Wahldebakel in Thüringen - Das Grab der politischen Mitte

Das Wahldesaster in Thüringen stellt alle Parteien auf den Prüfstand. Dem vielbesprochenen Drama steht sein Höhepunkt aber noch bevor. Neuwahlen würden vor allem dazu führen, die Ränder nach links und rechts zu stärken.

Der Blumenstrauß der Linke-Landeschefin vor Kemmerichs Füßen / picture alliance
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Autoreninfo

Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

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Am Mittwoch sah es so aus, als könne Thomas Kemmerich nicht recht fassen, was geschehen war. Mit zitternden Händen saß er im Thüringer Landtag, kaum hatte die Präsidentin Birgit Keller das Ergebnis des dritten Wahlgangs verkündet, in dem er, wider alles Erwarten, zum Ministerpräsidenten gekürt worden war. 24 Stunden später kündigt Kemmerich nun seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten an:

Er wolle entweder den Landtag seine Selbstauflösung beschließen lassen, wozu zwei Drittel der Abgeordneten nötig wären, oder Neuwahlen über die Vertrauensfrage herbeiführen. Wie gewonnen, so zerronnen. Offenbar hat Parteichef Christian Lindner die Notbremse gezogen, mit dem eigenen Rücktritt gedroht und so Kemmerich den Rückzug vom Amt nahegelegt. Die Entscheidung dürfte gefallen sein, nachdem man sich in der FDP von der Ausweglosigkeit der Situation überzeugt hatte.

Neuwahlen oder Minderheitsregierung?

Außer der Herbeiführung von Neuwahlen wären nach dem Tag von Erfurt im Prinzip zwei Szenarien vorstellbar gewesen:

Erstens hätte Thomas Kemmerich das Kunststück vollbringen können, eine Minderheitsregierung aus CDU, SPD, Grünen und FDP zusammenzubasteln. Sie hätte sich immerhin auf 39 von 90 Sitzen stützen können und mit wechselnden Mehrheiten regieren müssen. Dieses Szenario war von vornherein unwahrscheinlich, denn SPD und Grüne hatten sich bereits lange vor dem gestrigen Tag auf ein Bündnis mit Ramelows Linker festgelegt. Nachdem bereits gestern alle Parteien links der CDU und ein gehöriger Teil der Presse die wie immer gut geölte Empörungsmaschine angeworfen hatten, war die Realisierungschance dieser Variante auf null gesunken.

Kemmerich hätte, zweitens, eine Minderheitsregierung aus CDU und FDP anführen können, die dann nur 26 Abgeordnete hinter sich gewusst hätte. Solch ein Kabinett hätte höchstens regieren können, bis der Haushalt für 2021 hätte eingebracht werden müssen, also spätestens bis Ende 2020. Früher oder später wäre diese Regierung mit ihrem Latein am Ende gewesen. Für sie sprach dennoch, dass Mike Mohrings Landes-CDU als Partner bereitgestanden hätte. Lindner, seine FDP und schließlich auch Kemmerich sind angesichts des Sperrfeuers, in das der gestrige Tag sie manövriert hat, in Panik geraten und den vermeintlich sichereren Weg gegangen. War es auch der bessere?

Kemmerich ist bar jeder Glaubwürdigkeit

Im Berliner Hans-Dietrich-Genscher-Haus dürften sämtliche Alarmsirenen geschrillt haben angesichts der Perspektive, ein Ministerpräsident Kemmerich könne Thüringen, gestützt nur auf wechselnde Mehrheiten und womöglich abhängig von der Gnade der AfD, ins Chaos regieren. Aber wäre es nicht geradliniger gewesen, den Regierungsauftrag beherzt anzunehmen und sich auf das riskante Spiel einzulassen? Kemmerich hatte für einen historischen Moment die Chance, der Mann zu sein, der das Merkel’sche System der asymmetrischen Demobilisierung aus den Angeln hebt. Nun ist klar: Er ist dieser Mann nicht.

Er, der die Wahl erst angenommen und dann auf Weisung aus Berlin das Mandat einen Tag später zurückgegeben hat, ist bar jeder Glaubwürdigkeit. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft. Der fatale politische Schaden des Erfurter Dramas besteht denn auch nicht in dem vermeintlichen, von interessierter Seite jetzt mit viel Krokodilstränen beklagten „Dammbruch“, sondern darin, dass jetzt mit großer Sicherheit die Ränder ganz links und ganz rechts noch stärker aus dem anstehenden Wahlgang hervorgehen werden. Denn leider schaufeln sich alle Parteien der demokratischen Mitte, nicht nur die FDP, gerade ihr eigenes Grab.

AfD und Linke als Gewinner

Wenn die Thüringer dieses Jahr abermals an die Urnen gerufen werden, wird zunächst die Framing-Kampagne von Linken, Grünen und SPD („Dammbruch“) insofern ihr Ziel erreichen, als FDP und CDU aufgrund ihres tölpelhaften, erratischen Verhaltens wie die begossenen Pudel dastehen werden. Beide haben jetzt schon verloren, soviel ist sicher. Sozialdemokraten und Grüne machen sich über die Lage Illusionen, wie immer. Doch es wird Ramelows Juniorpartnern nicht besser ergehen. Der von ihnen mitinszenierte Entrüstungssturm hat zwar die FDP in die Kapitulation getrieben, doch bei Neuwahlen werden auch SPD und Grüne Federn lassen müssen, und das kräftig.

Für die Thüringer SPD könnte das bedeuten, dass die Partei erstmals bei einer Landtagswahl unter die fünf Prozent gedrückt wird. Der Versuch, links der Mitte die Deutungshoheit über den Tag von Erfurt zu erlangen, wird sich dort nur für eine einzige Partei auszahlen: Ramelows Linke. Sie wird massiv gestärkt aus einem neuen Urnengang hervorgehen und darf sich dann bei ihren willfährigen Knappen und Koalitionspartnern von einst bedanken.

Dasselbe gilt für die AfD: Ihre Wählerschaft wird sich von den Demos und dem „Dammbruch“-Gezeter wenig beeindruckt zeigen, umso mehr aber von dem famosen Überraschungscoup, der Björn Höcke am 5. Februar geglückt ist. Seine Partei wird neben den Linken der große Sieger im Fall von Neuwahlen sein. Die einzigen, die je die Chance gehabt hätten, Höcke seinen Triumph wieder zu entwinden, sind ausgerechnet Thüringens Sozialdemokraten und Grüne. Sie hätten nämlich in eine Minderheitsregierung Kemmerich eintreten und die AfD damit aus einem Spiel nehmen können, dessen Regeln derzeit Höcke mit soviel Geschick wie Perfidie bestimmt.

Die Affäre fordert Opfer

Diesen Weg haben sich die Parteien der linken Mitte allerdings längst verbaut, indem sie brav das Lied der Linken mitgesungen haben, denen sie offenbar bis in den Tod die Treue halten wollen. Die Prognose lautet daher: Aus der theoretischen blau-dunkelroten Mehrheit im Erfurter Landtag wird eine überwältigende Mehrheit, zwischen der die bürgerliche und linke Mitte förmlich zerrieben wird. Das Signal, welches das dilettantische Handling der Affäre durch die Erfurter Laienschauspielertruppe in die anderen neuen Bundesländer aussendet, ist verheerend. Auch der bundespolitische Impact wird vermutlich groß genug sein, um Köpfe rollen zu lassen. Annegret Kramp-Karrenbauer und die neue Doppelspitze der SPD könnten zu den ersten Opfern gehören. Für die Sozialdemokratie liegt darin ein doppelt ironischer Twist: Vielleicht bringt gerade das die lange ersehnte Rettung für die gebeutelte Partei.

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