Aufstand im Warschauer Ghetto - Letzter Akt

Vor 80 Jahren begann der vierwöchige Aufstand im Warschauer Ghetto. Welche Lehre können wir aus dem Widerstand der Juden gegen die deutschen Unterdrücker ziehen?

Bewohner des Warschauer Ghettos Anfang 1941 / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Lukas Koperek ist Journalist und lebt in Mannheim und Berlin.

So erreichen Sie Lukas Koperek:

Anzeige

19. April 1943: Es ist ein früher Morgen in der Pessachwoche – der jüdischen Festwoche, die an die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei erinnert. Noch ist der Himmel über Warschau tiefschwarz, doch anders als im alten Ägypten, das vor dem Auszug der Israeliten drei Tage in völliger Finsternis gelegen haben soll, wird hier bald die Dämmerung einsetzen und die Schemen von rund 850 SS-Männern sichtbar machen, die den „jüdischen Wohnbezirk“ – so die Bezeichnung unter Deutschen – im Schutz der Nacht umstellt haben.

Eine drei Meter hohe, 18 Kilometer lange Mauer umgibt das Warschauer Ghetto. Innerhalb ihrer Grenzen leben zu diesem Zeitpunkt nur noch etwa 60.000 Menschen – kaum ein Siebtel der 450.000 Einwohner, die 1941, zur Hochzeit des Ghettos, gegen ihren Willen hier festgehalten wurden, die meisten von ihnen Juden. Circa 100.000 sind Krankheiten wie Fleckfieber und Tuberkulose zum Opfer gefallen, dem Hunger (tägliche Essensrationen haben oft nicht einmal 200 Kalorien) oder der Gewalt der deutschen Besatzer, die mit der angeblichen „Seuchenmauer“ keine Seuche eingedämmt, sondern ihren idealen Brutkasten erst geschaffen haben. Das sind nur die Bewohner, die vor dem 22. Juli 1942 starben – jenem Tag, an dem die Nationalsozialisten mit der Auflösung des Ghettos begannen. Bis zum Jahresende wurden weitere 290.000 Männer, Frauen und Kinder deportiert, in erster Linie in das Vernichtungslager Treblinka.

Unerwartete Gegenwehr

Und nun steht alle 20 bis 30 Meter entlang der Außenmauer des Ghettos ein Beamter der deutschen Ordnungspolizei. Maschinengewehrschützen haben auf umliegenden Dächern und Balkonen Posten bezogen und halten die leergefegten Straßen im Visier. Die Waffen-SS macht sich bereit zum Einmarsch. Es ist der erste Zugriffsversuch seit fast drei Monaten. Wenn es nach den Deutschen gegangen wäre, hätte die Auflösung des Ghettos schon lange abgeschlossen sein sollen. Doch die Deportationen mussten im Januar zum Erliegen kommen. Im Ghetto hatte sich, entgegen jeder Erwartung, Widerstand geregt.

Bereits seit der Kapitulation Warschaus vor den deutschen Besatzern am 28. September 1939 agierten verschiedene jüdische Organisationen und Parteien, die vor allem den Zionisten und den politischen Linken zuzuordnen waren, im Untergrund. Als ein Jahr später das Warschauer Ghetto errichtet wurde, setzten die oppositionellen Gruppen ihre Arbeit innerhalb der Schutzmauern fort, ab März 1942 auch als Teil der überparteilichen Antifaschistischen Front. Doch mit dem Beginn der sogenannten „Großen Aktion“, der Deportationen durch die Nazis, im Juli 1942 verloren die Gruppen zusehends ihre Mitglieder. Als im Oktober die vollständige Auflösung des Ghettos absehbar wurde, gründeten die übrig gebliebenen Widerstandsgruppen die „Żydowska Organizacja Bojowa“ (deutsch: Jüdische Kampforganisation), kurz: ŻOB.

Sofortiger Angriff

Mordechaj Anielewicz / Wikimedia Commons

Es waren die ŻOB und ihre Verbündeten – unter dem Kommando des gerade einmal 24-jährigen Mordechaj Anielewicz –, die die Deutschen am 18. Januar 1943 in einem viertägigen Gefecht dazu zwangen, die Deportationen vorläufig einzustellen. Und sie sind es auch, die die 850 SS-Männer, als diese an besagtem 19. April um 6 Uhr morgens schließlich in das Ghetto einmarschieren, von versteckten Posten an beiden Hauptstraßen augenblicklich unter Beschuss nehmen.

Seit dem letzten Zugriffsversuch der Deutschen im Januar haben sich die Ghettobewohner auf diesen Tag vorbereitet; ihnen war bewusst, dass der Deportationsstopp nur vorübergehend war. Viele von ihnen haben sich Waffen auf dem Schwarzmarkt gekauft und sich den Aufständischen angeschlossen. Andere haben Schutzräume gebaut und die Wohnhäuser durch Tunnel verbunden, durch die sich die Kämpfer schnell und ungehindert bewegen können. Für die überrumpelten SS-Kolonnen bieten sie kaum ein Ziel. Die Aufständischen werfen Brandsätze und Handgranaten und treiben ihre Gegner auseinander. Als schließlich ein deutscher Panzer in Flammen aufgeht, sehen sich die SS-Männer gezwungen, aus dem Ghetto abzuziehen.

Der Aufstand dauert vier Wochen

Nicht einmal eine Stunde dauert dieses erste Gefecht des größten bewaffneten Widerstandes europäischer Juden gegen die Nationalsozialisten, der als Aufstand im Warschauer Ghetto in die Geschichtsbücher eingehen wird. Als die Deutschen unter dem Kommando von SS-Gruppenführer Jürgen Stroop um 8 Uhr den zweiten Vorstoß wagen, entbrennt ein Kampf, der über zwölf Stunden währt, bevor sie sich erneut aus dem Ghetto zurückziehen müssen.

Nur etwa 1500 Kämpfer stehen auf der Seite des Ghettos. Vielen von ihnen sterben schon an diesem ersten Tag. Und dennoch gelingt es den Deutschen erst nach vier Wochen, den Aufstand niederzuschlagen. Am 8. Mai kommen Mordechaj Anielewicz, seine Lebensgefährtin und Mitkämpferin Mira Fuchrer sowie fast der gesamte ŻOB-Stab bei einem Angriff auf ihren Bunker in der Miła-Straße 18 ums Leben; nur wenige Kämpfer, unter ihnen auch der „Bundist“ Marek Edelmann, überleben die Gefechte und können durch die Kanalisation aus dem Ghetto fliehen. Acht Tage nach dem Tod von Anielewicz erklärt Jürgen Stroop die militärische Bekämpfung der Aufständischen für beendet. Am Abend des 8. Mai 1943 lässt er die Große Synagoge im Warschauer Stadtviertel Śródmieście sprengen.

Ein Symbol für den Widerstand

Zweifellos sollte die Zerstörung des größten jüdischen Gotteshauses der Stadt vor allem symbolische Wirkung zeigen, gab es doch niemanden mehr, der es mit Leben hätte füllen können. „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschaus besteht nicht mehr“, telegrafierte Stroop an seinen Vorgesetzten, den SS-Obergruppenführer Friedrich-Wilhelm Krüger. Fast eine halbe Million Menschen waren von hier aus in den Tod gegangen, die letzten 60.000 entweder bei den Kämpfen getötet oder nach Treblinka deportiert worden. Die Sprengung der Großen Synagoge stellte Stroops Versuch dar, aus der Geschichte vom Aufstand im Warschauer Ghetto eine „unvergessliche Allegorie des Triumphes über das Judentum“ zu machen, wie er noch Jahre später, in Kriegsgefangenschaft, selbst sagte.

Doch die Aktion missglückte. Dennoch ist heute, 80 Jahre später, einmal mehr an den Mut der Widerstandskämpfer zu erinnern, die, obwohl sie in der Unterzahl und schlecht bewaffnet waren, über vier Wochen lang den Zugriff der Unterdrücker verhindern und hunderte von ihnen töten konnten.

„Dass einige der Kämpfer überlebt haben und die Geschichte erzählen konnten, hat dazu beigetragen, dass der Aufstand nach dem Krieg zu einem großen Symbol für den jüdischen Widerstand wurde“, sagt Andrea Löw, stellvertretene Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. „Dadurch war die Geschichte vom Aufstand im Warschauer Ghetto immer auch ein Gegennarrativ zu der Erzählung von den passiven Juden, die wie die Schafe zur Schlachtbank gegangen sind.“

Willy Brandt kniete vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal

Die Überlieferung durch Marek Edelmann und die wenigen anderen Überlebenden hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der Aufstand auch in der direkten Nachkriegszeit in der breiten Öffentlichkeit rezipiert wurde. „Tatsächlich gab es in über 50 Ghettos bewaffneten Widerstand“, so Andrea Löw, „allerdings niemals so große Aktionen.“ Und auch wenn Edelmann später immer wieder klargestellt hat, dass es ihm nicht um die Stilisierung der Kämpfer zu Helden ging, sondern darum, die Geschichte zu dokumentieren, blieb der Widerstand der Ghettobewohner als Heldentat in Erinnerung. Schon 1946 wurde am Ort des Ghettos ein Denkmal für die Kämpfer aus Warschau errichtet; 1948 folgte das große „Denkmal für die Helden des Ghettos“ – eine elf Meter hohe steinerne Stele mit einer bronzenen Skulpturengruppe in der Mitte, die als zentrale Figur Mordechaj Anielewicz zeigt. Das Ehrenmal ging im Jahr 1970 weltweit durch die Medien, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt bei seinem Besuch Polens am 7. Dezember vor dem Monument auf die Knie sank.

Der Kampf war aussichts-, doch nicht hoffnungslos

Doch der Aufstand im Warschauer Ghetto ist mehr als ein Symbol für den Widerstand der Juden gegen die Unterdrückung. Das Heldentum von Anielewicz und seinen Gefolgsleuten liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass ihr Kampf nie mit der Hoffnung auf Sieg oder Befreiung einherging. „Nur wenige werden aushalten“, schrieb der 24-jährige ŻOB-Kommandeur kurz vor seinem Tod an seinen Mitstreiter Jitzhak Zuckermann. „Die übrigen werden früher oder später vernichtet. Ihr Schicksal steht schon fest.“ Den Aufständischen war klar, dass sie den Kampf nicht gewinnen werden. Ihre Aktion war aussichts-, aber dennoch nicht hoffnungslos. Die Hoffnung bestand darin, ihrem Leben in der wenigen verbleibenden Zeit noch einen Sinn zu geben. Sie entschlossen sich zum Kampf und wurden damit mehr als die Opfer deutscher Verbrechen. Durch diesen letzten Akt wirken sie hoffnungsspendend noch über ihren Tod hinaus.

Ihr Entschluss stellt uns, die wir uns erinnern, vor eine Frage: Wie wollen wir unsere restliche Lebenszeit verbringen? Obwohl unsere komfortable Lebenssituation als Bürger einer europäischen Demokratie kaum mit jener der Warschauer Ghettobewohner vergleichbar ist, kann ihr Handeln uns doch inspirieren. Auch unser Leben ist endlich. Und auch wir sollten uns fragen, wie wir anderen Mut und Hoffnung spenden und unserem kurzen Dasein auf Erden einen Sinn geben können – selbst über unseren Tod hinaus.

Anzeige