Steinmeiers Pflichtjahr-Vorschlag - Gute Idee mit Ausbaupotential

Der Vorschlag des Bundespräsidenten, junge Menschen sollten einen Dienst an der Gesellschaft leisten, ist nicht schlecht. Allerdings muss die diskutierte Pflicht für jene, die sie verrichten sollen, attraktiver gemacht werden. 

Hier gibt es noch einiges zu tun, wird sich der Bundespräsident beim Besuch des Johanniter-Krankenhauses gedacht haben / dpa
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Robert Horvath hat Biochemie und Kommunikations-wissenschaften studiert. Derzeit absolviert er ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lässt auch fünf Monate nach seinem ersten Vorstoß nicht locker. Vor einigen Wochen hat er erneut seinen Vorschlag einer sozialen Pflichtzeit in die Debatte gebracht. Er bekräftigt: „Wir brauchen Ideen, wie es gelingen kann, dass mehr Frauen und Männer mindestens einmal in ihrem Leben für eine gewisse Zeit aus ihrem gewohnten Umfeld herauskommen und sich den Sorgen ganz anderer Menschen widmen.“ Auf Unterstützung seitens der Bevölkerung kann er bereits bauen. Laut Bertelsmann-Stiftung stimmt eine Mehrheit von 64 Prozent seinem Vorschlag zu.

Doch öffentlich gibt es immer wieder Kritik an der Idee. Besonders von Mitgliedern der Ampel-Koalition kommt heftiger Gegenwind. So lehnt Bundesfamilienministerin Lisa Paus den Vorstoß rundheraus ab: „Ein sozialer Pflichtdienst würde einen Eingriff in die individuelle Freiheit eines jeden Jugendlichen bedeuten.“ Dabei hat ihre Partei mit Verbots- und Beschränkungsdenken sonst wenig Probleme. Denn geht es beispielsweise ums Klima, setzen die Grünen der „individuellen Freiheit“ schnell Grenzen: Tempolimit, autofreie Innenstädte, Feuerwerksverbot. Ganz zu schweigen von den Sprech- und Denkverboten politisch korrekter Sprache, die beinahe zum Parteiausschluss des Tübinger Bürgermeisters Boris Palmer geführt hätten.  

Aber man kann Paus ja durchaus verstehen: Mitunter kann der Begriff „Pflicht“ ein ungutes Bauchgefühl verschaffen. Das ist besonders aus der Perspektive von Heranwachsenden nachvollziehbar. Denn die Zeit zwischen Schulabschluss und Berufsausbildung oder Studienbeginn steckt voller Chancen. Es ist eine Zeit der Orientierung und Weiterentwicklung. Dass mit einer Pflicht jedoch auch die Verantwortung wächst, ist bekannt. Dass Verantwortung zu tragen per se nichts Schlechtes ist, sondern ganz im Gegenteil etwas Bereicherndes und Sinngebendes sein kann, ebenfalls. Daher bietet der Ansatz Frank-Walter Steinmeiers auch Chancen

Der Zusammenhalt ist schlecht

In dieser Pflichtzeit, von der der Bundespräsident übrigens meint, sie müsse ja kein ganzes Jahr dauern, hätte der junge Mensch die Möglichkeit, etwas gänzlich Neues zu lernen, vielleicht zum ersten Mal Selbstständigkeit zu erleben oder das erste eigene Geld zu verdienen – auch wenn erst einmal nur von ungefähr 400 Euro pro Monat die Rede ist. Hier besteht die Chance, sich weiterzuentwickeln, den Horizont zu erweitern, in andere Milieus einzutauchen, einmal über den Tellerrand zu blicken und neue Perspektiven einzunehmen. Egal, ob man aus gutbetuchtem Hause kommt oder unter prekären Umständen aufgewachsen ist. Die eigene Persönlichkeit kann an solchen Herausforderungen wachsen. Schaden werden sie definitiv nicht. Ganz nebenbei täte man zudem etwas Gutes für die Gesellschaft. 

Nur schmackhafter müsste man diesen sozialen Dienst den Betroffenen machen. Ihn so gestalten, dass alle Beteiligten am Ende davon profitieren. Länger als ein Jahr dürfte er definitiv nicht dauern! Wie wäre es mit sechs Monaten, inklusive Möglichkeit auf Verlängerung, wenn der Wunsch dazu besteht? Wie wäre es mit sechs statt acht Stunden Arbeit pro Tag? Ohne Lohnabzug. Nach einem halben Jahr Arbeit könnte man sich als junger Mensch anschließend mit sechs Monaten Reise belohnen und hätte so in einem Jahr überdurchschnittlich viel gesehen und erlebt. Ein Interrail-Ticket wäre beispielsweise ein Dankeschön, das Vater Staat im Gegenzug für den sozialen Dienst sponsern könnte. Derlei Anreize hätten das Potential, die Pflichtzeit attraktiver zu machen. Vielleicht hilft auch der Vergleich mit Familienmitgliedern oder Menschen aus dem Bekanntenkreis: Dort waren Pflichtzeiten – oft an der Waffe – von bis zu zwei Jahren obligatorisch. Dagegen klingen sechs bis zwölf Monate doch gleich ziemlich machbar. 

Kein Pflaster für den Pflegenotstand

Aber Sinn und Zweck dieses sozialen Dienstes darf es nicht sein, den dringend notwendigen Reformbedarf, beispielsweise in der Pflege, zu umgehen, indem man das Loch mit kostengünstigen Pflichtkräften füllt. Auch der Wiedereinführung einer Wehrpflicht durch die Hintertür sollte eine Absage erteilt werden, indem man sie bei der Pflichtzeit gänzlich ausschließt. 
 
Vielleicht gelingt dann, was Steinmeier damit laut eigener Aussage bezwecken will: Brücken schlagen. Verbindungen knüpfen zwischen Jung und Alt, Stadt und Land, Ost und West. Zusammenhalt soll eingeübt werden. Denn es gibt „viel nebeneinanderher“. Wir bleiben „häufig in unseren Milieus“ so der Bundespräsident in der ARD-Themenwoche. Umfragen von Infratest dimap geben ihm recht. Demnach hält nur ein Prozent der Deutschen den Zusammenhalt für sehr gut, 32 Prozent für eher gut, ganze 48 Prozent für eher schlecht, und ganze 16 Prozent halten den Zusammenhalt hierzulande für sehr schlecht. Eine soziale Pflichtzeit allein wird daran wohl nicht viel ändern. 
 
Doch ein großer Vorteil bliebe: Menschen lernten Respekt vor solch systemrelevanter Arbeit. Sei sie mit Alten, Armen, Menschen mit Behinderung, Kindern, Kranken, Obdachlosen, mit Tieren oder im Sport, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Das Feld ist groß und eine Nische, die interessiert, gewiss schnell gefunden. Darüber hinaus entsteht vielleicht sogar eine langfristige Leidenschaft für Verantwortung. Das wäre allemal wertvoller als Klatschen. 

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