AfD-Wahl in Thüringen: Merkels kommunikativer Machtmissbrauch - Wann man als Amtsträger schweigt und als Parteipolitiker spricht

Das Karlsruher Urteil ist eindeutig: Angela Merkel hat mit ihren Worten über die AfD das politische Neutralitätsgebot verletzt. Das Grundgesetz schützt eben auch Parteien, die hochproblematische Inhalten vertreten. Aber soll das jetzt heißen, wer ein staatliches Amt hat, darf sich nicht mehr politisch äußern? Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler über die empfindliche Grenze zwischen Staats- und Parteipolitik.

Prekäre Doppelrolle: Ex-Kanzlerin und CDU-Mitglied Merkel / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

So erreichen Sie Volker Boehme-Neßler:

Anzeige

Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik unüblich, dass sich ein Mitglied der Bundesregierung bei Staatsbesuchen im Ausland zu innenpolitischen Themen äußert. Das ist eine Frage des Respekts vor dem Gastgeber – und der politischen Klugheit.

Verstoß gegen das Grundgesetz

Als Bundeskanzlerin hat sich Angela Merkel im Februar 2020 bei einem Staatsbesuch in Südafrika von dieser informellen Regel gelöst. Sie äußerte sich abwertend und empört zu den Vorgängen nach der Wahl eines neuen Regierungschefs in Thüringen. Dort hatte sich ein FDP-Politiker zum Ministerpräsidenten wählen lassen – mit den Stimmen der AfD-Fraktion. Während einer Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Präsidenten nannte sie das „unverzeihlich“; das sei ein „schlechter Tag für die Demokratie“. Sie forderte, dass „das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss.“

Durfte Angela Merkel sich als Bundeskanzlerin so direkt in die Parteipolitik einmischen? Die AfD zog vors Bundesverfassungsgericht und bekam recht. Am 14. Juni entschieden die Richterinnen und Richter in Karlsruhe: Mit diesen Äußerungen hat die damalige Bundeskanzlerin die AfD in ihrem vom Grundgesetz garantierten Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb verletzt. Im Klartext: Sie hat ihre kommunikative Macht als Bundeskanzlerin zu parteipolitischen Zwecken missbraucht.

Staatsamt und Parteipolitik

Wer ein hohes Staatsamt bekleidet, hat Macht – nicht nur rechtliche und politische, sondern auch kommunikative. Ein Regierungschef hat mehr Möglichkeiten, einflussreich zu kommunizieren, als ein Politiker ohne staatliches Amt. Er bekommt – wegen seines Amtes – mehr Aufmerksamkeit der Medien und damit der Öffentlichkeit. Der Nachrichtenwert einer Äußerung ist deutlich höher, wenn sie von der Bundeskanzlerin stammt. Auch die Macht der Bilder lässt sich effektiver einsetzen, wenn man ein wichtiges Staatsamt innehat. Eine Bundeskanzlerin hat andere Möglichkeiten, interessante Ereignisse und Bilder zu inszenieren, als etwa der stellvertretende Ortsvereinsvorsitzende einer politischen Partei. In der Mediendemokratie, die von Bildern lebt, ist das ein unschätzbarer Vorteil.

Gleichzeitig lebt die (Parteien-)Demokratie vom Wettbewerb der politischen Parteien. Damit man von echtem Wettbewerb sprechen kann, müssen aber alle Parteien die gleichen Chancen haben. Von Chancengleichheit kann keine Rede sein, wenn Amtsträger ihre Amtsautorität und ihre Macht im Dienst ihrer Partei einsetzen. Deshalb kennt die Verfassung ein Neutralitätsgebot: Staatsorgane müssen im politischen Wettbewerb der Parteien neutral sein. Dieses Neutralitätsgebot hat Angela Merkel verletzt, sagt das Bundesverfassungsgericht. Sie hat die AfD öffentlichkeitswirksam negativ qualifiziert, als Bundeskanzlerin, nicht als CDU-Politikerin.

Heißt das: Wer ein staatliches Amt hat, darf sich nicht mehr am Wettbewerb der Parteien und der politischen Auseinandersetzung beteiligen? Wer Bundeskanzlerin ist, darf sich nicht mehr parteipolitisch äußern? Das wäre weltfremd und im Kern unpolitisch gedacht.

Das könnte Sie auch interessieren:

Prekäre Doppelrolle: Bundeskanzlerin und Parteipolitikerin

Angela Merkel befand sich in einer prekären Doppelrolle. Sie war einerseits Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und andererseits CDU-Parteipolitikerin. Als Bundeskanzlerin galt für sie das Neutralitätsgebot. Sie durfte sich in dieser Rolle nicht derartig abwertend über die AfD äußern. Als Parteipolitikerin wäre ihr das aber erlaubt gewesen. In dieser Rolle darf sie sich am politischen Wettbewerb der Parteien beteiligen. Dabei sind harte, polemische Reden natürlich erlaubt. Es kommt also darauf an, in welcher Rolle man im konkreten Einzelfall spricht – als Inhaber eines Staatsamts oder als Parteipolitiker.

Karlsruhe hat keinen Zweifel, dass sich Angela Merkel in diesem Fall als Kanzlerin, nicht als Parteipolitikerin geäußert hat. Der Rahmen, in dem die Äußerungen gefallen sind, ist eindeutig: Sie sprach während einer Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Präsidenten, der neben ihr stand. Sie war in ihrer staatlichen Funktion in Südafrika. Sie war Bundeskanzlerin auf Staatsbesuch. In den konkreten Formulierungen hat sie sich keineswegs von ihrer Rolle als Kanzlerin distanziert. Im Gegenteil: durch die gesamte Inszenierung hat sie ihren Worten eine viel höhere – auch internationale – Aufmerksamkeit gesichert. Für sie galt also das Neutralitätsgebot der Verfassung – und das hat sie mit ihren polemischen, abwertenden und negativen Worten über die AfD verletzt. Da ist das Karlsruher Gericht eindeutig.

Demokratieverständnis der Ex-Kanzlerin

Mit dieser Rede in Südafrika zeigt die Ex-Kanzlerin ein problematisches Demokratieverständnis. Demokratisch gewählte Landtagsabgeordnete in Erfurt wählen einen neuen Ministerpräsidenten. Einen Tag später fordert die Kanzlerin auf internationaler Bühne mit der ganzen Autorität ihres Amtes, dass diese Wahl rückgängig gemacht werden muss. Ein Grundpfeiler der Demokratie ist, dass Wahlergebnisse anerkannt werden, egal, ob sie einem gefallen oder nicht. Wer missliebige Wahlergebnisse sofort rückgängig machen will, hat das nicht verstanden. Zu welchen Staatskrisen es führen kann, wenn dieser Grundkonsens verletzt wird, zeigt die letzte Präsidentschaftswahl in den USA.

Die Kanzlerin handelte dabei nicht spontan in politischer Empörung über das Wahlergebnis. Sie äußerte sich einen Tag später offiziell während einer Regierungspressekonferenz. Ihre Äußerungen waren keine emotional bedingten Entgleisungen. Sie waren geplant und kalkuliert.

Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass das Verfassungsgericht sich mit dieser Entscheidung so viel Zeit gelassen hat. Die Wirkung des Urteils wäre stärker gewesen, wenn es noch zur Amtszeit der Kanzlerin gesprochen worden wäre. Dann wäre es ein mutiges Zeichen des Verfassungsgerichts gewesen, das die Verfassung verteidigt und einem Machtmissbrauch durch die Politik energisch entgegentritt.

Nagelprobe für den Verfassungsstaat

Das Urteil des Verfassungsgerichts ist juristisch überzeugend. Aber hilft es nicht auch der AfD, einer Partei, die in Teilen inakzeptable völkisch-nationalistische Positionen propagiert und vom Verfassungsschutz zu Recht beobachtet wird?

Im liberalen Verfassungsstaat müssen grundsätzlich alle politischen Parteien die gleichen Chancen auf Teilhabe am politischen Wettbewerb haben. Das Wesen des Verfassungsstaats ist es gerade, dass die Verfassung für alle gilt. Das Grundgesetz schützt auch Parteien, die Inhalte vertreten, die hochproblematisch und grenzwertig sind. Etwas anderes gilt nur, wenn eine Partei vom Bundesverfassungsgericht verboten wird.

Mit diesem Urteil erfüllt das Gericht die Aufgabe, die ihm die Verfassung stellt: Es kontrolliert die Ausübung von politischer Macht am Maßstab des Grundgesetzes. Nach vielen verfassungsrechtlichen Enttäuschungen in der Coronazeit ist dieses Urteil ein Fortschritt.

Anzeige