Antisemitismus auf der Berlinale - Israel-Bashing und Gaza-Kitsch

Preisträger formulierten auf der Berlinale-Bühne antiisraelische und antisemitische Parolen und trugen das umstrittene Palästinensertuch, das Publikum schwieg dazu oder applaudierte gar. Am Sonntag setzten Postings auf den digitalen Kanälen der Berlinale mit strafbewehrten Inhalten noch einen drauf.

Bei der Abschlussgala im Berlinale Palast: Ben Russell, Jay Jordan, Guillaume Cailleau und Servan Decle (v.l.) / dpa
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Rüdiger Suchsland (Foto privat), Jahrgang 1968, ist Kulturjournalist, Regisseur und Filmkritiker.

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Wieder gewann ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären bei der Berlinale: „Dahomey“ von Mati Diop, einer Französin mit senegalesischen Wurzeln, ist ein so verdienter wie vorhersehbarer Sieger. Verdient, weil dieser Filmessay, der auch fiktionale und magische Elemente hat, damit die vielen Mittel des Kinos einmal wirklich ausreizt. Weil er politisch bemerkenswert und intelligent ist und zudem eine uneindeutige, komplexe Meditation über das Verhältnis zwischen Afrika und Europa darstellt, die beide Seiten infrage stellt und damit vor allem unsere einfachen Gewissheiten über „den Kolonialismus“ zurückweist.

Vorhersehbar war sie auch. Denn zwar ist dieser Film keine Verlegenheitslösung. Aber wie sollte sich die Jury anders elegant aus der Affäre ziehen, bei einem zwar nicht richtig schwachen, aber banalen und absolut nicht filmisch aussagekräftigen Wettbewerb, in dem eigentlich keiner der Spielfilme einen Goldenen Bären verdient hatte?

Für die Berlinale ist dieser Befund allerdings ein Armutszeugnis, das endgültig deutlich macht, was längst alle Festivalspatzen von den Dächern pfeifen: Der Goldene Bär ist immer weniger wert, und die Berlinale spielt längst nicht mehr in einer Liga mit den beiden wirklich erstklassigen Festivals von Cannes und Venedig. Eigentlich würde man jetzt gerne nur über diese Preise und über den nötigen Neustart der Berlinale, ihre Standortprobleme, finanziellen Sorgen und über die Neustrukturierung des Programms sprechen.

Aber das geht nicht, denn die Berlinale-Preisverleihung am Samstag wurde von einigen Preisträgern und Juroren missbraucht für eine eklige Show aus Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit. Der amerikanische Filmemacher Ben Russell warf Israel einen „Genozid“ im Gazastreifen vor. Mehrere Menschen trugen auf der Bühne einen Zettel mit der Aufschrift „Ceasefire Now“. Und der palästinensische Regisseur Basel Adra verlangte von Deutschland, Israel keine Waffen mehr zu liefern.

Als hätte es einen 7. Oktober nie gegeben

Damit hatte die Berlinale ihren neuesten Skandal: Preisträger formulierten auf der Bühne antiisraelische und antisemitische Parolen und trugen das umstrittene Palästinensertuch, das Publikum schwieg dazu oder applaudierte gar. Am Sonntag setzten Postings auf den digitalen Kanälen der Berlinale mit strafbewehrten Inhalten noch einen drauf.

Susan Vahabzadeh, Filmkritikerin der Süddeutschen Zeitung, beklagte „das wirklich erschreckend undifferenzierte Israel-Bashing, das sich durch die Abschlussveranstaltung zog. Nur die Berlinale-Leiterin Mariette Rissenbeek hat am Anfang Empathie ausgedrückt mit den Menschen in Israel. Von da an gab es in den Reden nur noch das Leid in Gaza und Kritik an Israel, als hätte es einen 7. Oktober nie gegeben. ... Da wurden Begriffe wie ,Apartheid‘ und ,Terror‘ und ,Genozid‘ von der Bühne gen Israel geschleudert …“. Noch deutlicher der Kommentar des Berliner Tagesspiegel: „Die Abschluss-Gala hat einmal mehr verdeutlicht, dass der Kulturbetrieb nicht in der Lage ist, auch die Sichtweise Israels einzunehmen und vielleicht sogar etwas Empathie für das Leid der Israelis aufzubringen.“ Die Berlinale zeige, „dass die Kultur ein massives Israel-Problem hat“.

Die Empörung ist allgemein. Der Berliner Filmemacher RP Kahl machte seinem Entsetzen über das Geschehen am Sonntag auf Facebook in großer Klarheit Luft: 

„Warum ist NIEMAND von Euch gestern Abend in der Preisverleihung aufgestanden? Oder hat wenigstens reingerufen oder ein Mini-Gegenstatement oder eine Einordnung gesagt? Nein, ganz im Gegenteil habt Ihr die echt ekligen und vor allem super einseitigen Schlachtrufe, die zum Teil zu Recht als antisemitisch einzuordnen sind, bejubelt und reich beklatscht? Wie Carlo Chatrian und Claudia Roth in der Sache ticken ist mir bekannt, von denen erwarte ich absolut nichts. Aber Ihr anderen, warum gebt Ihr Euch einen neuen Code of conduct der Berlinale, um die fünf AFD-Abgeordneten auszuladen und warum ist eure FB-Timeline voller Kommentare über die fünf AFD-Nasen und deren Menschenfeindlichkeit? Aber gestern Abend gilt die (neue) Moral dann nicht mehr?“

Was ist nur mit dieser Kunstszene los?

Kahls Post ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht die Nachfrage: Wo war irgendeine Reaktion des deutschen Jurymitglieds Christian Petzold? Von anderen Jurymitgliedern? Von der sogenannten Kulturstaatministerin? Alle blieben feige still. Berlinale-Chefin Mariette Rissenbeek sagte zu Beginn der Veranstaltung: „Für Antisemitismus, für Hetze gibt es bei uns keinen Platz.“ Das war gelogen. Die Berlinale ist genau dafür zu einer Bühne geworden.

Der Reigen aus einseitigen antijüdischen und antiisraelischen Aussagen belegte zunächst einmal, dass viele Künstler, die vielleicht sogar gelungene Filme machen, viel weniger sensibel und viel weniger intelligent sind, als man es ihnen gern zuschreibt. Was ist nur mit dieser Kunstszene los?

Am beschämendsten aber war, dass, als abstoßende Parolen fielen und eitle Europäer mit frisch gebügelten Palästinensertüchern und Flugblättern auf der Bühne posierten, niemand aufstand oder buhte oder anders einschritt. Nicht das Publikum. Denn das ist offenkundig zu sensibel für die Kulturtechnik des beherzten Buhrufs zur rechten Zeit. So etwas gilt als „schlechtes Benehmen“. Dabei ist der Verzicht auf Protest nicht Höflichkeit, sondern ein peinlicher Mangel an Zivilcourage. Wer dann noch mitklatscht, sollte sich in Zukunft nicht mehr bei den „Nie wieder“-Demos blicken lassen.

Die bisherige Berlinale-Doppelspitze tat nichts

Auch nicht die Kulturstaatsministerin, die sogar an mancher falschen Stelle applaudierte. Und nicht die anderen Politiker aller Parteien im Saal, die erst am Tag danach ihre Empörung in die digitalen Kanäle bliesen. Die Vertreter aller Parteien waren sich nämlich am nächsten Morgen einig, dass „Schaden für die Berlinale“ eingetreten sei. Der RBB zitierte den CDU-Bürgermeister Kai Wegner: „Hier gibt es keinen Raum für Relativierungen. Ich erwarte hier Maßnahmen der neuen Berlinale-Festivalleitung.“ Sein Kultursenator Joe Chialo (CDU) sieht ebenfalls die Festivalleitung in der Pflicht: „Die Kultur sollte Raum für vielfältige politische Meinungsäußerungen bieten, doch die diesjährige Preisverleihung der Berlinale war geprägt von selbstgerechter antiisraelischer Propaganda.“ Auch die medienpolitische Sprecherin der SPD, Melanie Kühnemann-Grunow, kritisierte die Vorkommnisse auf der Preisverleihung: „Mir fehlte die kritische Sicht auf den 7. Oktober und die Anerkennung, dass dieser Tag für den israelischen Staat traumatisch war.“ Grünen-Politikerin Daniela Billig sprach von einem „emotionalen und moralischen Tiefpunkt“. Die Vorkommnisse seien ein schweres Erbe für die neue Direktorin.

Die bisherige Berlinale-Doppelspitze tat nichts. Zwar tritt sie jetzt ab, aber diesem Abgang verleiht sie durch ihr Schweigen eine Note, die alle vorausgegangenen wohlfeilen Lippenbekenntnisse gegen Hassreden Lügen straft und deren bitterer Nachgeschmack noch lange anhalten wird. Sexismus, Homophobie, Rassismus, Demokratiekritik, Leugnung von Klimawandel und Coronavirus und vieles mehr sind auf der Berlinale und in der sie tragenden Berliner Kulturszene selbstverständlich tabu. Antisemitismus aber lässt man einfach so durchgehen. Mitten in Deutschland!

Dass das Ganze kein Einzelfall ist, sondern System hat, zeigten zwei weitere Berlinale-Vorfälle: Nach einer Vorführung des Films „Through the Graves the Wind is Blowing“ (der mit Palästina nichts zu tun hat) in der Akademie der Künste war eine Fragerunde vorgesehen. Zunächst kam der Regisseur Travis Wilkerson auf die Bühne, dann erteilte er einer Frau das Wort, die erklärte, aus Gaza zu stammen, und die Opfer im Gazastreifen beklagte. Vom Auslöser des israelischen Militäreinsatzes war nicht die Rede, wohl aber von einem „israelischen Völkermord“. Ein Zuschauer, der auf den Hamas-Überfall hinwies, wurde von einem Dutzend Aktivisten niedergeschrien. Die Moderatorin des Festivals griff nicht ein.

Hat die Berlinale ihre Mitarbeiter im Griff?

Weit schlimmer und folgenreicher waren mehrere israelfeindliche Posts auf dem Instagram-Profil des Festivals. Auf Twitter/X kursierten am Sonntag Screenshots vom Konto der Panorama-Sektion der Berlinale. Auf einem Foto war der Slogan „Free Palestine – From the River to the Sea“ zu sehen. Mit dem Satz ist gemeint, es solle ein freies Palästina geben auf einem Gebiet vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer – dort, wo sich jetzt Israel befindet. Ein Spruch, der explizit die Auslöschung Israels fordert. Weitere Posts forderten „Beendet den deutsch-finanzierten Staatsterror“ und „Stoppt den Genozid in Gaza“.

Die Berlinale distanzierte sich von den Beiträgen. „Diese Posts stammen nicht vom Festival und repräsentieren nicht die Haltung der Berlinale“, teilte die Berlinale am Sonntagabend in ihrer Instagram-Story mit. „Wir haben sie sofort gelöscht und eine Untersuchung angestoßen, wie es zu diesem Vorfall kommen konnte.“ Das Filmfestival kündigte an, eine Strafanzeige gegen Unbekannt zu erstatten.

Von „Hacking“ war die Rede. Aber dass der Account gehackt wurde, ist bislang nur eine Behauptung der Berlinale. Möglicherweise einfach nur nachgeholte Schadensabwendung, die bislang unbewiesen ist. Angesichts der Vorgeschichte muss man Belege einfordern – denn was gegen das „Hacken“ spricht, ist zumindest, dass die Berlinale auf den gleichen Account kurz darauf wieder Zugriff hatte. Rein technisch ein ungewöhnlicher, kurioser Vorgang. Viel wahrscheinlicher ist: Die Berlinale-Leitung hat ihre Mitarbeiter nicht im Griff. Und die sind Anhänger der unter Berliner Kulturschaffenden üblichen Palästina-Romantik und verbreiten in unbeobachteten Momenten sogar sehr bewusst ihren Gaza-Kitsch gegen die offizielle Linie der Chefs.

Die Berlinale hat nun ihren Skandal, der ähnliche Langzeitwirkung entfalten könnte wie der der Documenta vor zwei Jahren. Deutschlands größtes Filmfestival muss seine Seele neu finden. Zu behaupten, man sei ein politisches Festival, reicht nicht mehr. Das widerspricht nicht nur den Tatsachen. In Berlin ist diese Behauptung seit Samstag zu einer Drohung geworden.

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