Streit um Föderalismus in der Corona-Krise - Söder muss springen!

Der Streit über die richtigen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie gerät immer mehr zu einem Streit über den Föderalismus. Und die Bundeskanzlerin selbst hat ihn angeheizt. Einzig der bayerische Ministerpräsident hätte jetzt die Kraft, die Misere zu lösen. Und das Kanzleramt für die Union zu verteidigen.

Angela Merkel und Markus Söder bei einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Die einzigen Währungen, die in einer Pandemie zählen, sind Entschlossenheit und Geschwindigkeit. Jede Verzagtheit, jedes unnötige Hin und Her gibt dem Virus die Chance, sich zu verbreiten und die Gesellschaft weiter im Schwitzkasten zu halten.

Der deutsche Föderalismus ist aber nicht auf Entschlossenheit und Geschwindigkeit, sondern auf Bedächtigkeit und Machtbalance hin angelegt. Die politische Bürokratie, also komplexe Entscheidungsprozeduren mit Vetomöglichkeit einzelner Akteure, ist dabei kein notwendiges Übel, sondern vielmehr der Kern des deutschen Regierungssystems.

Während man in kuscheligen Zeiten über die Behäbigkeit und mitunter Diffusität politischer Entscheidungsprozesse noch generös hinwegsehen kann, ist es damit in Deutschland seit einigen Monaten vorbei. Den Auftakt zu diesem ganz praktischen Prozess politischer Bildung in Sachen Föderalismus bot der Herbst 2020.

Zur Erinnerung: Die Bundeskanzlerin hatte bei den Ministerpräsidenten seinerzeit ein ums andere Mal für schnelle und harte Entscheidungen geworben, um die zweite Welle im Griff zu behalten. Aber daraus wurde nichts. Die Ministerpräsidenten ließen die „mächtigste Frau der Welt“ (Forbes) genüsslich am langen Arm verhungern. Und so kam es, wie es kommen musste: Die Infektionen galoppierten davon und halten nunmehr Deutschland seit Monaten unnötig im Lockdown. 

Als dieser dann im Winter endlich Wirkung zeigte, setzten prompt wieder Lockerungsdiskussionen ein – und das zu einer Zeit, als Experten mit Blick auf die Mutationen bereits vor einer dritten Welle warnten. Seitdem bauen sich die Infektionszahlen wie vorausgesagt in beachtlicher Geschwindigkeit auf.

Merkels eigentlicher Fehler

In der Entscheidung vom 3. März 2021 liegt daher der eigentliche Fehler der Angela Merkel und nicht in der dahingestolperten Idee einer „Osterruhe“ vom 22. März 2021. Das war bloß ein Folgefehler. Es handelte sich schlicht um den panischen Versuch, den Lockerungsgeist wieder in jene Flasche zurück zu befördern, aus der sie ihn selbst entlassen hatte. Während sie noch im Herbst 2020 standhaft blieb und die Länder, wenn auch mit Verspätung, auf Linie brachte, leistete sie sich Anfang März einen fatalen Moment der Schwäche. 

Die dann erfolgte öffentliche Entschuldigung, die allseits auf honorige Anerkennung traf, brach der Kanzlerin gegenüber den Ministerpräsidenten symbolisch das Genick. Seitdem hat sie ein doppeltes Problem: Sie muss nicht nur weiterhin mit der Tatsache kämpfen, dass sie im deutschen Föderalismus allein als Kanzlerin von Gnaden der Länder handlungsfähig ist. Sie hat auch noch ihr bis dahin tadelloses symbolisches Kapital verspielt, Deutschland nüchtern und faktenorientiert aus der Corona-Krise führen zu können.

Seitdem ist das politische System der Bundesrepublik Deutschland mächtigen zentrifugalen Kräften ausgesetzt. In einem Interview bei „Anne Will“ machte Merkel am Sonntag den Ländern eine Kampfansage: Wenn diese nicht zu entschlossenem Handeln in der Lage seien, müsse der Bund die Länder eben entmachten und die Entscheidungen an sich ziehen. Aber diese Drohung ist ähnlich glaubwürdig wie der Biss eines zahnlosen Chihuahua in die Wade schmerzhaft – und darauf wies Merkel selbst mehrfach hin.

Der Bundestag kann das Infektionsschutzgesetz nämlich nicht ohne Zustimmung des Bundesrates und damit der Länder ändern. Das ist der Sinn des Föderalismus. Aber warum sollten sich die Länder einer Kanzlerin ergeben, die noch am 3. März 2021 mit ihnen gemeinsame Sache gemacht und insofern jenen Zustand selbst herbeigeführt hat, für den sie die Länder nun kritisiert?

Wie von einem anderen Stern

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren einst davon überzeugt, dass sie mit der bundesdeutschen Übergangsverfassung einen handlungsfähigen Bundeskanzler ins Leben rufen würden. Am 6. Mai 1946 hob in der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates der Sozialdemokrat Carlo Schmid hervor, dass die Stellung des Bundeskanzlers „besonders stark“ sei. Heute wirken die Plenarprotokolle von damals wie von einem anderen Stern.

Dass Merkel Schritt für Schritt die Deutungsmacht verliert, wird auch an den Reaktionen aus den eigenen Reihen deutlich. Nun sind es nicht mehr allein die SPD-geführten Länder, die die Autorität der Bundeskanzlerin untergraben. Ausgerechnet ihr Nachfolger als CDU-Vorsitzender und möglicher Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, lässt sich von ihr nicht mehr in die Pflicht nehmen.

Während Merkel bei „Anne Will“ die Länder dazu aufgerufen hatte, nunmehr im Geiste der „Notbremse“ auf weitere Öffnungsschritte zu verzichten, erteilt Laschet dieser Einmischung eine klare Absage. Und er ist nicht allein. Nicht nur für die Bewältigung der Pandemie, auch für die Union ist dieser öffentlich ausgetragene Streit gefährlich. Wird er nicht zeitnah eingehegt, könnte er sie die Kanzlerschaft kosten. Die Nerven liegen im Corona-Wahljahr angesichts miserabler Umfragewerte offenbar blank.

Dabei darf die Fokussierung auf die handelnden Akteure nicht die Sicht auf das eigentliche Problem verstellen. Nicht die Menschen sind das Problem, sondern das System. Wer, selbst in Notzeiten, die Handlungskompetenzen auf Akteure mit gegensätzlichen Interessen verteilt, die sich außerdem gegenseitig blockieren können, darf sich insbesondere in einem Wahljahr nicht darüber wundern, dass sich der Föderalismus als Inkubator für menschliche Eitelkeiten und politische Handlungsunfähigkeit entpuppt.

Damit ist nun Wirklichkeit geworden, was der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) bereits im parlamentarischen Rat einst befürchtet hatte. Er warnte eindringlich, dass mit dem Grundgesetz ein „Föderalismus der Bürokratie“ ins Werk gesetzt werde. Dieser werde außerdem zu einem „Sonderungskomplex der Länderregierungen“ führen und das Gemeinwohl gefährden. Heuss sah die Parteien in der Verantwortung, diese zentrifugalen Kräfte wieder einzuhegen: „Wir stehen vor einem sehr großen Experiment unserer Geschichte.“

Das Experiment ist gescheitert

Dieses Experiment darf inzwischen als gescheitert gelten. Indes sind nur wenige politische Akteure bereit, der Realität auch ins Gesicht zu sehen und die heilige Kuh des Föderalismus zur Schlachtung freizugeben. Zu ihnen gehört ausgerechnet der Unions-Fraktionschef im Deutschen Bundestag, Ralph Brinkhaus. Bereits seit Wochen zieht er durch die Lande und legt ein ums andere Mal schonungslos den Finger in die Wunde.

Zuletzt tat er das am 25. März 2021 vor dem Hohen Haus selbst. Europa und der Föderalismus seien „dysfunktional für diese Krise aufgestellt (…). Da beißt die Maus keinen Faden ab.“ Das Land befinde sich in einem Zustand bürokratischer Selbsterdrosselung: „Auf diesem Land, auf diesem Staatswesen liegt der Staub von 200 Jahren, und diesen Staub müssen wir spätestens jetzt in der Krise beseitigen.“ Was es brauche, sei eine „kleine Revolution“. 

Eine Revolution allerdings, und sei sie noch so klein, wird mit der real existierenden Bundeskanzlerin nicht möglich sein. Weder verfügt sie über die nötige Dosis an politischem Testosteron, um „von vorne zu führen“ (Gerhard Schröder), noch über das einst vorhandene symbolische Kapital einer nüchternen Sachwalterin des Gemeinwohls. Indes könnten die Unionsparteien mit einem Coup gleich drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: das Kanzleramt sichern, den deutschen Staat zukunftsfest aufstellen und zugleich die Pandemie unter Kontrolle bringen.

Nach Ostern wird die Union ohnehin über ihren Kanzlerkandidaten entscheiden. Dass Markus Söder (CSU) dabei über größere Erfolgschancen verfügen dürfte, das Kanzleramt zu verteidigen, als Armin Laschet, legen nicht nur aktuelle Umfragen, sondern vor allem die politischen Vorgänge der letzten Monate nahe. Würde Söder Merkel außerdem sofort, also noch vor der Bundestagswahl als Kanzler ablösen, veränderte sich das bundesdeutsche Machtgefüge abrupt.

Brinkhaus als Unterstützer

Ausgerechnet als ehemaliger Vertreter einer Landesregierung könnte er aus eigener Anschauung die zentrifugalen Kräfte des Föderalismus glaubwürdig einhegen. Bereits vor Monaten bekannte er im Angesicht der Corona-Krise: „Ich bin ein überzeugter Föderalist, aber ich glaube, dass der Föderalismus zunehmend an seine Grenze stößt.“ Mit dem Chef der Unionsfraktionen im Deutschen Bundestag, Ralph Brinkhaus, hätte er außerdem einen starken Unterstützer für eine Staats- und Föderalismusreform an seiner Seite.

Und nur ein starker Bayer wäre symbolisch in der Lage, die zerrupften Flügel des Föderalismus zu stutzen. Gerade weil Bayern traditionell als föderalistischer Eigenbrötler gilt – es hat schon seinerzeit aufgrund eines angeblichen Übergewichts des Bundes die Zustimmung zum Grundgesetz verweigert –, würde es mit sich selbst zugleich den größten Reformbremsklotz aus dem Weg räumen. Es wäre dann so wie einst unter Gerhard Schröder (SPD) und der „Agenda 2010“: Auch sie konnte nur von einem Sozialdemokraten durchgesetzt werden. Dass Söder außerdem über die nötige Dosis an Führungshormonen verfügt, um von vorne zu führen, steht außer Zweifel.

Nach dem bayerischen Impfgipfel an diesem Dienstag stellte sich Söder demonstrativ hinter Merkel und wies mit der Forderung nach „einem Pandemieplan für Deutschland“ einzelne Länderinteressen erneut in die Schranken: „Es ist nicht gut, wenn Bund und Länder streiten – und die Seitwärtsbemerkung sei mir erlaubt: Ich finde es auch sehr seltsam, wenn der CDU-Vorsitzende mit der CDU-Kanzlerin ein halbes Jahr vor der Wahl streitet.“

Auf den öffentlichen Streit auch noch öffentlich hinzuweisen und ihn so zu befeuern kann, da dieses Vorgehen ja eigentlich selbstwidersprüchlich ist, nur als Kampfansage verstanden werden. Hic Rhodus, hic salta!

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