Kritik am Digital Services Act - Die Meinungsfreiheit stirbt hinter schönen Fassaden

Am Samstag tritt der Digital Services Act in Kraft. Er wird dafür sorgen, dass betreutes Denken um sich greift. Das ist nicht das einzige verfassungsrechtliche Bedenken gegen die EU-Verordnung und das noch zu beschließende deutsche Ausführungsgesetz.

Fernrohr auf dem Eiffelturm in Paris / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Manfred Kölsch war ca. 40 Jahre Richter, zuletzt als Vorsitzender Richter am Landgericht Trier. Seit seiner Pensionierung ist er als Rechtsanwalt tätig. 
 

So erreichen Sie Manfred Kölsch:

Anzeige

Der am 17. Februar in Kraft tretende Digital Services Act (DSA) wird durch das Digitale-Dienst-Gesetz (DDG) in deutsches Recht umgesetzt. Die erste Lesung hat am 18. Januar 2024 stattgefunden. Danach wurde der Entwurf zum DDG an den zuständigen Ausschuss verwiesen. Termine für die 2. und 3. Lesung wird man dort nach den Ausschussberatungen ansetzen.  

Artikel 1 des Digital Services Act bestimmt, Meinungs- und Informationsfreiheit müssten, trotz der vorzunehmenden Regulierung, entsprechend der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ geschützt werden. Die Europäische Kommission bestimmt selbst, dass deshalb ausschließlich rechtswidrige Einträge gelöscht werden dürften. Einträge, die nur schädlich seien, dürften keiner Pflicht zur Entfernung unterliegen, weil das schwerwiegende Auswirkungen auf den Schutz der Meinungsfreiheit hätte.

Dieses Bekenntnis zum Schutz von Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta, Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und letztlich auch Artikel 5 des Grundgesetzes ist aber nur Fassade. Dahinter wird die Axt an fundamentale Grundsätze unseres demokratischen Gemeinwesens gelegt. Nach Artikel 34 des DSA haben die Plattformen nicht nur rechtswidrige Einträge zu löschen. Sie sollen bei der Überprüfung der Einträge auf deren Löschungsbedürftigkeit ihr besonderes Augenmerk auf „kritische“ und auf „nachteilige“ Einträge legen. 

Die sogenannten Erwägungsgründe zum DSA verdeutlichen das demokratiefeindliche Anliegen der Kommission. Nach Nr. 5 sind nicht nur rechtswidrige, sondern auch „anderweitig schädliche Informationen“ zu löschen. Nach Nr. 84 sollen sich die Plattformbetreiber auch auf nicht rechtswidrige Informationen konzentrieren. Sie sollen verhindern, dass „irreführende und täuschende Inhalte, einschließlich Desinformationen“ verbreitet werden. Der Begriff Desinformation ist in dem DSA indes nirgends definiert. Die Kommission hat in dem Begriff im Jahre 2018 „nachweislich falsche und irreführende Informationen“ gesehen. 

Die demokratische Auseinandersetzung wird verkümmern

Ist das schon Zensur? Auf jeden Fall bleibt der Bürger orientierungslos zurück, wenn er seine Mitteilungen an dem ausrichten soll, was in den aktuellen politischen Meinungskorridor passt. Er wird deshalb das von dem DSA gelegte Minenfeld nicht betreten, um immanente soziale Nachteile für sich zu vermeiden. Das Lebenselement freiheitlicher Grundordnung – die ständige geistige und demokratische Auseinandersetzung auch mit gegenteiligen Meinungen (BVerfGE 7,198; 20,162, Rz. 36; 86,122,Rz. 19) – wird verkümmern. Betreutes Denken wird um sich greifen.

Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass eine gesetzliche Ermächtigung an die Exekutive nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt ist. Nur dadurch wird Handeln der Ermächtigten messbar und in erträglichem Ausmaß für den Bürger voraussehbar und berechenbar. (BVerfGE 56,1, Rz. 12)
 

Mehr zum Thema:


Selbst wenn man dem Gesetzgeber bei der Wahl der Weite der Begriffe ein Ermessen einräumt, sind die in dem DSA verwendeten Begriffe, – ist ein Eintrag „irreführend“ oder „nachteilig“ für die „gesellschaftliche Debatte“, auf „Wahlprozesse“, die „öffentliche Sicherheit“ oder die „öffentliche Gesundheit“ – derart vage Generalklauseln, dass sie als indirekter Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit zu werten sind. Der Nutzer wird sich hierbei stets als ein möglicher Störer/Gefährder der „öffentlichen Debatte“ und der „öffentlichen Sicherheit“ begreifen. 

Die Annahme liegt nahe, dass der Einsatz dieser Unschärfemethode nicht von Ungefähr kommt, befördert sie doch beim Bürger die Furcht, in Verdacht geraten zu können. Methodisch wird ein Klima des gegenseitigen Misstrauens erzeugt. Die geführten „Debatten“ degenerieren dadurch zu Scheindebatten im vorgegebenen Meinungskanal. Das Lebenselement einer freiheitlichen Grundordnung – die ständige geistige Auseinandersetzung gegensätzlicher Meinungen – wird auf diese Art zusätzlich eingeschränkt.

Risiken präventiver Informationskontrolle

Die Selbstkontrolle großer Plattformen und Suchmaschinen sowie die Überwachungspflichten derjenigen, die das europaweit zu installierende Überwachungsnetz tragen, sind präventiv angelegt. „Voraussichtliche“, „absehbare“ und „vorhersehbare“ Umstände sollen nach der „Wahrscheinlichkeit“ ihrer Auswirkungen auf die „öffentliche Sicherheit“, „gesellschaftliche Debatte“ und „öffentliche Gesundheit“ bewertet werden:

„In einer demokratischen Gesellschaft werden solche vorbeugenden Maßnahmen grundsätzlich abgelehnt, weil sie durch die Einschränkung bestimmter Informationen schon vor deren Verbreitung jede öffentliche Debatte über den Inhalt verhindern und damit die Meinungsfreiheit ihrer eigentlichen Funktion als Motor des Pluralismus berauben. (Schlussanträge Generalanwalt beim EuGH Saugmandsgaard Oe. RsC-401/19, ECLI:EU:C:2021:613 Rz. 102f.)

Präventive Maßnahmen zur Informationskontrolle können aber nur dann im Rahmen der erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung zugelassen werden, wenn eminente konkrete Verdachtsmomente vorliegen für die schwere Gefährdung eines hochrangigen Rechtsguts. (Peukert, KritV 03/2022, Rz. 42 m.w.N.). Diese Voraussetzung für die Zulassung präventiver Informationskontrolle, die eine Ausnahme rechtfertigen könnte, liegt bei dem DSA auch nicht ansatzweise vor.

Im Zweifel für die Löschung

Die großen Plattformen und Suchmaschinen werden zum sogenannten Overblocking neigen. Schon die verwendeten Generalklauseln setzen ihnen keine inhaltlichen Grenzen beim Umgang mit Eintragungen. Es ist auch nicht allein der von außen durch die Teilnehmer des installierten Überwachungssystems ausgeübte Kontrolldruck, der zu unhaltbaren Löschungen beiträgt. Die Betreiber der Plattformen und Suchmaschinen werden aus eigenem wirtschaftlichem Interesse im Zweifel eine Eintragung löschen, bevor sie dazu eine „Anregung“ von den Teilnehmern des Kontrollnetzes erreicht. Es drohen ihnen Sanktionen, die nach Artikel 52 Absatz 2 DSA „wirksam“ und „abschreckend“ sein müssen. Das sind sie in der Tat, drohen ihnen doch „bei Nichteinhaltung einer im DSA festgelegten Verpflichtung“ (nach Auffassung der Kontrolleure) Geldbußen in Höhe von bis zu 6 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes im vorangegangenen Geschäftsjahr. (Art. 53 Abs. 3 DSA)

Durch die von einigen Plattformen schon zu 90 Prozent verwendeten und von dem DSA forcierten automatischen Inhaltserkennungstechnologien werden nicht nur die Zahl der Löschungen zunehmen, sondern auch die Fehlentscheidungen. Zurzeit sind die automatisierten Moderationswerkzeuge weder in der Lage, die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Verhaltens vorauszusagen, noch die verwendeten Generalklauseln durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung mit verfassungsgemäßem Inhalt zu füllen. Durchsetzung und Überwachung des DSA erfordert einen „nahtlosen Informationsaustausch in Echtzeit“, wie es in Erwägungsgrund Nr. 148 heißt. Das Überwachungssystem muss sicher funktionieren zwischen der Kommission, den Koordinatoren und dem Gremium. (Art. 85 DSA)  

Die Kontrolle wird zentralisiert

Die hier installierte Aufsicht digitaler Medien widerspricht Artikel 30 GG, wonach die Medienaufsicht Sache der Bundesländer ist. Nunmehr wird es radikal anders. Nach §12 DDG-Entwurf soll der Präsident der Bundesnetzagentur der nach § 49 Abs. 1 DSA zu installierende Koordinator werden. Eine Behörde, die dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr zugeordnet ist. Die Verlagerung der Überwachung der vom DSA betroffenen digitalen Medien von der Länder- auf die Bundesebene wird noch weiter zentralisiert, weil die EU-Kommission letztlich das Kontrollsystem an sich gezogen hat. 

Der nationale Koordinator ist gegenüber der europäischen Kommission weisungsgebunden. (Art. 66 Abs. 3; 67, Abs. 5 und 6; 82 Abs. 1 DSA). Nicht nur das. Die Kommission kann nach Artikel 66 DSA und Nr. 138 der Erwägungsgründe „auf eigene Initiative“ ohne Einschaltung des Koordinators jederzeit tätig werden, steht nach ihrer Meinung ein Anbieter „in Verdacht, gegen Bestimmungen dieser Verordnung verstoßen zu haben“. Im sogenannten „Krisenfall“ – das Vorliegen der dazu erforderlichen Voraussetzungen bestimmt die Kommission selbst – verschafft sie sich weitergehende Eingriffsrechte, ohne dass der nationale Koordinator dies verhindern kann (Art. 36 DSA). Die föderal aufgebaute Medienkontrolle ist ausgehöhlt.

Die Komplexität der Materie

Die Kommission lässt also mit Unterstützung der Mitgliedsstaaten zivilgesellschaftliche Hinweisgeber (und Plattformbetreiber) Eingriffe in die Meinungs- und Informationsfreiheit durchführen, die, falls der Staat sie selbst unmittelbar durchführen würde, verfassungswidrig wären. Das Überwachungsnetz wird durch „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ vervollständigt, die der Koordinator aussucht. Sie gelten als „vertrauenswürdig“, wenn sie sich schon in der Vergangenheit (zur Zeit des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes) durch Erkennung und Meldung von Inhalten bewährt haben. Der Staat verlagert Handlungen auf Dritte (Plattformbetreiber, Europäische Kommission und zivilgesellschaftliche Hinweisgeber), die, wenn er sie selber ausführen würde, eindeutig verfassungswidrig wären. Direkt beteiligt ist er nur durch die Finanzierung zivilgesellschaftlicher Hinweisgeber.

Die Brisanz des DSA ist für den Bürger wegen dessen Umfang und der Komplexität der Materie nicht unmittelbar erkennbar. Die Gefahr für demokratische Grundrechte verwirklicht sich nur schleichend und ist professionell hinter einer rechtsstaatlichen Fassade versteckt. Hinter dieser Fassade wird jedoch wissentlich das von Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta, Artikel 10 der Europäischen Menschrechtskonvention und Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ausgehöhlt.                                                                                                                                                                                                                                           
 

Anzeige