Antikriegsfilm bei den Oscars - Vom Verrecken im Schlamm

Die Romanverfilmung von „Im Westen nichts Neues“ ist für neun Oscars nominiert. Doch würde man diesen Film, gedreht im Jahr 2021 größtenteils in Tschechien, heute noch so in Auftrag geben? Zweifel sind erlaubt. Das Sterben an der Front, es ist wieder sinnvoll geworden.

Im Krieg wird alles null und nichtig: Szenenfoto aus „Im Westen nichts Neues“ / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Er ist sicher der berühmteste Antikriegsroman der Weltliteratur: Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Erschienen im Januar 1929 im Berliner Ullstein-Verlag, war das Buch ein bis dahin singulärer Erfolg. Im Oktober 1930 schrieb die Pariser Nouvelles littéraires, Remarque sei „heute der Autor mit der größten Leserschaft der Welt“. 

Begleitet von einer Werbekampagne, die das deutsche Verlagswesen bis dahin noch nicht gesehen hatte, wurden innerhalb der ersten fünf Wochen 200.000 Exemplare verkauft, bis Anfang Mai 640.000. Eine englische Ausgabe erschien im März, eine französische im Juni. Insgesamt wurde das Werk noch im Jahr 1929 in 26 Sprachen übersetzt. Für seine Produktion hatte Ullstein sechs Druckereien und zehn Buchbindereien verpflichtet. Nach einem Jahr hatte man in Deutschland fast eine Million Exemplare abgesetzt, in England, Frankreich und den USA noch einmal so viele. 

Der Erfolg von im „Im Westen nichts Neues“ macht Remarque reich. Vor den Nazis flieht er an den Lago Maggiore. Er lebt das Leben eines Bonvivants: Kunstsammlung, viel Alkohol, prominente Geliebte. Er hat Affären mit Marlene Dietrich und Greta Garbo. Schließlich heiratet er Paulette Goddard, die Ex-Frau von Charlie Chaplin. 

Würde man diesen Film heute noch so in Auftrag geben?

Schon 1930 wurde „Im Westen nichts Neues“ in den USA von Lewis Milestone verfilmt. Es entstand ein ikonisches Meisterwerk der Filmgeschichte, das ein ganz neues, eindringliches, dokumentarisches Sehen ermöglichte. Das hatte auch damit zu tun, dass Milestone im Krieg in der Foto-Abteilung der US-Army tätig war. 1979 folgte dann die Verfilmung von Delbert Mann, der Remarques Roman für das Fernsehen adaptierte, keine schlechte Verfilmung, aber bei weitem nicht von dem Gewicht der Bilder Milestones. 

Im letzten Jahr erschien nun die dritte Verfilmung von „Im Westen nichts Neues“ unter der Regie von Edward Berger. Ein heikles Unterfangen. Zumal es sich um eine deutsche Produktion handelt, von Netflix in Auftrag gegeben. Unendlich viel hätte schief gehen können. Ist es aber nicht, im Gegenteil. Berger ist das Unwahrscheinliche gelungen: eine Verfilmung von Remarques Roman, der moderne Filmtechnik nicht nutzt, um modern auszusehen, sondern eine Bildsprache zu finden, die geradezu klassisch ist und zugleich den modernen Zuschauer mit Wucht packt. Bergers Verfilmung wird von nun an gleichberechtigt neben der von Milestone stehen. 

Das Zerfetztwerden von Granaten

Würde man diesen Film, gedreht 2021 größtenteils in Tschechien, heute noch so in Auftrag geben? Zweifel sind erlaubt. Denn das Sterben an der Front, es ist wieder sinnvoll geworden. Das Verrecken im Schlamm, das Zerfetztwerden von Granaten: Man heißt es wieder gut. Schließlich geht es ja um die gerechte Sache. Klirrende Kriegsrhetorik ist wieder salonfähig. Der Twitter-Moralismus hat den dünnen Firnis der Zivilisation hinweggefegt, die zwei Weltkriege über den dumpfsten aller Triebe gelegt hatten. Die alten Lügen, die die belgische Historikerin Anne Morelli in ihrem wichtigen Buch „Die Prinzipien der Kriegspropaganda“ herausgearbeitet hat, sie verfangen wieder in neuem Gewand. 
 

Mehr aus der „Grauzone“:


Wie diese Propaganda funktioniert, das zeigt der Film von Edward Berger eindrücklich. Man schaue sich nur die Rede des Klassenlehrers der Hauptfiguren zu Beginn des Films an und tausche sein Vokabular durch zeitgemäßes aus, ersetze „Vaterland“ durch „westliche Werte“ oder was sonst so gerade en vogue ist.   

Es gibt keinen größeren Wertevernichter als den Krieg

Berger entwirft großartige, erschreckende Bilder. Dabei vermeidet er das Dilemma vieler Antikriegsfilme: den Krieg, das Leid letztlich doch zu ästhetisieren. Bergers Bilder hingegen sind gerade in ihrer Brillanz fürchterlich. Nie geht von ihnen eine Faszination aus, die den Krieg letztlich irgendwie doch als Abenteuer erscheinen lassen. Bergers Bilder zeigen einfach das Grauen des Schlachtfelds, in den Gräben, auf den Gesichtern. 

Was Berger – und schon Remarque – ebenfalls zeigen: Im Krieg wird alles null und nichtig. Erziehung, Bildung, Werte, im Schützengraben wird das alles pulverisiert. Wenn nur noch das nackte Überleben zählt, hat nichts mehr Bedeutung. Einen Krieg für Werte zu führen, ist eine contradictio in adiecto: Es gibt keinen größeren Wertevernichter als den Krieg. Das kann man auch nicht dadurch ändern, dass man Befehle mit Gendersternchen versieht und an Panzer Regenbogenfahnen hängt. 

Der ganz große Triumph

Gegenüber Remarque hat Berger ein wichtiges Szenario eingefügt. Es zeigt die Aushandlung des Waffenstillstands zwischen Deutschland und Frankreich. Daniel Brühl spielt dabei den (1921 ermordeten) Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Und Erzberger hat ein einfaches, aber entscheidendes Anliegen: Täglich sterben an der Front zehntausende Männer. Jeder Friede, egal wie er aussieht, ist besser als dieses Schlachten. Doch den anderen Diplomaten geht es nicht um Menschen, sondern um Staaten, um Regierungen, um deren Interessen. Und natürlich um Werte. 

Selten hat ein Film während seiner Entstehung eine solche Aktualität und Relevanz erfahren. Berger und seinem Team ist ein großartiges Werk gelungen, künstlerisch und filmisch überzeugend, dabei ergreifend und schonungslos, ohne jemals (wie etwa Remarque) ins Kitschige abzugleiten. Bei den morgigen 95. Academy Awards ist „Im Westen nichts Neues“ für neun Oscars nominiert. Allein das ist einzigartig in der deutschen Filmgeschichte. Den ganz großen Triumph, Bergers Meisterwerk hätte ihn mehr als verdient. 

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