Wahlrechtsreform und Fünf-Prozent-Hürde - Das Wahlrecht in den Händen von Kartellparteien

Die Fünf-Prozent-Hürde ist mit dem demokratischen Gleichheits- und Repräsentationsprinzip von Wahlen bereits schwer vereinbar. Die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition stärkt die Macht einzelner Parteien nun weiter. Auf Kosten des Konkurrenzkampfes.

Dunkle Wolken ziehen über dem Reichstagsgebäude in Berlin auf / picture alliance
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Prof. Dr. Elmar Wiesendahl ist Politikwissenschaftler und Parteienforscher.

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Wahlrechtsfragen sind Machtfragen. Wie Wahlen durchzuführen sind und Parteien der Einzug in die Parlamente gelingt, wird festgeschrieben. Hierdurch erzielen die Wähler Vorteile und erleiden Nachteile. Und auch die zur Wahl stehenden Parteien unterliegen der Ungleichbehandlung. Nachvollziehbar ist deshalb die Empörung, mit der die Linke und die CSU gegenüber der Wahlrechtsreform der Ampelkoalition vom 17. März 2023 reagiert haben. Beide wollen in Karlsruhe klagen. Wurde doch durch die Reform im Handstreich die Grundmandatsklausel beseitigt, welche Parteien mit drei Direktmandaten bislang ermöglichte, die Fünf-Prozent-Klausel zum Einzug in den Bundestag zu umgehen.

Unmittelbar betroffen ist hiervon die Linke, die bei der letzten Bundestagswahl 2021 nur mithilfe von drei Direktmandaten die Sperrklausel überwinden konnte. Die CSU in Bayern verfügt zwar generell über ein Übermaß an gewonnenen Direktmandaten. Indes kam sie bundesweit nur auf 5,2 Prozent Zweitstimmenanteil, was bei einem weiteren Absacken auf einen Rausschmiss aus dem Bundestag hinauslaufen könnte.

Insiderparteien bauen im Parlament Hürden auf

Scheiterten beide Parteien an der blanken Fünf-Prozent-Klausel, käme es zur parlamentarischen Machtkonzentration der Ampel-Parteien plus CDU, die sich einer Konkurrenz von links und von rechts entledigt hätten. Berührt wäre hiervon die Essenz der Parteiendemokratie. Schließlich geht es um die Ausschaltung von Konkurrenz durch davon profitierende Insiderparteien.

Parteiendemokratie lebt von der freien, ungehinderten Konkurrenz. Über sie bringen Parteien ihre Sprachrohr- und Repräsentationsfunktion gegenüber der Vielfalt gesellschaftlicher Interessen zum Ausdruck. In Wahlen tragen Parteien einen Konkurrenzkampf um Wählerstimmen aus, der sie in die Parlamente bringt. Hier setzt sich der friedliche Machtkampf fort und entscheidet über die Bildung und Ablösung von Parteiregierungen. Ihre Zusammensetzung entscheidet über die politische Kursausrichtung.

Im Zeitalter der Kartellparteien

Wie jedoch die Sperrklausel verdeutlicht, gleicht das Kräftemessen unter den Parteien längst nicht dem Ideal der freien und ausgewogenen Konkurrenz. Realiter bauen die über die Machtressourcen verfügenden Insiderparteien im Parlament Hürden auf, die nicht genehme Konkurrenz oder Newcomer in ihrer elektoralen Schlagkraft und parlamentarischen Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen.

Für die internationale Parteienforschung bildet diese Aushebelung von Konkurrenz einen allgemeinen Trend, der in ein Zeitalter von Kartellparteien geführt hat. Deutschland zählt dabei nach einhelliger Überzeugung zu einem Land, in dem sich prototypisch ein Kartellparteiensystem etabliert hat. Kartelle fußen zumeist auf vertraulichen Vereinbarungen zwischen Parteispitzen mit dem Ziel, sich sie einseitig begünstigende Wohltaten zu verschaffen oder Barrieren zu errichten, die weitere Parteien vom Genuss der Privilegien ausschließen. Kartelle zur Parteien- und Abgeordnetenfinanzierung zählen zur ersteren Kategorie. Sperrklauseln zielen dagegen auf die Ausgrenzung von Konkurrenz.

Der Clou von Kartellbildungen zwischen Parteien ist, dass es nicht um das Muster Regierungs- gegen Oppositionslager geht. Sondern Regierungs- und Oppositionsparteien machen durchaus gemeinsame Sache zur Selbstbegünstigung wie etwa bei der Parteien- und Abgeordnetenfinanzierung. Auch ziehen sie gemeinsam Barrieren auf, um nicht genehme Mitbewerber bzw. Newcomer-Parteien von der parlamentarischen Arena fernzuhalten.
 

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Nun ist ein Parteienparlament in seiner Zusammensetzung so demokratisch, wie es über die in ihm vertretenen Parteien die Gruppen- und Interessenvielfalt der pluralistischen Gesellschaft widerspiegelt. Wer indes nicht zur parlamentarischen Arena vorzudringen vermag, ist mit seinem Interessenvertretungsprofil von der Entscheidungs- und Regierungsbildung ausgeschlossen. Was die Ampelkoalition mit der Abschaffung der Grundmandatsklausel in dieser Hinsicht unternommen hat, fällt unter eine Kartellbildungsoperation, die ihrer Machtsicherung und -vermehrung dient, indem die parlamentarische Fortexistenz von Konkurrenzparteien untergraben wird. Das Interessenvertretungsspektrum des Bundestags würde hierdurch einschneidend verengt.

Durch das Wahlrecht den Aufstieg von Outsider-Parteien zu unterbinden, stand immer schon im Mittelpunkt von Kartellbildungen. Hierbei wirken Sperrklauseln wie Einlassbarrieren, die eine Flut an Wählerstimmen erforderlich machen, um Zugang in die parlamentarische Entscheidungsarena zu finden. Wird, wie nach der Abschaffung der Drei-Direktmandats-Regelung, die Fünf-Prozent-Klausel zum alleinigen Eintrittsbillett ins Parlament, bildet sie den Wohl-oder-Wehe-Scheidepunkt, der über Inklusion und Exklusion von Parteien entscheidet.

Geschichte der Sperrklauseln bei Bundestagswahlen

Die Geschichte von Sperrklauseln bei Bundestagswahlen ist eine Geschichte der systematischen Anhebung der Ausgrenzungsbarrieren, um unliebsame Parteien vom parlamentarischen Machtgefüge fernzuhalten bzw. herauszuexpedieren. Konrad Adenauer tat sich hierbei, die Zügel mehrmals anziehend, besonders hervor. Die SPD als Teil des parlamentarischen Parteienkartells stellte sich dem nicht in den Weg.

Als 1949 auf Drängen von Adenauer erstmalig eine Fünf-Prozent-Klausel auf Bundesländerebene eingeführt wurde, war indes die Hürde noch locker zu überwinden. Infolgedessen gelangten zehn Parteien, darin CDU, CSU, SPD und FDP eingeschlossen, in den Bundestag. Die Hälfte reichte nicht mit ihrem Zweitstimmenanteil an die fünf Prozent auf Bundesebene heran. Auf Betreiben der Adenauer-CDU wurde deshalb für 1953 eine nun bundesweit zu überwindende Fünf-Prozent-Klausel eingeführt und erstmalig durch die Grundmandatsklausel mit einem Direktmandat ergänzt. Hierdurch kam es zum erwünschten Ausschlusseffekt, sodass nur noch der Deutschen Partei (DP) und der Zentrumspartei mithilfe von Direktmandaten der Einzug in den Bundestag glückte.

Für 1957 wurde die Grundmandatsklausel auf drei Direktmandate erhöht. Nun überwand letztmalig allein die DP die Hürde, indem die CDU in ausgewählten Wahlkreisen auf die Aufstellung von Direktkandidaten verzichtete. 1961 mündete die Aussperrstrategie in dem Volksparteien-Oligopol aus CDU/CSU und SPD, denen die FDP als parlamentarische Mehrheitsbeschafferin diente. Dieses Duopol mit „Zünglein an der Waage“ hatte über eine 20-jährige hyperstabile Hochphase Bestand, ehe es 1983 von den Grünen mit 5,6 Prozent Zweitstimmenanteil aufgebrochen werden konnte. Kritisch wurde es allein 1969, als die damalige NPD mit 4,3 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Klausel scheiterte.

Sonderregelung für die gesamtdeutschen Einheitswahlen

Für die gesamtdeutschen Einheitswahlen 1990 wurde eine Sonderregelung eingeführt, indem bei der Sperrwirkung der Fünf-Prozent-Klausel zwischen einem westdeutschen und einem ostdeutschen Wahlgebiet unterschieden wurde. Hierdurch gelangte die PDS als Nachfolgepartei der SED erstmalig in den Bundestag. Auch die mit dem ostdeutschen Bündnis 90 fusionierten westdeutschen Grünen profitierten von dieser Regelung. Mit ihrer westdeutschen Wählerstärke kompensierten sie ihre ostdeutsche Wählerschwäche und zogen so in den gesamtdeutschen Bundestag ein.

Bei den nachfolgenden Bundestagswahlen eroberte die PDS jeweils vier Direktmandate, die ihr weiterhin den Zutritt zum Bundestag ermöglichten. 2002 ging dies schief, weil sie mit nur noch zwei Direktmandaten die Sperrklausel nicht mehr umgehen konnte. Der Zusammenschluss der PDS mit der WASG zur Linken schob deren Wähleranteil auch im Westen nach oben, was ihr ab 2009 über die Fünf-Prozent-Hürde verhalf. Hinwiederum einem elektoralen Abwärtssog ausgesetzt, mussten bei der jüngsten Bundestagswahl 2021 erneut drei Direktmandate für die Linke herhalten, um nicht mit 4,9 Zweitstimmenanteil an der Sperrklausel zu scheitern.

Gleicheitsprinzip wird mit Füßen getreten

Am Erfolg und Misserfolg der PDS/Die Linke lässt sich ablesen, wie sehr die Grundmandatsklausel mit drei Direktmandaten Parteien eine Chance einräumt, um den Sperreffekt der Fünf-Prozent-Klausel zu überwinden. Unzählige Kleinparteien, ob als Neugründung oder als Dauerkonkurrenz, schafften dies nicht und sind in der gleichen Zeit auf dem Friedhof der ausgesperrten Mitbewerber gelandet. Ihr Schicksal ist Folge von Kartellabsprachen mit zweierlei Stoßrichtung.

Einmal durch Sperrhürden in Gestalt von Sperrklauseln oder Erwerb von Direktmandaten. Gleichzeitig verfolgen Kartellparteien Selbstbegünstigungsabsichten. Sie werden beispielsweise an dem Verrechnungsverfahren ersichtlich, mit dem die Insiderparteien die verloren gegangenen Wählerstimmen der gescheiterten Parteien zu Mehrung ihrer eigenen Parlamentssitze zweckentfremden. Sie greifen auf die per Sperrklausel verfallenen Wählerstimmen der gescheiterten Parteien zurück und füllen damit die Zahl ihrer Abgeordnetensitze auf.

Mit der Verrechnungsmethode zum Transfer von Zweitwählerstimmen in Abgeordnetensitze ergibt sich der demokratisch fragwürdige Effekt, dass sich die Verteilung der Stimmen am Wahlabend für die Parteien nicht mehr in der Verteilung der Abgeordnetensitze der im Parlament vertretenen Parteien deckt. Verstoßen wird damit gegen das Grundgesetz, welches nach gleichen Wahlen verlangt. Jede abgegebene Wählerstimme soll bei der Vergabe von Parlamentssitzen das gleiche Gewicht haben. Dieses Gleichheitsprinzip wird indes auf den Kopf gestellt, indem die Insiderparteien ihnen nicht gegebene und ihnen gezielt von Wählerseite vorenthaltene Stimmen der Zahl nach den zu verteilenden Parlamentssitzen zuschlagen.

Selbstbegünstigungseffekt der Kartellparteien

Wie sehr dieser Selbstbegünstigungseffekt der Kartellparteien ihnen Früchte einbringt, lässt sich exemplarisch an der Bundestagswahl 2013 veranschaulichen. Weil die FDP und die AfD mit jeweils 4,8 und 4,7 Prozent, wie auch weitere Parteien, an der Sperrklausel scheiterten, gingen rund 6,86 Millionen ihnen gegebene Wählerstimmen verloren. 15,7 Prozent der Wählerschaft sahen sich um die Repräsentation ihrer Stimmen im Bundestag betrogen.

Das heißt: Für 2013 repräsentierten die Kartellparteien mit ihren insgesamt 36.867.417 Stimmen nur 84,3 Prozent Wähleranteil von insgesamt 43.726.856 Millionen gültigen Zweitstimmen. Dies hinderte sie nicht, nach dem Wahlgesetz 100 Prozent aller Mandate unter sich aufzuteilen, unter Einschluss zusätzlicher Überhang- und Ausgleichsmandate. Vier Parteien, CDU, CSU, SPD und Grüne, kamen infolgedessen auf die eklatant hohe Zahl von insgesamt 631 Abgeordnetensitzen.

Wie sehr eine Selbstbegünstigung als Surplus zu Buche schlägt, wird an der enormen Disproportionalität von Stimmen- und Abgeordnetenanteil der Merkel-Union sichtbar. Vom Zweitstimmenanteil brachte sie es auf 41,5 Prozent; mit 49,3 Prozent Mandatsanteil hätte sie fast die Marge zur Alleinregierung übersprungen.

Missachtung des Wählerwillens

Die Verkehrung von verlorenen Wählerstimmen zur Nutzenmehrung der Parlamentssitze der Insiderparteien stellt eine krasse Verzerrung des demokratischen Repräsentationsprinzips und einen Verstoß gegen der den Gleichheitsgrundsatz des Wählens dar. Wähler haben ihre verlorenen Stimmen als Wertverlust vollständig abzuschreiben, während die Insiderparteien wider die Intention von der um ihre Stimme gebrachten Wählerschaft unverdienterweise profitieren. Die Insiderparteien erzielen eine enorme Privilegierung ihrer parlamentarischen Machtstellung, während Millionen von nicht berücksichtigten Wählern um ihr elementares Recht auf Repräsentation ihrer Wünsche und Interessen gebracht werden. Der Wählerwille findet nur in verzerrter und diskriminierender Form eine parlamentarische Vertretung.

Der eklatante Verstoß gegen die Durchführung gleicher Wahlen und die Gewährleistung des demokratischen Repräsentationsprinzips werden mit dem Argument gerechtfertigt, dass Wahlen arbeitsfähige parlamentarische Vertretungskörperschaften und aus ihnen stabile Regierungen hervorbringen sollten. Erforderlich sei hierfür die numerische Begrenzung der im Parlament vertretenen Parteien.

Diese Logik machte sich verschiedentlich auch das Bundesverfassungsgericht zu eigen. Die Funktionsfähigkeit des Parlaments und die Stabilität einer Regierung sei höher zu gewichten als die Verfassungsnorm der Gleichheit von Wahlen. Die demokratische Repräsentationsverzerrung des Wählerwillens sei diesem vorrangigen Prinzip nachgeordnet.

Weimarer Parteienzersplitterung

Die stark an die sogenannte Weimarer Parteienzersplitterung angelehnte Argumentation trägt indes genauer besehen nicht weit, weil die Weimarer Demokratie nicht an fehlender numerischer Mehrheitsbildungsfähigkeit der im Reichstag vertretenen Parteien zugrunde gegangen ist, sondern vielmehr an den ideologischen Widersprüchen und der Konsensunfähigkeit der instabilen Regierungen.

Zudem ist das funktionale Argument stabiler parlamentarischer Regierungsbildung mittlerweile aus der Zeit gefallen, zumal es auch unter den Bedingungen von mit sieben Parteien zusammengesetzten Parlamenten auf Bundes- und Landesebene allenfalls zu Drei-Parteien-Koalitionen kommt. Aber nicht zu den heraufbeschworenen Problemen der Unregierbarkeit im erweiterten Parteienparlamentarismus.

Das demokratisch wenig abgesicherte Effizienzprinzip stabiler Regierung wirft unter dem Vorrang der unverzerrten demokratischen Repräsentation der Vielfalt gesellschaftlicher Interessen im Parlament die Frage auf, inwieweit die Fünf-Prozent-Klausel nicht einen zu hoch gegriffenen Ausschlusseffekt erzeugt, der aus überholten und nicht mehr vertretbaren Gründen mittlerweile deutlich abgespeckten Kartellparteien eine überbordende Privilegierung ihrer Parlamentspräsenz zuspielt.

Neues Wahlrecht hebelt das Repräsentationsprinzip aus

Es kann nicht ohne Konsequenzen bleiben, dass mit dem Verschwinden der einstmaligen parlamentarischen Großparteien CDU/CSU und SPD Regierungsämter bereits mit 25 Prozent Zweitstimmenanteil und weniger zu ergattern sind, während dagegen die seit 70 Jahren starre Fünf-Prozent-Klausel eine übermäßig hoch aufgetürmte Sperrwirkung ausübt. Wie Erfahrungen mit den Europa- und Kommunalwahlen belegen, ist nur schwer den Tendenzen etwas entgegenzuhalten, auch die Sperrklausel für den Bundestag auf 3 Prozent abzusenken.

Die Parteiendemokratie muss ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Wählerschaft halber vor Kartellbildungsgefahren beschützt werden. Das neue Wahlrecht der Ampelkoalition hebelt dagegen das demokratische Gleichheits- und Repräsentationsprinzip von Wahlen aus. Es verfestigt entgegen dem Wählerwillen die Machtstellung der Insiderparteien. Damit nicht genug. Pläne, die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre zu verlängern, werden das Einflussgewicht der Wählerschaft gegenüber den Insiderparteien weiter mindern.

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