Weiter so statt Stabilität - Die vergebene Chance des Kanzlers

Olaf Scholz hat die Gelegenheit, die ihm das Urteil von Karlsruhe bot, nicht genutzt. Er hätte vom Schulden-Saulus zum Stabilitäts-Paulus werden können. Nun bleibt nur die Agonie einer verpfuschten Kanzlerschaft.

Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag, 28.11.2023 / picture alliance
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Autoreninfo

Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

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Der Kanzler und seine Ampel-Koalition sind demoskopisch längst in einem Tal der Tränen. Beider Beliebtheit bei den Deutschen war schon vor der akuten Haushaltskrise durch das Verfassungsgerichtsurteil im Keller, nun rutscht sie noch tiefer. In der jüngsten INSA-Umfrage steht die SPD bei 16 Prozent – die Kanzler-Partei! Die Dreier-Koalition steht zusammen nur bei rund 34 Prozent und hat damit seit den Wahlen rund 18 Prozent der deutschen Wähler verloren. Scholz selbst bringt seiner Partei keinen Kanzler-Bonus, sondern einen Kanzler-Malus. „So schlecht war bei INSA noch nie ein Kanzler“, sagt INSA-Chef Hermann Binkert. „Die Deutschen sind unzufrieden mit der Regierung und lasten das insbesondere dem Kanzler an.“

Nach altmodisch-bürgerlichen Vorstellungen hätte er längst „sein Gesicht verloren“ und müsste zurücktreten. Doch diese Vorstellungen gibt es offenkundig nicht mehr. Und trotz aller Oppositionsrhetorik will die CDU ganz offenkundig nicht nochmal gegen einen Nachtragshaushalt klagen, weil sie sich damit auch selbst beschädigen würde. Und die AfD kann es nicht, weil für eine solche Klage 25 Prozent der Bundestagsabgeordneten notwendig sind. Also kann Scholz vor dem Bundestag in seiner Regierungserklärung  nach dem desaströsesten Verfassungsgerichtsurteil, das eine Bundesregierung jemals kassierte, so tun, als hätte er alles im Griff und seine Koalition könnte mit ein paar kleinen kameralistischen Umbuchungen und Notlage-Ausreden, die in der Behauptung einer „neuen Realität“ durch das Urteil gipfeln (er und seine Regierung haben sie geschaffen!), einfach so weitermachen. 

Das ist nicht nur armselig und beschämend. Schlimmer: Scholz vergibt damit eine große historische Chance für sein Land und sich selbst. Vielleicht sogar für seine Partei, die unter seiner bisherigen Kanzlerschaft weit unter die Zustimmungsrate der AfD abgerutscht ist.

 

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Um die Bestätigung seiner Ampel bei den nächsten Bundestagswahlen geht es ohnehin nicht mehr, die ist aussichtslos. Das Wunder, das das Blatt wenden könnte, ist völlig unvorstellbar. Scholz wird mit so gut wie absoluter Sicherheit nach 2025 nicht mehr Kanzler sein.

Gerade deswegen, weil er Umfragen und wahltaktische Erwägungen nun eigentlich längst ignorieren könnte, weil er nichts mehr zu verlieren hat, was nicht schon verloren ist, und weil er deswegen im Grunde jetzt völlig frei wäre, böte sich Scholz die Gelegenheit, trotz des Desasters seiner Ampel-Politik vielleicht doch noch als ein Kanzler in die Geschichte einzugehen, der seinem Land einen Dienst erwiesen hätte. Aber Scholz hat spätestens mit seiner heutigen Regierungserklärung besiegelt, dass er das nicht tun und dadurch aller Voraussicht nach als ein gescheiterter und besonders schwacher Kanzler in die Geschichte eingehen wird.

Nicht die Schuldenbremse ist das Strukturproblem

Der Dienst bestünde darin, aus der Realität, die eben nicht „neu“ ist, sondern nur in Karlsruhe mit einem Justiz-Siegel versehen wurde, endlich wirklich anzuerkennen: Das eigentliche haushaltspolitische, ja staatsstrukturelle Problem Deutschlands liegt nämlich nicht in einem Mangel an Einnahmen und Verschuldungsmöglichkeiten. Und deren fortgesetzte Ausnutzung, also weitere übermäßige Verschuldung, stärkt ganz sicher nicht, wie Scholz behauptet, „unsere Fähigkeit, auch künftige Krisen sicher zu bewältigen“. Denn heutige Schulden bedeuten nichts anderes als die Einschränkung künftiger Handlungsmöglichkeiten. Das wusste die Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die die Schuldenbremse 2009 ins Grundgesetz schrieb, immerhin noch.

Nicht die Schuldenbremse bremst das Land aus, sondern eine Quote, von der vor einem Vierteljahrhundert noch in jeder zweiten Talkshow von Sabine Christiansen die Rede war und deren damaliger Anstieg der Grund für die Agenda-Reformen war: nämlich die Sozialstaatsquote, also der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, den der Staat zu sozialen Zwecken umverteilt. Dass diese Quote immer neue Rekordhöhen erreicht, weit jenseits der 30-Prozent-Linie, während gleichzeitig an jeder Pinnwand zwischen Garmisch und Flensburg und in jeder Radio-Werbepause Arbeitsplätze potentiellen Bewerbern angepriesen werden, ist der unumstößliche Beweis für die katastrophale Schieflage, in die der deutsche (Sozial-)Staat sich manövriert hat.

Dieser Anstieg, der durch die Einführung des Bürgergelds noch steiler werden wird, hängt eng mit der ebenso verfehlten Asyl- und Zuwanderungspolitik zusammen. Mehr als 62 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigen für Bürgergeld haben laut Bundesregierung einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. 

Sparen am und damit für den Erhalt des Sozialstaats

Scholz begründete seine Weiter-so-Politik heute im Bundestag mit der „Frage nach dem Sozialstaat“. Genau diese Frage aber erfordert dessen grundlegende Reform durch Begrenzung, weil sie bei einem langfristigen Weiter-so mit „No Future“ beantwortet werden müsste. Das Verfassungsgerichtsurteil wäre für Scholz, der als früherer Finanzminister und nicht zu vergessen zwischen 2007 und 2009 auch Sozialminister mit den expansiven Strukturfehlern bestens vertraut ist, die perfekte Gelegenheit gewesen, das Ruder herumzureißen und seinen Genossen und grünen Parteifreunden eine neue stabilitätsorientierte, begrenzende Sozial-, Migrations- und Haushaltspolitik zu verordnen.

Die Deutschen übrigens sind in ihrer Mehrheit längst zu der Erkenntnis gelangt, dass solche Sparsamkeit notwendig ist und langfristig für sie selbst und die Nachkommen auch nutzbringender als neue Schulden. Und natürlich ist der Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit den für 2024 geplanten 171,67 Milliarden Euro der erste und wichtigste Sparposten. 24 Prozent der von Bild Befragten wollen am Bürgergeld sparen, und 23 Prozent wollen die Leistungen für Asylbewerber kürzen. Beides sind tatsächlich die Felder, auf denen nicht nur das größte Sparpotential liegt, sondern wo auch die grundlegenden Fehlanreize für den Arbeitsmarkt und Pullfaktoren für illegale Migranten zu beheben sind.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat recht: „Wir geben 50 Milliarden Euro für Geflüchtete aus. Die Bevölkerung will dieses Geld so nicht ausgeben.“ Und: „Diese Politik ist falsch und gefährdet den sozialen Frieden.“ Bayerns Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) sieht im Migrationsbereich sogar einige Milliarden Euro auf der Straße liegen. 

Wo Scholz sofort sparen könnte

Deutschland aus dieser doppelten Sackgasse der migrationsbefeuerten und schuldenfinanzierten Sozialexpansion herauszuführen, wäre also die eigentliche große Aufgabe für einen Kanzler nach einem solchen Urteil und in einer solchen Stimmungslage der Bevölkerung. Dass Scholz ein Sozialdemokrat ist und an der Expansion selbst jahrelang mitgewirkt hat, hätte ihm dabei in den Augen der Wähler vermutlich nicht einmal schaden müssen. Die Menschen lieben es oft sogar besonders, wenn ein Saulus zum Paulus wird. So wie sie auch eine im richtigen Moment gehaltene Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede einer Weiterwurschtel-Regierungserklärung vorziehen.

Politiker sprechen gerne vom „Zeichen Setzen“. Scholz hätte die Gelegenheit dieses Urteils nutzen können, um tatsächlich ein glaubwürdiges Zeichen zu setzen und sich dadurch selbst als obersten Sparer der Republik zu inszenieren. Nämlich indem er vor allen anderen Sparmaßnahmen auf den ohnehin skandalösen Erweiterungsbau seines Kanzleramts (777 Millionen Euro für unter anderem 400 zusätzliche Büroräume!) verzichtet hätte. Zeitgleich hätte er ein sofortiges Programm zur (Wieder-)Reduzierung des zuvor von seiner Regierung erhöhten Personalbestands der Ministerien und obersten Bundesbehörden ausrufen können. Ein besonders sichtbares Zeichen wäre auch ein Moratorium für alle Öffentlichkeitskampagnen der Bundesregierung für den Rest der Legislatur gewesen.

Das verpasste Karlsruhe-Erlebnis 

Scholz hatte die beste Gelegenheit, in die deutsche Nachkriegsgeschichte einzugehen als ein Schulden-Saulus, der durch ein Damaskus-Erlebnis in Karlsruhe zum Stabilitäts-Paulus wurde. Er hätte damit vermutlich einen Bruch mit großen Teilen der eigenen Partei heraufbeschworen, mit Kevin Kühnert, Saskia Esken, Hubertus Heil. Und erst recht einen Bruch mit den Grünen, deren horrende Transformationsausgabenwünsche in Kombination mit einer völlig illusorischen Einwanderungsideologie der größte Treiber der Schuldenexpansion sind.

Vermutlich wäre die Ampel daran zerbrochen. Doch die Union (und die FDP) stünden dann vermutlich als Ersatz bereit. Vielleicht hätte Scholz also trotzdem noch zwei Jahre als Kanzler einer neuen, unbelasteten Koalition weiterregieren können. All das wäre für Deutschland, für die SPD und für Olaf Scholz selbst aussichtsreicher als die nun bevorstehende Agonie einer nicht nur gescheiterten, sondern auch durch und durch blamierten, unglaubwürdig gewordenen Restkanzlerschaft gegen den Widerwillen von zwei Dritteln der Deutschen.

Und außerdem: Die Sparmaßnahmen, die grundlegende Korrektur des Ensembles der Sozial- und Migrationspolitik, werden trotzdem fällig werden. Nun wird sie eben Scholz‘ Nachfolger umso dringender angehen müssen. Daran führt kein Weg vorbei, wenn dieser Staat nicht in eine tatsächlich existentielle Überforderungskrise geraten soll, aus der ihn dann keine Notlagen-Erklärung und kein „Sondervermögen“ genannter Schuldenexzess mehr retten kann.

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