Vergleichbare Prüfungen in ganz Deutschland - Der steinige Weg zum Zentralabitur

Seit Jahren fordern Eltern und Bildungsexperten eine einheitliche Abiturprüfung in ganz Deutschland. Die von der Kultusministerkonferenz jüngst beschlossenen Maßnahmen zur Angleichung der Abiturregeln bleiben halbherzig, solange die Leistungsanforderungen im Unterricht nicht vereinheitlicht werden.

Schriftliche Abiturprüfungen an einem Gymnasium in Mecklenburg-Vorpommern / picture alliance
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Autoreninfo

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Wenn eine Familie vom hessischen Hanau ins 30 Kilometer entfernte bayerische Aschaffenburg zieht, droht ihrer Tochter Ungemach. Das höhere Leistungsniveau an den dortigen Schulen könnte bedeuten, dass sie eine Klasse wiederholen muss. Zieht eine Familie vom rheinland-pfälzischen Speyer ins nahe Heidelberg, das in Baden-Württemberg liegt, muss sich ihr Sohn, wenn er kurz vor dem Abitur steht, auf eine schwerere Prüfung gefasst machen. Solche Unterschiede sind der Grund, weshalb 80 Prozent der Deutschen eine Angleichung der Schulsysteme, vor allem ein bundesweites Zentralabitur, fordern (Umfrage von 2019). 

Das Abitur ist der Deutschen liebstes Zertifikat. Auch Familien ausländischer Herkunft schätzen dieses Qualitätssiegel. An der Zahl der Abiturienten pro Jahrgang kann man die Beliebtheit des Abiturs ablesen. Die Quote der Studienberechtigten ist in Deutschland von 39,2 Prozent im Jahr 2003 auf 53 Prozent im Jahr 2015 angestiegen. Bis 2019 ging sie dann wieder leicht auf 50,6 Prozent zurück. Das Abitur kann an Gymnasien, Oberschulen, Fachoberschulen und auf dem Zweiten Bildungsweg erworben werden. Allerdings ist das Abitur nicht in jedem Bundesland gleich viel wert. Dafür sind die Bedingungen, unter denen es erworben wird, zu unterschiedlich. Vor allem das Anforderungsniveau im Unterricht der gymnasialen Oberstufe ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich ausgeprägt

Handlungszwang durch ein Gerichtsurteil

2017 urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, dass das Zulassungsverfahren zum Studiengang Humanmedizin in Teilen verfassungswidrig sei. Gegen eine Abiturbestenquote bei der Zulassung gebe es grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Gericht stufte aber das Abitur als schwer vergleichbares Kriterium ein, da es zwischen den Ländern große Unterschiede gebe. Die Politik leitete daraus zu Recht den Auftrag ab, das Abitur bundesweit vergleichbarer zu machen. 

Noch im selben Jahr wurde ein Aufgabenpool für die schriftlichen Abiturprüfungen in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik geschaffen, aus dem sich die Bundesländer bedienen können. 2025 sollen die Fächer Biologie, Chemie und Physik folgen. Bildungsexperten sehen in diesen Pool-Aufgaben einen wichtigen Schritt hin zum vergleichbaren Abitur. Lehrer, die regelmäßig Abiturprüfungen abnehmen, haben allerdings ihre Zweifel. Da die Nutzung der Pool-Aufgaben freiwillig ist, machen nicht alle Länder davon Gebrauch. Es ist außerdem erlaubt, die Aufgaben zu ändern, sie also auch zu erleichtern, was Ländern mit einer eher bescheiden ausgeprägten Leistungskultur am Herzen liegt. 

In der Öffentlichkeit wurde die Weigerung einiger Länder, sich der Pool-Aufgaben zu bedienen, als politisch motivierte Verweigerungshaltung kritisiert. Wenn man Einblick in die Entscheidungsfindung der Schulverwaltungen hat, ist deren Zurückhaltung nicht verwunderlich. Die zuständigen Fachberater wählen nur solche Aufgaben aus, von denen sie sicher sein können, dass die Schüler ihres Landes die Aufgaben meistern können. Wenn der Unterricht der gymnasialen Oberstufe auf eine bestimmte Pool-Aufgabe nicht ausreichend vorbereitet, wäre es fahrlässig, diese Aufgabe auszuwählen. Die Schüler können ja nichts für die Lehrplanversäumnisse der Bildungsbehörden.   

Shitstorm gegen Pool-Aufgabe in Mathematik

2019 hatten sich acht Bundesländer aus dem gemeinsamen Aufgabenpool im Fach Mathematik bedient. Für die Schüler einiger Länder waren die Aufgaben offensichtlich zu schwer. Massive Proteste der Abiturienten und ihrer Eltern im Internet waren die Folge. Der Protest dämpfte die Bereitschaft der Schulbehörden, sich aus dem Aufgaben-Pool zu bedienen. Einen vergleichbaren Shitstorm wegen einer vermeintlich zu schweren Abituraufgaben will sich kein Kultusminister einhandeln. Dass einige der Pool-Aufgaben für manche Bundesländer zu schwer sind, liegt daran, dass das Anforderungsniveau im Oberstufenunterricht von Land zu Land sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. 

 

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Ich habe meinen Berliner Abiturienten im Fach Deutsch übungshalber die Abituraufgaben aus Bayern vorgelegt. Sie wären mit den fachlichen Grundlagen, die der Unterricht in Berlin vermittelt, nicht lösbar gewesen. Auch die bayerischen Geschichtsaufgaben hätten sie nur mit Mühe bewältigen können. Solange das Anforderungsniveau von Land zu Land so stark differiert, wird es keine gleichen Abituraufgaben geben können. Die Berufung auf die bundesweit einheitlichen Bildungsstandards, die nach 2004 eingeführt wurden, ist Augenwischerei, weil unter dem Label dieses schwammigen Begriffes anspruchsvolle und eher leichte Aufgaben gleichermaßen durchgehen können. 

Leistungsanforderungen in der Oberstufe vereinheitlichen

Wenn man eine größere Vergleichbarkeit der Abiturien in Deutschland anstrebt, muss man sich vor allem um die 70 Prozent der Gesamtwertung kümmern, die vor der Abiturprüfung im laufenden Oberstufenunterricht erbracht werden. Hier sind die Unterschiede einschneidender als bei den Prüfungen selbst. Wenn man wissen will, wie kreativ Bildungsminister sind, wenn es gilt, ihren Landeskindern günstigere Abiturregeln zu gewähren, als sie in den anspruchsvollen Ländern üblich sind, muss man das Kleingedruckte der Oberstufenverordnungen lesen. 

In einigen Ländern darf man sich, um ein Semester zu bestehen, in Pflichtfächern nur zwei Leistungsausfälle leisten, in anderen Ländern sind drei gestattet – eine erhebliche „Ermäßigung“. Manchmal muss man alle Kurse – ob gut oder schlecht benotet – in die Abiturbewertung einbringen, manchmal darf man schlecht benotete Kurse streichen. Entscheidend ist auch, welches Fächer-Menü ein Abiturient für die Prüfung auswählen darf. Wenn es erlaubt ist, „schwere“ Fächer wie Mathematik, Physik und Chemie abzuwählen oder nur für einen begrenzten Zeitraum zu belegen, genießt man eine deutliche Erleichterung. Entscheidend ist auch, wie viele Kurse man in die Abiturwertung einbringen muss. Hier schwankt die Zahl zwischen 32 Kursen (Berlin) und 40 Kursen (Sachsen). Selbst die Zahl der Abiturfächer ist nicht gleich, da sich manche Länder mit vier Prüfungsfächern statt fünf begnügen. 

Die Kultusminister werden diese Gestaltungsspielräume mit Zähnen und Klauen verteidigen, weil sie ihnen ermöglichen, das Abitur zu erleichtern, ohne dass es – anders als bei den Pool-Aufgaben – von der Öffentlichkeit bemerkt wird. Vor allem Kultusminister, denen das Paradigma der sozialen Gerechtigkeit am Herzen liegt, werden alles tun, um eine Erschwerung des Abiturs durch Angleichung der Regularien zu verhindern. 

Neuer Anlauf zur Vereinheitlichung des Abiturs

Im März 2023 unternahm die Kultusministerkonferenz einen erneuten Versuch, den Wildwuchs in den Abiturbestimmungen der Länder zu beschneiden. Sie gab bekannt, dass sich alle Länder auf wichtige Maßnahmen zur Vereinheitlichung der Abiturprüfung geeinigt hätten. So werde die Zahl der Leistungskurse künftig auf maximal drei statt vier beschränkt. Verpflichtende Leistungskursfächer (und deshalb auch Prüfungsfächer) sind künftig alternativ Deutsch, Mathematik, eine Fremdsprache und eine Naturwissenschaft. Leichte Fächerkombinationen, von Lehrern sarkastisch Aldi-Abitur genannt, wird es künftig also nicht mehr geben. 

Bedeutsam ist die Vereinheitlichung der Zahl der verpflichtenden Halbjahreskurse auf 40, von denen 36 in die Abiturwertung eingebracht werden müssen. Diese Angleichung ist wichtig, weil die Zensuren in diesen Kursen einen Großteil der Abiturnote ausmachen. Wie man sieht, beziehen sich alle Vereinheitlichungsmaßnahmen auf Formalien. Die Qualität des Oberstufenunterrichts kam bei den Verhandlungen der Länder nicht zur Sprache. Dabei gibt es dort die größten Unterschiede zwischen den Bundesländern. 

Wundersame Intelligenzvermehrung während der Coronapandemie 

Die beiden Corona-Jahre 2020 und 2021 haben die Kluft bei den Abiturleistungen zwischen den Bundesländern weiter vergrößert. Dazu kam ein erstaunliches Phänomen: Die Abiturnoten verbesserten sich auf breiter Front. So erzielte der Abiturjahrgang 2020/2021 in ganz Deutschland einen besseren Notendurchschnitt als der Jahrgang 2019/2020. Gleichzeitig ist der Anteil der Schüler mit einer Eins vor dem Komma deutlich gestiegen, in Niedersachsen, Hamburg, Thüringen und Bayern um acht Prozent, in Berlin sogar um zehn Prozent. Sind die Schüler während der Pandemie schlauer geworden? Natürlich nicht. 

Einer Trierer Studie zufolge ist der Intelligenzquotient von Schülern der Jahrgangsstufen 7 bis 9 während der Corona-Pandemie sogar um sieben IQ-Punkte gesunken. Die langen Lockdowns und Schwächen beim digitalen Fernunterricht werden dafür verantwortlich gemacht. Man kann getrost davon ausgehen, dass sich der IQ-Schwund auch bei Schülern der gymnasialen Oberstufe bemerkbar machte. 

Die guten Abiturnoten kamen allein dadurch zustande, dass die Kultusminister die Abituranforderungen als Ausgleich für den während der Lockdowns ausgefallenen Präsenzunterricht teilweise deutlich abgesenkt hatten. Bildungsexperten sprechen von einem „Abitur light“ und von einer „Noteninflation“. Sie befürchten, dass die Erleichterungen nicht mehr zurückzunehmen sind. Sie werden von Eltern und Schülern als pädagogische Besitzstände verteidigt werden – notfalls mit digitalen Protestformen, vor denen Politiker allemal einknicken. 

Diskrepanz zwischen Studienberechtigung und Studierfähigkeit

Das Abitur gewährleistet formal die Studienberechtigung. Wer die allgemeine Reifeprüfung abgelegt hat, darf alle Fächer studieren, Studenten mit Fachabitur nur eine eingeschränkte Fächerzahl. In stark nachgefragten Fächern wie Medizin, Zahnmedizin und Psychologie muss allerdings ein Numerus Clausus erfüllt werden. Die meisten Abiturienten beginnen – oft nach einem Jahr der Selbstfindung durch Reisen oder den Bundesfreiwilligendienst – ein Studium.  

Seit Jahren brechen dann aber in den Bachelor-Studiengängen rund 30 Prozent der Studenten ihr Studium wieder ab. Als Grund geben die Studenten, neben der zu starken Belastung durch einen Job, vor allem an, dass sie sich in ihrem Fach leistungsmäßig überfordert gefühlt hätten. Zudem seien sie nicht in der Lage gewesen, wissenschaftliche Arbeiten zu verfassen. Das ist verwunderlich, weil inzwischen alle Fachbereiche Brückenkurse anbieten, in denen Studenten in die Methoden wissenschaftlichen Arbeitens eingeführt werden. 

Die hohe Zahl an Studienabbrechern ist ein schlagender Beweis für die Diskrepanz zwischen attestierter Studienberechtigung und mangelnder Studierfähigkeit. Die Schule bereitet die Abiturienten offensichtlich nicht mehr hinreichend auf die Anforderungen im Studium vor. Die hohen Abbrecherzahlen sind eine Verschwendung von Ressourcen, die volkswirtschaftlich eigentlich nicht hinnehmbar ist. 

Aufnahmeprüfungen der Universitäten als Lösung

Die Vereinheitlichungsmaßnahmen der KMK werden nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn sie verbindlich regeln, dass ab 2025 alle Abituraufgaben aus dem zentralen Aufgaben-Pool entnommen werden müssen. Ausnahmen oder die Möglichkeit der Bearbeitung der zentralen Aufgaben darf es dann nicht mehr geben. Wenn die Länder diese Verpflichtung ernst nehmen, müssen sie den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe an die anspruchsvollen Abiturprüfungen, die die Folge sein werden, anpassen. Sollten die Länder weiterhin Schlupflöcher finden, um ihre mäßige Leistungskultur zu „retten“, sehe ich nur einen gangbaren Weg, um zu einer Vereinheitlichung der Abituranforderungen zu kommen. Die Universitäten müssten Aufnahmeprüfungen einführen, in denen sie die fachlichen Kompetenzen der Bewerber überprüfen. 

Das hätte gravierende Rückwirkungen auf den Unterricht an den Gymnasien und Oberschulen. Kein Bundesland könnte es sich länger leisten, ein Abitur anzubieten, das nicht durch entsprechende Leistungen „gedeckt“ ist. Der bewährte Begriff der Wissenschaftspropädeutik – Hinführung zu wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweisen – hielte dann wieder Einzug in die gymnasiale Unterrichtskultur. 

Wenn Abiturienten aus einem Bundesland, das die Leistungsanforderungen heruntergeschraubt hat, bei den universitären Aufnahmeprüfungen auffallend häufig versagen, wäre das für die verantwortlichen Schulpolitiker der Super-GAU. Sie müssten sich dem Vorwurf aussetzen, ihren Landeskindern durch eine schlechte schulische Ausbildung den Weg ins Studium verbaut zu haben. Der Wettbewerb um die Studienplätze würde dann, anders als es der gemeinsame Aufgaben-Pool vermag, zu einem annähernd gleichen Anforderungsniveau im Oberstufenunterricht und in der Abiturprüfung sorgen. Dann wäre quasi durch die Hintertür das einheitliche Abitur in ganz Deutschland erreicht. 

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