Totalitäres Denken - Die gefährliche Wiederkehr von Freund-Feind-Bildern

Jemandem die „richtige“ oder „falsche“ Gesinnung zu bescheinigen und ihn damit für den politischen Diskurs insgesamt zu (dis)qualifizieren, ist ein Merkmal ideologischer Totalitarismen aller Couleur. Eine Auseinandersetzung respektvoll und sachbezogen zu führen, ist in der Demokratie alternativlos.

Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2023 / dpa
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Autoreninfo

Patrick Oelze ist Programmleiter Politik und Geschichte im Verlag Herder.

 

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Früher wurden nur Flüge gecancelt. Seit einigen Jahren werden auch Diskurse gekündigt. Eine entsprechende Nachricht an mich endete mit: „Schade, ich dachte, ihr gehört zu den Guten.“ Wir können uns zum Glück aussuchen, was wir lesen, ansehen, hören und auch, mit wem wir sprechen wollen. Doch das Einstellen jeglicher Kommunikation aufgrund etwa einer Meinungsäußerung und die leichthändige Sortierung in Gut und Böse erscheint mir symptomatisch für eine Wiederkehr totalitärer Denkmuster nicht nur an den Rändern, sondern in der Mitte der Gesellschaft.

So wird heutzutage gern nicht mehr das Ende der Geschichte, sondern ihre Wiederholung beschworen. Auf der rechten Seite besonders beliebt: die Wiederkehr der DDR. Angeblich sind wir von staatsnahen „Mainstream-Medien“, ruinöser Planwirtschaft sowie einer ideologisch verblendeten (linksgrünen) Elite umstellt. Gendern, Wärmepumpe, weniger Fleischkonsum: alles DDR. Auf der linken Seite wird dagegen gern das Ende der Weimarer Republik bemüht, um die aktuelle politische Lage in Deutschland möglichst wirkungsvoll zu dramatisieren. Angeblich werden wir von Fake News (früher Propaganda), einem unmenschlichen Kapitalismus sowie von Bürgerlichen ohne „Brandmauer“ Richtung Untergang getrieben. Konservatives Familienbild, Verbrenner, Nackensteak: alles Nazis. 

Desavouierung des politischen Gegners

Die nicht sehr schöne Ironie an dieser Stelle: Wenn man von einer Wiederholung der Geschichte sprechen wollte, die gefährlich an frühere Totalitarismen erinnert, dann ist es das zunehmende Schwarz-Weiß-Denken, das aus dem politisch Andersdenkenden einen Feind macht, der die eigene Lebensweise existenziell bedroht. Die endemische Verbreitung dieses Freund-Feind-Schemas in Anlehnung an Carl Schmitt ist – bislang – der größte politische Erfolg, den die AfD und ihre Vordenker verzeichnen können. 

Es befördert die Desavouierung des politischen Gegners, weil es verkürzende Unterstellungen zulässiger erscheinen lässt. Wenn der andere ein Nazi ist oder linksgrün versifft, dann ist es auch in Ordnung, ihn ohne genaueres Besehen zu diffamieren. Dieser Verlust an Differenzierungswille schwächt das Immunsystem des demokratischen Diskurses. In Schnellroda knallen die Korken, wenn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder twittert: „Wir lassen uns von den Grünen nicht Kultur und Sprache diktieren! Die Grünen wollen ein Fleischverbot, ein Böllerverbot und Sprachverbote.“ Ob die Grünen das wirklich so wollen: geschenkt.

Totalitäre Reflexe

Aber auch andere totalitäre Reflexe scheinen mit dem wachsenden historischen Abstand zu den zwei deutschen Diktaturen und mit der schwindenden Zahl an Menschen, die sie erlebt haben, zurückzukehren. Wie viel Totalitarismus steckt in aktuellen politischen Debatten bzw. in der Art und Weise, wie sie geführt werden?

Helga Schubert spricht in ihrem Erzählband „Vom Aufstehen“ die „moralische Herabsetzung Andersdenkender“ an. Schubert bezieht sich dabei auf die DDR, aber ein Spezifikum derselben ist der überlegene, nicht selten verächtliche Ton gegenüber Menschen mit anderen Ansichten nicht. Solche moralischen Überlegenheitsgefühle werden heute meist eher links der Mitte verortet. Dort kann man sie unter urbanen Großstädtern tatsächlich nicht selten vorfinden. Häufig aber werden sie auch einfach unterstellt. Sie sind Teil der populistischen Erzählung von den abgehobenen Eliten oder der „Berliner Blase“. 

Eine Erzählung, die Sahra Wagenknecht mit zunehmender Vehemenz pflegt, um die angebliche Realitätsferne der aktuell Regierenden zu unterstreichen. Auch die Behauptung, der andere argumentiere moralisch oder ideologisch, ist ein beliebtes rhetorisches Mittel geworden, um der mühsamen sachlichen Auseinandersetzung mit Argumenten auszuweichen bzw. missliebige politische Projekte als Verblendungszusammenhang abzuqualifizieren. Von „Ideologieprojekten“ etwa spricht der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke gern, wenn er bildungspolitische Maßnahmen kritisiert.

 

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Ein anderer totalitärer Reflex: die Vorstellung, es brauche in der Politik und im Alltag „Haltung“. Eine erstaunliche Karriere eines Begriffes, der zumindest in Westdeutschland bis in die 1990er Jahre meist die erzwungene Konformität der Körperhaltung, etwa das Strammstehen in der Bundeswehr, meinte. Heute wird darunter in der Regel eine bestimmte Werteorientierung oder Überzeugung verstanden, die als einzig richtige aufgefasst und deren Artikulation mit Zivilcourage assoziiert (um nicht zu sagen: verwechselt) wird. 

Beliebt ist die positive Verwendung des Begriffs im progressiven Milieu. Die Linke plakatiert vor der nachzuholenden Bundestagswahl in Berlin im Februar 2024 unter anderem mit dem leeren Allgemeinplatz „Links ist Haltung“. Rechtsaußen wird das Wort „Haltung“ umgekehrt wie ein Schimpfwort benutzt, um Positionen oder Meinungen als irrational abzustempeln. Generell gilt: Jemandem die „richtige“ oder „falsche“ Einstellung oder Gesinnung zu bescheinigen und ihn damit für den politischen Diskurs insgesamt zu (dis)qualifizieren, ist jedenfalls ein Merkmal ideologischer Totalitarismen aller Couleur.

Wissenschaft ist keine Quelle von Legitimität

Recht unbekümmerte Wiederkehr feiert links der Mitte der Aktivismus. Aus einem Ehrentitel, der im Sozialismus verliehen wurde, um besonders um das Gemeinwohl verdiente Persönlichkeiten auszuzeichnen bzw. die Propagandafigur des selbstlos und ständig im Auftrag des großen Ganzen sich abrackernden Menschen zu entwerfen, ist in den letzten Jahren – vermutlich eher in Anlehnung an den englischen „Activist“ – eine oft selbstgewählte Tätigkeitsbezeichnung geworden. Der Aktivist von heute setzt sich allerdings nicht für die bestehende gesellschaftliche Ordnung ein, sondern streitet im Gegenteil für die grundlegende Veränderung politischer und ökonomischer Verhältnisse. 

In China oder im Iran ist ein Aktivist/eine Aktivistin in diesem Sinne zu bewundern. Die Beanspruchung dieses Begriffs durch Menschen hierzulande sorgt zumindest nicht selten für eine kurzschlüssige Gleichsetzung der Protestbedingungen in der Bundesrepublik mit denen in einem totalitären Regime. Das Gefühl, sich im „Widerstand“ gegen einen nur scheindemokratischen Machtapparat zu befinden, teilen vor allem eher rechts zu verortende Protestbewegungen. Siehe die Selbstidentifizierung als Sophie Scholl im Corona-Lockdown. Der Pose des Aktivisten steht hier die Pose der Widerstandskämpferin gegenüber (oder besser: zur Seite).

In totalitärem Fahrwasser

Eine weitere sich ausbreitende Denkfigur, die einem aus dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ oder der Zeit der „Volksgemeinschaft“ bekannt vorkommen könnte: Abkunft legitimiert oder delegitimiert (inhaltliche und berufliche) Positionen. Der gleichberechtigte Wettstreit unterschiedlicher Stimmen und Positionen in der Öffentlichkeit ist für eine Demokratie essenziell, und die zunehmende Präsenz von Frauen, queeren Personen oder People of Colour ist diesbezüglich fundamental. Doch wer Argumente mit (positivem oder negativem) Verweis auf die Hautfarbe, die Nationalität, das Alter, das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung desjenigen bewertet, der sie vertritt, oder wer von sich selbst behauptet, aufgrund eines dieser Merkmale eine bevorrechtigte Position im Diskurs einzunehmen, gerät leicht in totalitäre Fahrwasser.

Ebenfalls problematisch: Die Annahme, aus einer klaren wissenschaftlichen Erkenntnis leite sich zwingend eine politische Maßnahme ab bzw. Politik sei geradezu verpflichtet, im Sinne dieser Erkenntnis zu agieren. Bundesumweltministerin Steffi Lemke sagte etwa vor einigen Monaten in einem Zeit-Interview: „Die größte Chance, Rechtspopulismus zu bekämpfen, besteht darin, dass Regierungen sich auf eine wissenschaftlich wie demokratisch fundierte Politik konzentrieren.“ Eine demokratisch gewählte Regierung muss für ihre Entscheidungen werben, ein Anspruch auf die Zustimmung der Wähler ergibt sich daraus nicht, auch dann nicht, wenn diese Entscheidungen wissenschaftlich fundiert, also vernünftig sind. 

Weder konkret in unserer Verfassung noch allgemein in der Ideengeschichte der Demokratie tritt meines Wissens die wissenschaftliche Fundierung einer politischen Entscheidung gleichberechtigt neben den Mehrheitswillen als Quelle der Legitimität. Damit wir uns richtig verstehen: Der Klimawandel ist ein Faktum, anders als die pseudowissenschaftlichen Schlussfolgerungen von Rassismus oder des historischen Materialismus. Doch aus Wissenschaftlichkeit allein kann sich nur in der Diktatur, nicht in der Demokratie eine ausreichende Legitimität von Politik ergeben.

Demokratie braucht Differenzierung

Zuletzt: Ein zentrales Element zur Delegitimierung der ersten deutschen Demokratie war die Verächtlichmachung ihrer Institutionen und ihrer Vertreter durch die Nationalsozialisten, aber auch durch die Kommunisten. Das Parlament der Weimarer Republik wurde als müßiggängerische „Schwatzbude“ oder durch das „Finanzkapital“ oder die „Bourgeoisie“ gesteuert dargestellt. Ähnliche Unterstellungen finden sich heute wieder, und sie scheinen zunehmend nicht nur an den politischen Rändern, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft zu verfangen, wenn der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger etwa von einer nur noch „formalen Demokratie“ und von „denen in Berlin“ spricht. Wer so pauschal Ressentiments gegen die etablierten Parteien und den Parlamentarismus schürt, reaktiviert alte totalitäre Reflexe gegen das mühsame Geschäft der Demokratie.

Eine Auseinandersetzung gleichzeitig immer respektvoll und sachbezogen zu führen, ist eine doppelte und anstrengende Herausforderung für den Einzelnen wie für eine Gemeinschaft. Eine Alternative gibt es dazu in der Demokratie nicht. Weil sie genau dieses Prinzip permanent in Frage stellt, ist die AfD keine Alternative in der Demokratie. Wer ihr das Wasser abgraben will, sollte sich schleunigst selbst vom Schwarz-Weiß-Denken verabschieden. Die wohl größte Gefahr für die Demokratie ist der mangelnde und schwindende Wille zur Differenzierung in der Mitte.

Zustand der erregten Empörung

Die „wohl größte zivilisatorische Leistung“ der alten Bundesrepublik, schrieb der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke schon 2016, „war die Entgiftung der alten Rechten und ihrer radikalsten Ausprägung: des eliminatorischen Freund-Feind-Denkens des Nationalsozialismus“. Der Berliner Republik (und mit ihr vielen westlichen Demokratien) steht vielleicht eine ähnlich große Aufgabe bevor: die erneute Austreibung des Freund-Feind-Denkens aus dem politischen Diskurs. 

Auf X alias Twitter kann man gut besichtigen, wie der permanente Zustand der erregten Empörung zu einer Art ansteckenden kollektiven Verrücktheit führt: Die anderen können nur noch als Vollidioten und Feinde wahrgenommen werden. Lars Eidinger verglich in einem Deutschlandfunk-Interview vor wenigen Tagen das zunehmende Schwarz-Weiß-Denken mit dem polarisierten Denken, ein Krankheitssymptom aus der Psychologie, das einen davon abhält, die Welt in ihrer Komplexität und mit ihren Zwischentönen wahrzunehmen. Eine ganze Gesellschaft mit Borderline-Störung. Künstler wie Eidinger können vielleicht besser in Grautönen sehen.

Omid Nouripour hat es in zutreffender Gelassenheit formuliert als Entgegnung auf Friedrich Merz’ Einlassung zu den Zahnbehandlungen abgelehnter Asylbewerber: „Wenn wir uns die ganze Zeit gegenseitig bescheinigen, dass wir das Abendland zerstören, kommen wir nicht weiter.“ Es ist höchste Zeit, weniger totalitäres Denken zu wagen und mehr Zwischentöne zuzulassen, links, rechts und vor allem in der Mitte. Die Wirklichkeit ist komplex. Wir haben die Pflicht, diese Komplexität in unseren Argumenten und Debatten wenigstens versuchsweise abzubilden. Oder die Welt wird ein noch größeres Irrenhaus.

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