Wissenschaftler und Politik diskutieren über die Schuldenbremse - Ökonomisch unvernünftig, aber gut!

Intensiv wird in Deutschland derzeit über die Abschaffung der Schuldenbremse diskutiert, um Geld für dringend erforderliche Investitionen zu mobilisieren. In Wahrheit ist das nichts anderes als die Flucht vor politischer Verantwortung.

Bundesfinanzminister Christian Lindner / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Seit das Bundesverfassungsgericht den Bundeshaushalt 2021 für verfassungswidrig erklärte, herrscht Geldpanik in Berlin. Dutzende Milliarden Euro müssen nun auf anderem Wege aufgetrieben werden, damit zentrale politische Projekte der Ampel nicht wie Luftballons zerplatzen. Während sich Finanzminister Christian Lindner (FDP) noch weigert, die Schuldenbremse des Grundgesetzes aufzuweichen, trommeln SPD und Grüne schon längst dafür, die Schleusen auf Dauer zu öffnen.

Auch Wissenschaftler fordern neue Schuldenregel

Immer mehr Unterstützung erhalten sie dabei auch aus der Wissenschaft. Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum zum Beispiel fordert eine Rückkehr zur „Goldenen Regel“, also zum Zustand des Grundgesetzes vor seiner Reform. Damals konnte sich der Staat in jedem Jahr in dem Umfang verschulden, wie er auch Investitionen tätigte. Da Investitionen irgendwann Erträge in Form von Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen einbrächten, könnten so der Schuldenstand konstant gehalten und problemlos zusätzliche Zinsen bedient werden. Soweit die Theorie.

Die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, macht aber auf eine bedeutende Kleinigkeit aufmerksam. Ganz so gülden war nämlich nicht einmal die Goldene Regel. Zu einem den Schulden entsprechenden Vermögensaufbau kommt es nur dann, wenn mit den zusätzlichen Schulden allein Nettoinvestitionen finanziert werden, wenn es also verboten ist, mit ihnen bloße Ersatzinvestitionen zu tätigen. Aber genau das sah die Goldene Regel gar nicht vor. Mit ihr wurden im Grunde allein Ersatzinvestitionen finanziert. Es stiegen also die Schulden, ohne dass sich das Vermögen vermehrte.

Darauf macht seit geraumer Zeit auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aufmerksam. Dessen Chef, Marcel Fratzscher, wirbt trotzdem schon seit Jahren für eine lockerere Fiskal- und Verschuldungspolitik. In Deutschland werde seit zwei Jahrzehnten zu wenig investiert, der staatliche Vermögensbestand schrumpfe kontinuierlich. Daher brauche es endlich eine „intelligente, flexible Schuldenbremse“, also eine Verfassungsreform, um mehr „gute Schulden“ machen zu können.

Schuldenbremse ist keine Investitionsbremse

Dabei lässt sich die These, die Schuldenbremse sei eine Investitionsbremse, empirisch gar nicht belegen. Die Daten zeigen umgekehrt, dass nicht Geldmangel niedrige Investitionen verursacht, sondern falsche politische Prioritätensetzung.

Die Steuerquote, also der Anteil der Steuern an der Wirtschaftsleistung, ist seit der Wende um mehr als 10 Prozent gestiegen, der Anteil der staatlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt aber um fast 20 Prozent gesunken. Nicht ein Mangel an Geld ist also das eigentliche Problem, sondern dessen steigende konsumtive Verwendung insbesondere für den Bereich sozialer Leistungen.

Und seit dem Beschluss über die Schuldenbremse im Jahr 2009 wird es besser und nicht schlechter. Während die staatliche Investitionsquote zwischen 1991 und 2008 fast durchweg sank, steigt sie seitdem wieder deutlich und kontinuierlich an. Allein zwischen 2008 und 2022 um fast 25 Prozent. Die historisch außerordentlich hohen Neuschulden von rund 170 Mrd. Euro in den Jahren 2021 und 2022 übertrafen dabei nicht nur die getätigten Bruttoinvestitionen deutlich, sondern hatten auch keinen positiven Einfluss auf das staatliche Investitionsniveau.

Die heroischen Annahmen der Ökonomen

Dabei ist es grundsätzlich korrekt, dass zusätzliche Schulden, wenn sie in produktive Investitionen gelenkt werden, nicht nur zu höheren Vermögensbeständen führen können, sondern auch zu mehr Wirtschaftswachstum und höheren Steuereinnahmen. Aber was ökonomisch betrachtet einleuchtend ist, kann politisch trotzdem irrelevant sein. Ökonomen sind zwar häufig theoretisch im Recht, man sollte praktisch aber trotzdem nicht immer auf sie hören. Die Gründe hierfür sind keine Raketenwissenschaft.

Eine Verschuldungsregel, die jährlich zusätzliche Schulden in Höhe der staatlich getätigten Nettoinvestitionen ermöglicht, könnte nur dann auf Dauer die prophezeiten Wirkungen erzielen, wenn mindestens vier heroische Annahmen erfüllt wären:

1. Alle getroffenen Investitionsentscheidungen müssten „fehlerfrei“, also unter Absehung von sekundären Entscheidungsmotiven zustande kommen. Nur so ließe sich mindestens jenes Wirtschaftswachstum generieren, das nötig wäre, um den Schuldenstand auf lange Frist konstant zu halten und durch zusätzliche Steuereinnahmen steigende Zinslasten refinanzieren zu können. 

2. Um das zu erreichen, müsste die Mehrheit des Bundestages sowie der Entscheider in den Ministerien allerdings aus Volkswirten bestehen.

3. Diese Volkswirte müssten sich außerdem darüber einig sein, was genau sie eigentlich unter „Investitionen“ verstehen - und dürften sich außerdem nicht allzu oft darüber irren, welche Investitionen in der Zukunft welche Erträge abwerfen.

4. Und die Volkswirte müssten außerdem auch noch Betriebswirte sein, genauer: Controller. Es bräuchte ein engmaschiges parlamentarisches Kontrollsystem, das die Regierung minutiös überwacht um abzusichern, dass die aufgenommenen Schulden erfolgreich für die verabredeten rentierlichen Projekte eingesetzt werden.

Man müsste also aus Politikern letztlich erfolgreiche Unternehmer machen, aus Politik letztlich Wirtschaft. Aber ökonomische Modelle funktionieren nur in der ökonomischen Theorie gut und geraten in größte Schwierigkeiten, sobald sie auf die demokratische Wirklichkeit stoßen.

Die Wirklichkeit der Abgeordneten

Die Logiken, auf die sich ökonomische Regeln stützen, sind nicht die Gründe, aus denen Politiker Entscheidungen treffen. Den meisten geht es nicht um die Mehrung des Kapitalstocks, nicht um die Erzeugung eines langfristigen Gemeinwohls, sondern um die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederwahl - und zwar alle vier oder fünf Jahre.

In der Praxis führt schon das dazu, dass nicht jede einzelne politische Maßnahme für sich bewertet und beschlossen wird, sondern zwischen den Parteien und Abgeordneten zuverlässig „Pakete“ verhandelt werden. Und die Logik dahinter folgt nicht dem Aschenputtel-Prinzip - „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.“ -, sondern dem schlechten, alten „do ut des“. Über findige Händel ohne jeglichen Sachzusammenhang haben nach dem Prinzip des gegenseitigen Geschäftemachens noch immer die unsinnigsten Projekte der Weltgeschichte ihren Weg in die politische Wirklichkeit gefunden.

 

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Hinzu treten weltanschauliche Differenzen. Wenn Politiker über „Investitionen“ sprechen, meinen sie häufig nicht Stahl, Beton, Maschinen und den Straßenbelag. Sie meinen nicht, dass man heute (auch) auf Konsum verzichten muss, um auf Dauer höhere Erträge erwirtschaften zu können.

Der Investitionsbegriff ist vielmehr längst zu einer butterweichen ideologischen Vokabel verkommen, mit der die weltanschaulichen Lager ihre eigentlichen politischen Interessen hinter einer wolkigen Fortschrittsformel verbergen. Was am Ende eine „Investition“ ist, ist auch eine Frage des persönlichen Geschmacks. Das ist selbst bei Wirtschaftswissenschaftlern nicht anders.

Der Wirtschaftswissenschaftler und Berater des Bundesfinanzministers, Lars Feld, hält von der Aufweichung der Schuldenbremse schon deshalb nichts. Hinter dem Wort „Investition“ verberge sich in der Praxis häufig eine Irreführung der Öffentlichkeit: Im Klima- und Transformationsfonds (KTF) der Ampel zum Beispiel gebe es nur ein einziges echtes Investitionsprojekt, den Ausbau der Bahnschienen-Infrastruktur. Bei allen anderen als „Investitionen“ deklarierten Zusatzausgaben handele es sich in Wahrheit bloß um „staatliche Subventionen“, also um den Ausgleich nicht vorhandener Wettbewerbsfähigkeit.

Nicht einmal das 100 Mrd. schwere Sondervermögen der Bundeswehr erfüllt dabei das Kriterium einer volkswirtschaftlich rentierlichen Investition. Im besten Falle werden Gerät und Waffen davon gekauft. Eine langfristige Erhöhung der Produktivität des nationalen Kapitalstocks resultiert daraus nicht. Inzwischen nutzt die Ampel das Sondervermögen aber sogar, um mit Schulden laufende Kosten der Bundeswehr zu finanzieren und den Kernhaushalt zu entlasten. Das ist nichts anderes als eine finanzpolitische Todsünde.

It’s the concept, stupid!

Um den Investitionsbegriff beliebig ausdeuten zu können, kommt SPD, Grünen und Linken Marcel Fratzscher wie gerufen. Erst jüngst hatte der Chef des DIW sogar für mehr Bildung eine höhere Verschuldung ins Spiel gebracht. Und er hat ja im Grunde auch recht. Kluge Bürger sind in einer Wettbewerbsökonomie von Vorteil und nicht ganz so kluge von ziemlichem Nachteil.

Und trotzdem ist auch die poetische Umetikettierung von Bildungsausgaben zu Investitionen eine Irreführung und vor allem ein Einfallstor für allerlei politischen Schindluder. Zwischen die Bereitstellung von mehr Geld für Bildung und der ertragreichen Wirkung schieben sich nicht nur 10 bis 20 Jahre, sondern vor allem gute oder schlechte Konzepte.

Man kann im Bildungssektor problemlos allerhand Geld versenken, ohne auch nur ein My an zusätzlicher Bildung oder einen einzigen Cent an höheren Steuereinnahmen zu erzeugen. Längst hat in den realistisch aufgestellten Bildungswissenschaften die Einsicht Einzug gehalten, dass mehr Geld eben nicht automatisch mehr Bildung und mehr Reichtum produziert. It’s the concept, stupid!

Man stelle sich nur ein milliardenschweres genderpolitisches Umbauprojekt von Toiletten an Deutschlands Schulen vor. Oder ein groß angelegtes Lehrerfortbilungsprogramm in Sachen Intersektionalität. Nicht einmal der findigste Investitionstheoretiker wird begründen können, warum das Schüler klüger machen und später höhere Steuereinnahmen generieren soll. Über die Frage, wofür mehr Geld für Bildung konkret ausgegeben wird, entscheiden aber nun einmal nicht die Volkswirte.

Es hilft daher auch gar nichts, wenn Katrin Göring-Eckardt (B´90/Die Grünen) im Geleitzug Fratzschers mehr Schulden für ein Schulsanierungsprogramm in Höhe von 40 Mrd. Euro fordert. Durch das Dämmen der Außenwände oder das Auswechseln von Fenstern und Heizungssystemen könnte man zwar vielleicht die Betriebskosten senken und so im besten Falle Zins und Tilgung bedienen. Aber besser in Mathe oder Deutsch werden die Schüler auch dadurch nicht.

Politik ohne Haftung

Schließlich scheitert eine in der Sache eigentlich klügere Schuldenregel als die Schuldenbremse an einem letzten entscheidenden Punkt. Ihre gemeinwohlstärkende Anwendung erfordert im Grunde stets unternehmerisch denkende Abgeordnete. Nur: Abgeordnete sind schon deshalb keine Unternehmer, weil sie nicht ihr eigenes Kapital, sondern fremdes Geld verwalten und für Fehlentscheidungen nicht persönlich haften müssen.

Hinzu kommt, dass ihre Wiederwahl nicht vom langfristigen, sondern vom kurzfristigen Nutzen vor der Wahl abhängt. Da sich das Erinnerungsvermögen des Wählers als eine bedauerlich fluide Substanz erweist, wäre eine gelockerte Verschuldungsregel eine regelrechte Einladung an die Politik, es rechtzeitig vor jeder Wahl richtig krachen zu lassen und Geschenke zu verteilen. Die möglichen negativen Konsequenzen eines solchen Vorgehens schlagen erst viele Jahre später zu Buche. Der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung verliert sich für den gewöhnlichen Wähler im Zweifel im historischen Nirvana.

Man müsste den vier der bisher genannten heroischen, weil völlig unrealistischen Annahmen also noch eine fünfte beigesellen, damit eine flexiblere Schuldenregel langfristig nicht in einem Desaster endete. Das Parlament müsste nicht nur mehrheitlich aus Volkswirten bestehen, sondern diese müssten wie Minister und Staatssekretäre mit ihrem privaten Vermögen für investive Fehlentscheidungen persönlich haften. Ohne einen solchen Mechanismus dürften selbst Wirtschaftswissenschaftler - zwischen ihren professionellen Perspektiven und persönlichen Interessen als Wahlkreisabgeordnete hin- und her gerissen - auf Dauer auf die schiefe Bahn geraten.

Eine selbst angelegte Zwangsjacke

Im Grunde ist es ohnehin völlig paradox, dass sich Deutschland die restriktive Schuldenbremse im Jahre 2009 überhaupt zugemutet hat. Offiziell begründet wurde das stets mit der Weltfinanzkrise 2007-2009. Nur: Zwischen Ursache und angeblicher Wirkung gab es keinen wirklichen Zusammenhang.

Die Weltfinanzkrise wurde nicht durch die deutsche Fiskal- und Verschuldungspolitik ausgelöst, sondern in erster Linie durch private Kapitalmarktakteure. Dass das möglich war, lag nicht an den deutschen Staatsschulden, sondern an der internationalen Deregulierung der Kapitalmärkte seit den 1980er Jahren. Deren konsequente Reregulierung wäre also die richtige Antwort auf die Krise gewesen - und nicht, dass sich die deutsche Politik selbst an die Verschuldungsleine legt.

Die Tatsache, dass die Abgeordneten sich damals ein Medikament verordneten, das mit der Erkrankung im Grunde nichts zu tun hatte, belegt vor allem eines: wie wenig ökonomischer Sachverstand in Deutschlands Parlamenten praktiziert wird. Der politische Betrieb funktioniert einfach nicht nach den Regeln simpler ökonomischer Modelle.

Man muss allerdings direkt dankbar dafür sein, dass sich die Damen und Herren Abgeordneten haben seinerzeit austricksen lassen. Nur deshalb steht die Politik heute vor dem Zwang, das zu tun, wofür sie eigentlich gewählt wurde: Prioritäten zu setzen, politische Entscheidungen zu treffen und dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Es ist im Grunde also so, als hätte der schizophrene Patient einer Psychiatrie in einem seiner hellen Momente darum gebeten, in die Zwangsjacke gesteckt zu werden, weil er wusste, wozu er fähig ist, sobald er wieder in einen bedenklichen Bewusstseinszustand kippt. Er sollte sich die Zwangsjacke daher besser nicht ohne Not wieder ausziehen.

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