berlinale, jenseits aller persönlichen Fehler und der Strukturprobleme eines kulturellen „Riesentankers“, auch die direkten wie indirekten Eingriffe durch die Politik zu schaffen. Der Bund in Gestalt des Staatsministeriums für Kultur (BKM) und das Land Berlin teilen sich die Finanzierung des Festivals. Da der Anteil des Bundes mit gut zwölf Millionen Euro aber weitaus höher liegt als der Berlins, der erst kürzlich auf zwei Millionen vervielfacht wurde, steht hier vor allem das BKM in der Verantwortung. Schon unter Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) nahmen die Vorgaben und Eingriffe von politischer Seite stark zu. Unter der seit 2021 amtierenden Grünen-Politikerin Claudia Roth aber sind diese Eingriffe noch zahlreicher und inhaltlich massiver geworden. 

Während die großen und weltweit bedeutendsten Filmfestivals im südfranzösischen Cannes und im italienischen Venedig weitgehend befreit von direkter politischer Einflussnahme durch die Kulturministerien oder lokale Behörden ihr Programm machen, und die jeweiligen Direktoren nicht direkt von der Politik ernannt, sondern von den Festival­organisationen bestimmt werden, mischt in Berlin das BKM nicht nur kräftig mit, Claudia Roth agiert hier quasi als Hausherrin. Noch weit mehr als ihre Vorgängerin verzichtet die politische Hauptverantwortliche für deutsche Filmpolitik auf Beratung durch Experten und den Austausch mit den verschiedenen Filmverbänden. 

Selbstverständnis von Filmfestivals

Selten wurde das so deutlich wie jetzt bei der Neuordnung der Berlinale. Dort lässt die Staatsministerin selbst elementare Sorgfaltspflichten vermissen. Dabei wäre es das Mindeste gewesen, gerade wenn man eine gute neue Struktur für das Festival schaffen und die bestmögliche Intendanz will, transparent zu agieren. 

Das bedeutet: Es hätte, wie sonst auch bei öffentlichen Leitungspositionen, eine für alle Bewerber offene und öffentliche Ausschreibung der zu besetzenden Intendantenposition geben müssen. Dazu gehört eine klare Stellenbeschreibung, aus der hervorgeht, welche Kriterien Bewerber erfüllen müssen und welche Voraussetzungen der Staatsministerin selbst wichtig sind. Erst dadurch wäre es überhaupt möglich gewesen, die Eignung der Kandidaten und getroffene Entscheidungen öffentlich zu überprüfen.

Erkennbar ist in alldem außer einer gewissen Maßlosigkeit und fehlender persönlicher Zurückhaltung der Staatsministerin auch ein generelles Problem gegenwärtiger Kulturpolitik, das weit über die Berlinale und ihre hausgemachten Schwierigkeiten hinausgeht: Jüngere Entscheidungen, sowohl bei Stellenbesetzungen wie auch in Fragen der Programmgestaltung und eingeladenen Künstler, zeigen, dass es in der Kulturpolitik immer mehr um Fragen der Teilhabe und „Repräsentation“ aller möglichen und möglichst aller gesellschaftlichen Gruppen geht und immer weniger um Qualität oder gar Exzellenz. Damit steht zunehmend der universalistische Kern zur Disposition, der Kulturinstitutionen wie Museen, Theater und Programmkinos ausmacht und der einst auch bei den Gründungsakten internationaler Filmfestivals ausschlaggebend war. 

Ein Projekt der klassischen Moderne

Was ist hiermit gemeint? Historisch gesehen sind Filmfestivals ein Projekt der klassischen Moderne und der Medienrevolution, die mit der Entwicklung des Kinos seit Anfang des 20. Jahrhunderts einherging. Filmfestivals waren aber vor allem auch Ausdruck einer emphatischen Besetzung des öffentlichen Raumes, der Entstehung und des Selbstverständnisses demokratischer Gesellschaften der Nachkriegszeit nach 1945. Wie das 1946 gegründete Filmfestival von Cannes und die ungefähr zeitgleich entstandenen Filmfestivals von Locarno und San Sebastián sollte auch die 1951 gegründete Berlinale ein Ort sein, der niederschwellig das Populäre mit der Avantgarde, die Kunst des Kinos mit der Unterhaltung verbindet und so einen – auch politischen – Bildungs- und Gesellschaftsauftrag erfüllt. 

Jenseits aller Seiteninteressen – wie Filmhandel, Standortpolitik und nationale Filmpräsentation – ging es in erster Linie um Kunst, die nach rein ästhetischen Kriterien von unbestrittener Qualität sein sollte. Damit war die Hoffnung verbunden, gesellschaftliche und politische Spaltung durch kulturelle Verständigung und künstlerischen Fortschritt zu überwinden. Dieses universalistische Konzept ist erkennbar in eine Krise geraten. Mit dem Wandel der Filmkultur und des Kinofilms in den zurückliegenden Jahrzehnten, bedingt durch die Durchsetzung des Internets als Massenmedium und die Digitalisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche, sehen sich Filmfestivals mit zahlreichen neuen Aufgaben und Zwängen konfrontiert.

Sie soll es richten: Die Amerikanerin Tricia Tuttle / Picture Alliance

Identitätspolitik und Kulturalisierung, also die Verlagerung politischer und ökonomischer Konflikte in Fragen von Lebensstil und Weltanschauung auf das Feld von Kunst und Kultur, sind gesellschaftliche Herausforderungen, die insbesondere Filmfestivals in ihrem Selbstverständnis und Auftrag betreffen. Plötzlich sollen Filmfestivals Achtsamkeit und Fairness praktizieren, vermeintlich gesellschaftlichen Notwendigkeiten eher als Maßstäben der Kunst entsprechen – also „nationale Kinematografien“ und „Kulturen“ oder „Regionen“ abbilden, sowie unzähligen anderen Kriterien, bezogen auf Geschlecht, Herkunft, sexuelle und religiöse Orientierungen genügen. 

Die Programmgestaltung und deren kuratorische Maßstäbe müssen sich immer stärker gegenüber identitätspolitischen Kriterien und Diversitätsparadigmen rechtfertigen, aber auch gendersensibel sein. Hinzu kommt die Frage der politischen Positionierung, ob bei der Klimadebatte oder bei einem internationalen Konflikt wie zuletzt den Terrorangriffen auf Israel. Unter diesen veränderten Rahmenbedingungen stellt sich zunehmend die Frage, was vom ursprünglichen Selbstverständnis von Filmfestivals noch geblieben ist und ob und wie sie ihren Auftrag in Zukunft noch erfüllen können.

Heute ist das alles undenkbar

Für die Berlinale gilt das ganz besonders. Das liegt zum einen daran, dass die Berliner Filmfestspiele seit ihren Anfängen ein besonders politisches und politisiertes Festival gewesen sind: zunächst zur Hochzeit des Kalten Krieges das „Schaufenster der freien Welt“, dann mit dem Beginn der Entspannungspolitik ein Treffpunkt der Filmszene beider Blöcke. 

Hier traten ost- und westdeutsche Filme im Wettbewerb gegeneinander an; hier wurden die „Tauwetter“-Filme und „Neuen Wellen“ aus Polen, Ungarn und der CSSR erstmals einem weltweiten Publikum gezeigt; hier liefen die sowjetischen Aufbruchsfilme der Gorbatschow-Ära. Aber auch jenseits von Europa war Berlin einst der beste Ort für Neuentdeckungen: Vor allem das sensationell gute Kino der „Fünften Generation“ der Volksrepublik China wurde mit Filmen wie „Das rote Kornfeld“, der im Februar 1989 den Goldenen Bären gewann, auf der Berlinale geboren. 

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Öffnung Chinas funktionierte dieser politische Schwerpunkt bald nicht mehr, und die Berlinale musste sich eine neue Rolle suchen. In den 1990er Jahren gelang das unter dem Schweizer Langzeitdirektor Moritz de Hadeln noch recht gut: Perfekt vernetzt, hielt er das Programm weniger spezifisch und mit weniger osteuropäischen Schwerpunkten auf Augenhöhe mit der Konkurrenz in Cannes und Venedig. Bekannte internationale Filmemacher wie Woody Allen, Ang Lee, Aki Kaurismäki, aber auch Hollywood-Autoren wie die Coen-Brüder und Quentin Tarantino zeigten ihre Filme damals ganz selbstverständlich auch in Berlin. Publikumsrenner wie „The English Patient“, „Before Sunrise“ oder „Twelve Monkeys“ hatten mit großem Staraufgebot auf dem Roten Teppich der Berlinale Premiere. Heute aber ist das alles undenkbar. 

Nicht mehr konkurrenzfähig

Imagewandel und Abstieg dieses wichtigsten deutschen Filmfestivals kamen ungefähr kurz nach der Jahrtausendwende, und sie sind untrennbar mit dem Namen des De-Hadeln-Nachfolgers Dieter Kosslick und mit dem Umzug der Berlinale zum Potsdamer Platz verbunden. Kosslick blähte das Programm extrem auf, ersetzte Qualität durch Quantität, erweiterte und verbreiterte: Neue Sektionen wurden geschaffen, hinzu kamen zahllose Rahmenveranstaltungen. Das brachte zusätzliche Einnahmen durch neue Partner und mehr Ticketverkäufe. Es machte aber die Wahrnehmung der Berlinale diffus und unübersichtlich. Heute ist die Berlinale ein aufgeblähter Moloch mit beliebigen, austauschbaren Sektionen und einem Wettbewerb, der im internationalen Vergleich schon lange nicht mehr konkurrenzfähig ist. Die großen Namen, nicht nur aus Hollywood, gehen nach Cannes und Venedig, wo auch mehr Glamour herrscht. Der Nachwuchs ist in San Sebastián und Locarno sichtbarer, aber auch in Wien, Turin und Sevilla. Und das Autorenkino der Zukunft wird heute fast nur noch in Cannes entdeckt. 

Nur für Einkäufer ist der Berlinale-Markt, der abgetrennt vom übrigen Festivalbetrieb vor allem im Gropius-Bau stattfindet, noch wirklich wichtig. Hier werden auch Serien gehandelt und Kinotitel, die erst in Cannes oder Venedig Premiere haben. 
Die Berlinale mag heute immer noch, wie Claudia Roth es ausdrückt, „in einer Liga“ mit Cannes und Venedig spielen. Aber im Gegensatz zu diesen Champions-League-Kandidaten spielt sie gegen den Abstieg. 

Und dann ist da der Standort. Der Potsdamer Platz, an den die Berlinale im Jahr 2000 aus den etablierten Standorten rund um den Bahnhof Zoo gezogen war, damals erzwungen vom ersten Kulturstaatsminister Michael Naumann (SPD), mag vor einem Vierteljahrhundert auf manche Besucher wie das glanzvolle Zentrum eines neuen Nach-Mauerfall-Berlins gewirkt haben. Mittlerweile ist es das Symbol postmoderner Stadtplanungsverirrung. Die Ruine schöner Ideen und Pläne und des kulturpolitischen Versagens der Verantwortlichen aller Parteien; ein Ort, der mit seinen Baustellen, Containerstapeln, leer stehenden Cafés, Restaurants und Büros und mit einer trashigen, halb leeren Shoppingmall wie der Prototyp einer urbanen Wüste erscheint. 

Mittendrin der „Berlinale-Palast“, kein richtiges Kino, sondern eine Veranstaltungshalle, die übers Jahr als Musicalpalast mit angeschlossener Spielbank dient. Dazu gab es zwei Multiplexe, auf die 20 Jahre lang in den zwei Festivalwochen im Februar die bis zu 400 Filme verteilt wurden. Einer davon, das Cinestar, hat bereits 2020 dichtgemacht. Und weil die Kulturpolitik seinerzeit versäumt hatte, sich ein Vorkaufsrecht zu sichern, stehen die acht Kinos seit Jahren leer. Angeblich soll der Komplex in ein Parkhaus umgebaut werden. Aber wer will dort schon parken? Und warum sollte man? 

Denn auch das zweite Multiplex, das Cinemaxx, ist ein geschmacklicher Unort mit ungewisser Zukunft. Das „Filmhaus“, einst mit großem Brimborium als „Kunst-Labor“ und Ort der Konzentration eröffnet, ist bereits heute am Ende: In den nächsten zwei Jahren werden dort nach dem Auslaufen der Mietverträge sowohl das künstlerisch anspruchsvolle Arsenal-Kino und das Filmmuseum mit der Deutschen Kinemathek wie auch die traditionsreiche städtische Film- und Fernsehakademie (dffb) ausziehen und über die Stadt verteilte neue (Not-)Standorte belegen. Die Berliner Kulturpolitik hat in Sachen Film kapituliert. 

Viel zu viel Illustration politischer Agenden

Auch sonst zieht die triste Umgebung nicht einmal während der Berlinale in ihren Bann: Restaurants gibt es bis auf ein Steakhaus und zwei trostlose Diner keine mehr. Die meisten Geschäftsflächen stehen leer. Wenn professionelle Festivalgäste ein Treffen vereinbaren wollen, fehlen Orte, zu denen man gehen könnte. Kinos und Partylocations verteilen sich sowieso über die ganze Stadt. Für jede Festivalatmosphäre ist diese Lage ein Todesurteil. 

Wenn dann wenigstens das Programm besser und übersichtlicher wäre. Aber die bislang etwa 300 Filme sind selbst für Filmprofis zu viel. Die Programme in Cannes und Venedig kommen mit je 100 bis 120 Filmen aus – man könnte also zugespitzt sagen, dass die Einladung eines Filmes nach Cannes dreimal so viel wert ist wie die nach Berlin. So oder ähnlich wird es in der Branche denn auch wahrgenommen. Zuletzt gab es sogar Kritik an der Auswahl selbst: Zu viel „kleine“ Durchschnittsware, viel zu viel Illustration politischer Agenden.

Es gibt auf der Berlinale vieles, aber es sieht alles irgendwie gleich aus: Formvergessene, inhaltistische Filme sind die Regel, Werke, die wegen ihrer Handlung oder ihres „Themas“ eingeladen wurden und weil sie das Publikum in seinem festgefügten liberal-demokratisch-kulturbürgerlichen Wertekorsett nicht erschüttern können. Im Gegenteil, eher werden hier konventionelle Weltbilder gefestigt und bestätigt: Arme Menschen sind gut, Reiche sind böse; wir brauchen eine Revolution, aber bitte nicht zu Hause, denn da sind Achtsamkeit und Wellness gefragt, möglichst moralisch sauberes Verhalten und fleischloses Essen. Alles ist vorhersehbar, nichts wirklich überraschend. 

Gescheiterte Doppelspitze: Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian / Imago Images

Filme über Bedürftige aus Indien und Wohlstandsbürger aus Europa sind gefragt, Figuren von Soldaten am besten nur, wenn sie traumatisiert sind oder schwul oder beides. Oder wenn sie für die Ukraine kämpfen. Im letzten Wettbewerbs­programm liefen gleich zwei Filme mit Transpersonen – und beide gewannen prompt Preise. Auch Missbrauchsthemen und behinderten Figuren begegnet man im Berlinale-Wettbewerb unter Garantie. Dagegen wäre gar nichts zu sagen, wären die Filme nur auch ästhetisch überdurchschnittlich gut. Das sind sie aber in der Regel nicht. So müsste es neben diesen auch Filmstile und Kinogeschichten geben, die das ganz Andere zeigen, die überraschen und die Gemütlichkeit und Selbstgewissheit der braven Bürger im Publikum wenigstens für 90 Filmminuten aufrütteln. Sie gibt es nicht. Genrefilme fehlen ebenso. Und Unterhaltungsfilme aus Mexiko oder Ostasien oder Bollywood, wie sie in den 1990er Jahren das Publikum der Mitternachtsvorstellungen aus den Sitzen rissen, hat man auf der Berlinale seit langem schon nicht mehr gesehen. 

Auch die Auswahl der deutschen Filme wird zu Recht kritisiert. Regisseure der Berliner Schule wie Kritikerliebling Christian Petzold oder die sperrige Angela Schanelec scheinen ein Dauer­abonnement in einem Wettbewerb zu haben, der sich offenbar als Reservat für bedrohte Arten missversteht. Während etwa 2023 die besten, überraschendsten deutschen Filme – „Toter Winkel“, „Sonne und Beton“, „Sisi & ich“ und der Oscar-Kandidat „Das Lehrer­zimmer“ – in Nebensektionen unter der internationalen Wahrnehmungsschwelle verpufften. 

Dem Zeitgeist widerstehen

Es gibt also mehr als genug zu tun für die neue Leiterin. Vielleicht zu viel. Die mangelnde Programmqualität ist da das geringste Problem. Tuttle wird Sponsoren gewinnen müssen. Zuletzt waren langjährige Partner abgesprungen. Sie wird den Spagat meistern müssen, bei weniger Filmen und höheren Kosten die Einnahmen zu steigern. Das Gesamtbudget der Berlinale liegt bei 32,3 Millionen Euro. Mehr als die Hälfte muss die Berlinale also aus nichtöffentlichen Quellen erwirtschaften. 

Das dürfte nur gelingen, wenn das Profil der Berlinale wieder schärfer und das Festival wieder attraktiver wird. Dafür wurden schon viele Gelegenheiten verschenkt. Der dafür notwendige, bessere Ort ist im Berlin der Gegenwart kaum zu finden. So erscheint eine Rückkehr zu den Kinos rund um den Zoopalast und ein Festival, das unsichtbar in der Metropole zerstreut sein Dasein fristet, diese Zersplitterung aber als Publikumsnähe verkauft, als die wahrscheinlichste Lösung.

In jedem Fall muss sich die Berlinale dem Kuratel der Politik entziehen und zurückfinden zur reinen ästhetischen Qualität, zu einem Gleichgewicht zwischen Cinephilie und Eventkino. Sie muss Lust und Neugierde wecken. Sie muss lernen, den einfachen Lösungen zu widerstehen und der Versuchung, dem Publikum oder den jeweils amtierenden Kulturstaatsministern nachzulaufen. Stattdessen sollte sie endlich eine eigene politische und vor allem kulturelle Agenda setzen. Die Berlinale muss, mit anderen Worten, lernen, dem Zeitgeist zu widerstehen.

 

 

Die Februar-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

Jetzt Ausgabe kaufen



 


 

Anzeige