Sahra Wagenknecht und der Linksliberalismus - Die Selbstgerechte

Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht outet sich als Impf-Gegnerin. Ihr zufolge besteht das Problem nicht darin, dass sie sich nicht impfen lasse. Sondern dass „die Politik“ das Gesundheitswesen in den letzten Jahren an die Wand gefahren hätte. Das ist nichts anderes als selbstgerechte Verantwortungsabwehr.

Sahra Wagenknecht zu Gast bei Anne Will / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Sahra Wagenknecht ist eine kluge, aber umstrittene Frau. Dazu beigetragen hat im linken politischen Milieu auch die Tatsache, dass sie wenige Monate vor der Bundestagswahl mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ eine Abrechnung mit dem Mehrheitsflügel ihrer eigenen Partei vorlegte. Der sich anschließenden öffentlichen Debatte wird ein maßgeblicher Anteil der Wahlverluste der Linken bei der Bundestagswahl zugerechnet.

Vom Klassen- zum Kulturkampf

Der Kern ihrer Vorwürfe besteht darin, dass sich die Gestalt der politischen Linken in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert habe. Stammte die „traditionelle Linke“ noch zu erheblichen Teilen selbst aus dem unterprivilegierten Arbeitermilieu und kämpfte deshalb für die Rechte der Schwächeren der Gesellschaft, sieht Wagenknecht heute in linken Parteien vor allem selbstzufriedene akademische Emporkömmlinge aus der Mittelschicht am Werk.

Während es früher also um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, mehr Arbeitnehmerrechte ging, konzentriert sich die „neue Linke“ auf Lifestyle-Fragen: auf das genderkorrekte Umschreiben von Büchern wie „Pippi Langstrumpf“, um Stehpissoirs für Frauen, den Kampf gegen den längst verschollenen Kolonialismus, die Anerkennung multipler Geschlechtsidentitäten und den Konsum biologisch erzeugter Lebensmittel wie Erdbeeren – im Winter gerne auch aus Peru.

Dabei hat Wagenknecht „prinzipiell nichts dagegen“, wenn diese Lifestyle-Linken ihre eigenen Werte leben. Bedenklich wird es für sie aber, wenn die „neue Linke“ die eigenen „Privilegien für persönliche Tugenden“ hält und dem Mitmenschen mit der „Selbstzufriedenheit des moralisch Überlegenen“ begegnet. Das Problem entsteht also, wenn der Klassenkampf durch einen Kulturkampf ersetzt wird.

Corona und die Solidarität mit den Schwachen

Auch dieser Kulturkampf der selbsternannten „Linksliberalen“ trägt laut Wagenknecht zur Spaltung der Gesellschaft bei. Während unter „Liberalismus“ einmal eine Kultur der Toleranz zum Schutz der Meinungsfreiheit verstanden wurde, trete er heute in Gestalt eines gouvernantenhaften Umerziehungsanspruchs in Erscheinung. Es gehe darum, allen anderen die eigene Weltsicht samt dazugehörigem Lebensstil aufzunötigen. Den dadurch entstehenden kulturellen Spaltungen will sie wieder mehr „Solidarität“ und „Gemeinsinn“ entgegen setzen.

Von dieser Solidarität war allerdings bemerkenswert wenig zu spüren, als Wagenknecht jüngst bei Anne Will über die aktuelle Pandemie-Lage diskutierte. Sie selbst bekannte, bisher nicht geimpft zu sein. Sie sei nicht davon überzeugt, dass die neuartigen Impfstoffe nicht doch negative Langzeitfolgen haben könnten. Und außerdem sei nachgewiesen, dass auch Geimpfte das Corona-Virus übertrügen und erkranken könnten. Daher sollte man eine Impfung „nicht als Akt der Solidarität mit anderen aufblasen“.

Nun ist, was Wagenknecht ausführte, wahr und falsch zugleich: Ja, auch Geimpfte können sich anstecken, andere anstecken oder schwer erkranken. Aber dies ist nach allen relevanten klinischen Studien bei ihnen dramatisch weniger wahrscheinlich als bei Ungeimpften. Das versuchten Wagenknechts Mitdiskutanten, darunter der unvermeidliche Karl Lauterbach (SPD), auch ein ums andere Mal zu erklären. Allein: Es halft nichts. Wagenknechts Meinung stand fest.

Impfen ist nicht nur eine Privatsache

Dabei wäre das gar kein Problem, wenn es nicht Folgen für andere haben könnte – und schon wären wir bei dem Problem der mangelnden gesellschaftlichen Solidarität, das sie in anderen Politikfeldern so gern beklagt. Denn es ist ja eine Tatsache, dass die Intensivstationen heute ähnlich gefüllt sind wie vor einem Jahr und zugleich rund 4.000 Intensivbetten weniger zur Verfügung stehen. 

Was das für Folgen haben kann, ist nicht schwer zu prognostizieren: Galoppiert die Inzidenz weiter fröhlich davon, werden die Intensivstationen schnell am Anschlag arbeiten. Es bleibt dann nichts anderes übrig, als die Kliniken in anderen Bereichen wieder runterzufahren und Operationen zu verschieben. Es gibt darüber zwar keine verlässlichen Zahlen; aber auch das wird zu medizinischen Komplikationen und in Teilen mit Todesfolge führen – bei Nicht-Corona-Patienten. Aus gutem Grunde wird die große Politik derzeit ja auch nervös.

Wenn Wagenknecht trotzdem darauf beharrt, dass die Frage der Impfbereitschaft ganz allein eine individuelle Entscheidung sei, huldigt sie letztlich nicht nur selbst jener liberalistischen Selbstbezogenheit, gegen die sie ansonsten so gern anargumentiert, sondern verkennt auch das Wesen einer Pandemie. Die kann nämlich immer nur zustande kommen, wenn Menschen sich begegnen und einander infizieren. Das Aufeinanderbezogensein ist jeder Pandemie evolutiv einprogrammiert. Und daher kann auch niemand so tun, als gingen ihn die Folgen seines Handelns nichts an.

Immer sind die anderen schuld

Auf diesen Einwand freilich hat Wagenknecht eine Antwort. Das Problem sei nicht, dass sie sich nicht impfen lasse, sondern dass „die Politik“ das Gesundheitswesen in den letzten Jahren an die Wand gefahren hätte. Wäre das nicht so gekommen, stünden heute auch nicht 4.000 Intensivbetten weniger zur Verfügung als heute. Mit anderen Worten: „Wenn ich jemanden anstecke, und dieser Mensch wegen eingeschränkter Behandlungsmöglichkeiten stirbt, ist der Gesundheitsminister schuld.“ Das hat Wagenknecht so zwar nicht gesagt, ist aber letztlich die hinter ihren Argumenten stehende Logik.

Aber genau diese Logik kommt einem merkwürdig bekannt vor. Es ist die linksliberale Logik der selbstgerechten Verantwortungsabwehr. Man kennt das schon von den Kids von „Fridays for future“: Oma ist eine „Umweltsau“, und man selbst bloß Opfer und nie Täter. Daran kann auch nichts ändern, wenn Luisa Neubauer oder Rezo die politisch Verantwortlichen mit Vorwürfen überschütten und sich über deren klimapolitische Inkompetenz lustig machen, zugleich aber auf Instagram mit ihren weltläufigen und zahlreichen Urlaubsreisen posen.

Angesprochen auf diesen Widerspruch hat sich das Klimaschützer-Milieu mittlerweile eine schöne Volte zurechtgelegt: Nicht man selbst sei Schuld an den selbst verursachten CO2-Emissionen, sondern „die Politiker“ oder „das System“. Die könnten ja schließlich daran arbeiten, dass endlich emissionsfreie Flüge möglich wären oder so. 

„Wir müssen nicht alle Engel werden“, sekundierte dieser kindlichen Logik selbst der künftige grüne Bundesminister Robert Habeck im Wahlkampf. Man müsse die Klimapolitik „auf der allgemeinen Ebene“ organisieren, es brauche bloß eine „bessere Politik“ und „nicht individuellen Verzicht“.

Es ist wohl diese Haltung, die Wagenknecht meint, wenn sie den Linksliberalen vorwirft, die eigenen Privilegien zugleich für persönliche Tugenden zu halten. Man ruiniert zwar aufgrund der eigenen gehobenen sozialen Position den Planeten mehr als die häufig belächelten Ewiggestrigen, aber dieses Bewusstsein der moralischen Überlegenheit reicht offenbar aus, um ein besserer Mensch zu sein und den ökologischen Fußabdruck dadurch wieder wett zu machen.

Wagenknechts Linksliberalismus

Und genau diese selbstgerechte Verantwortungsabwehr findet sich bei Wagenknecht selbst, wenn es um die Pandemie geht. Mag ja sein, dass die Politik in den zurückliegenden Monaten Fehler begangen hat und den Rückgang an Intensivbetten hätte verhindern können. Nun aber ist die Lage, wie sie ist. Und kurzfristig lässt sich das ebenso wenig ändern wie der Klimawandel. Dabei wird in der Debatte gern ignoriert, dass die sinkende Bettenzahl gar nicht Folge von zu wenig Geld ist. Es sind vor allem Pflegekräfte, die aufgrund von Überlastungssituationen aus den Intensivstationen fliehen.

Wer erwachsen mit dieser Lage umgehen will, kann sich nicht wie Pippi Langstrumpf die Welt so machen, wie sie einem gefällt oder so tun, als hätte das eigene Verhalten keine Auswirkungen auf andere. Zumindest in dieser Frage steckt in Sahra Wagenknecht mehr linksliberaler Eigensinn, als ihr eigentlich lieb sein dürfte. „Lifestyle-Linken“ gleichzeitig vorzuwerfen, dass diese aufgrund ihrer gehobenen sozialen Stellung keine „Empathie“ mit anderen Menschen hätten, fällt in der Pandemie-Frage ein Stück weit auf Wagenknecht selbst zurück.

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