Söder staatsmännisch, Aiwanger hemdsärmelig - Bayern soll ampelfrei bleiben

Zeitgleich zur Pressekonferenz des Bayerischen Ministerpräsidenten in München tritt der Chef der Freien Wähler am Sonntagvormittag im Bierzelt in Keferloh vor den Toren der Landeshauptstadt auf. Söder sagt, die „bürgerliche Koalition“ in Bayern werde fortgesetzt, aber er habe Aiwanger einen „ernstgemeinten Rat zu Reue und Demut“ erteilt. 

Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) „rockt“ am Sonntag das Bierzelt in Keferloh. /dpa
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Autoreninfo

Der promovierte Politikwissenschaftler Ulrich Berls ist Fernsehjournalist und Autor. Von 2005 bis 2015 leitete er das ZDF-Studio München. Bei Knaur erschien sein Buch „Bayern weg, alles weg. Warum die CSU zum Regieren verdammt ist“.

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Wenn es einen Ort gibt, an dem kein Mensch etwas von „Reue und Demut“ wissen will, dann ist es ein bayerisches Bierzelt – erst recht nicht in Wahlkampfzeiten. Obwohl Bayern noch mitten in den Sommerferien steckt, betritt Hubert Aiwanger unter großem Jubel das volle Festzelt. Selbstgemalte Plakate werden hochgehalten: „Die Süddeutsche Zeitung trägt den Journalismus zu Grabe“, steht auf einem. Aiwanger beginnt mit der Bemerkung, wer so viel Rückendeckung der Bevölkerung habe, müsse sich vor keiner Schmutzkampagne fürchten. 

​​​​Aiwanger rockt das Bierzelt

Aber er sei nicht gekommen, darüber zu reden, er wolle aufzeigen, was in Bayern besser laufe als in Berlin und sonstwo. Habeck sei ein De-Industrialisierungsminister; Lauterbach solle sich um die Krankenhäuser im ländlichen Raum und nicht um die Freigabe von Cannabis kümmern; die Erbschaftssteuer gehöre komplett abgeschafft; wer Fleisch essen wolle, solle das; wer meint, Kinder sollten nicht mehr Papa und Mama sagen, ticke doch nicht ganz richtig – so geht das in freier Rede eine dreiviertel Stunde lang. Die Menge jubelt, die Maßkrüge kreisen, das Zelt dampft. Seine Interpretation von Reue und Demut: einfach nicht länger über die sogenannte Flugblatt-Affäre reden, sondern stur weiter Wahlkampf machen, als wäre nichts geschehen.

Hubert Aiwanger und Florian Streibl. /dpa 


Während der stellvertretende Ministerpräsident im nass geschwitzten Hemd seinen Anhängern zujubelt, steht der Landesvater im gedeckten Anzug, mit der Rosette des Bayerischen Verdienstordens im Knopfloch im Prinz-Carl-Palais und verliest Wort für Wort seine Erklärung, deren entscheidender Satz lautet: Die Koalition von CSU und Freien Wählern wird fortgesetzt und soll nach der Wahl erneuert werden. Die Beantwortung seiner 25 Fragen an Aiwanger sei akzeptierbar, ein langes gemeinsames Gespräch einvernehmlich verlaufen. Obwohl das Ansehen Bayerns Schaden erlitten habe, wolle er mit Augenmaß statt Übermaß reagieren. Staatsmännisch wie nie zuvor ist dieser Auftritt, mit dem Söder hofft, die schwierigste Bewährungsprobe seiner politischen Laufbahn hinter sich zu bringen.

​​​​Keine Provinzposse

Die beiden Auftritte könnten unterschiedlicher nicht sein. Die wichtigste Botschaft beider Redner lautet jedoch unisono: Die jetzige Koalition bleibt bestehen und soll nach der Landtagswahl in fünf Wochen fortgesetzt werden. Ist das Ganze, fragen sich manche Beobachter im Rest der Republik, letztlich vielleicht doch eine Provinzposse, schließlich geht es doch nur um eine Regionalwahl?

Die Affäre um Hubert Aiwanger verdient zu Recht bundesweite Beachtung, sie ist sowohl medial als auch politisch brisant. Wenn der Inhalt des Schulranzens eines Minderjährigen mit 35-jähriger Verspätung inkriminiert wird, ist das medienethisch äußerst fragwürdig. Wenn reihenweise anonyme Zeugen aufgefahren werden, müssen sich auch medienrechtliche Bedenken einstellen. Die Mechanismen der Skandalisierung beschäftigen seit längerem die Kommunikationswissenschaft, der Fall Aiwanger wird ein neues Beispiel werden. Die politische Absicht hinter dem Ganzen hat es freilich brandaktuell in sich.
 
Wenn es einen Satz in seiner Erklärung gab, der Markus Söder die Galle nach oben getrieben haben dürfte, dann war es seine Klage, das Ansehen Bayerns habe gelitten. Da musste er sich die Worte des Bundeskanzlers zu eigen machen, der vor wenigen Tagen erst geflötet hatte, er sorge sich um Bayerns Image. Ausgerechnet Olaf Scholz, dem Bayern doch herzlich gleichgültig ist. Seine SPD liegt im Freistaat bei neun Prozent. Sicher einer der Gründe, warum es noch nie ein so norddeutsch-dominiertes Bundeskabinett gab wie unter Scholz. 

​​​​Ärgernis Bayern

Über den erheblichen bayerischen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt und zum Steueraufkommen freut man sich in Berlin, ansonsten ist der Freistaat aber ein Ärgernis. Bayern ist das einzige Bundesland, in dem keine der Ampelparteien regiert oder mitregiert. Wenn CSU und Freie Wähler ihr Bündnis gerne „Bayern-Koalition“ nennen, ist das zutreffend. Beide Parteien können SPD, Grüne und FDP attackieren, wie sie wollen, auf keinen Koalitionspartner müssen sie Rücksicht nehmen, keine Parteizentrale aus Berlin erteilt Marschbefehle. Da die drei Ampelparteien in sämtlichen Umfragen chancenlos für eine Mehrheit im nächsten Landtag sind, läßt sich die ewige Nörgelei aus Bayern nur knacken, wenn die Bayer-Koalition zerbricht und die CSU notgedrungen SPD oder Grüne (die FDP ist marginal in Bayern) um Hilfe bitten muss. Darum, und um nichts anderes, geht es in diesem passend getimten Skandal.

 

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Wenn der Beschuldigte anstelle von rascher Vorwärtsverteidigung dann auch noch unprofessionell reagiert, kann es passieren, dass ein rund laufender Wahlkampfmotor urplötzlich ins Stottern gerät. Heerscharen von Reportern werden nun in den verbleibenden fünf Wochen bis zur Wahl recherchieren, ob Hubert Aiwanger die 25 Fragen über seine Verwirrungen als Halbwüchsiger ehrlich beantwortet hat. Sollten sie etwas finden, steckt auch Söder im Schlamassel.
 
Wenn nichts mehr auftauchen sollte, wäre es jedoch kein Wunder, wenn die Bayern-Koalition sogar gestärkt aus allem hervorgehen würde. Und zwar frei nach Asterix & Obelix: „Ganz Deutschland war ampelregiert. Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Bayern bevölkerter Landstrich hörte nicht auf Nein zu sagen“...

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