Cicero exklusiv - Roland Koch rechnet mit Merkel ab

Gegenwind aushalten, nicht vom Wind treiben lassen - so kann die CDU wieder Wahlen gewinnen, schreibt Roland Koch in der neuen Ausgabe des Cicero, die am Mittwoch erscheint. Mit dem Kurs der Kanzlerin geht der frühere hessische Ministerpräsident hart ins Gericht

Erschienen in Ausgabe
Die CDU müsse in Zukunftsfragen wieder mehr Kompetenz ausstrahlen, fordert Roland Koch / picture alliance
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Roland Koch war von 1999 bis 2010 hessischer Ministerpräsident. Seit November 2020 ist er Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung. Foto: Ludwig-Erhard-Stiftung

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Volksparteien sind eine Lehre aus den gesellschaftlichen Konflikten der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Sie haben die Kraft, eine Gesellschaft zu prägen und ihren inneren Frieden zu gewährleisten. Sie müssen die Fähigkeit haben, unterschiedliche Interessen und Meinungen zu bündeln, und sie müssen den Anspruch haben, immer wieder eine Mehrheit des Wahlvolks hinter ihren Ideen vereinen zu können.

Betrachtet man die aktuellen Zahlen, sind diese Ziele für die große Volkspartei SPD weitgehend unerreichbar geworden. Die im Vergleich zu europäischen Schwestern noch relativ stabile Union läuft Gefahr, diesem Schicksal zu folgen. Das ist nicht eine Folge gesellschaftlicher Entwicklungen, es ist das Versagen von politischer Führung.

Demokratische Gesellschaften sind offener und diverser

Das Postulat der „geistig-moralischen Wende“ durch Helmut Kohl wurde belächelt, aber alle erinnern sich an die Entschlossenheit zu Neuwahlen nach dem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum und die Durchsetzung des Nato-Doppelbeschlusses. Heute wissen wir, dass gerade dies unabdingbare Voraussetzungen für den Prozess der Wiedervereinigung waren. Hätte Kohl seine Entscheidungen von Meinungsumfragen abhängig gemacht, hätte er nichts bewirkt.

Alles Geschichte? Der in Deutschland stark unterschätzte Emmanuel Macron hat die Wahlen zur Präsidentschaft mit einem Bekenntnis zur Europäischen Union gewonnen – deutsche Demoskopen würden wahrscheinlich nicht einmal raten, das Thema überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen.

Volksparteien müssen mit Maß und Mitte führen, aber sie müssen führen. Ja, unsere demokratischen Gesellschaften des Westens sind offener und diverser geworden. Aber heute geht es um die Frage, an welchen Stellen und bei welchen Themen in unserer Gesellschaft der Eindruck entsteht, bestimmte Positionen würden von den gesellschaftlichen Wortführern ausgegrenzt, negativ sanktioniert und damit verdrängt. Weil Union und SPD zu stark auf den Konsens des ersten Tages setzen, „verschonen“ sie die Bürger mit allem, was sie empören und verunsichern könnte. Damit verengen sie die gesellschaftliche Debatte, weil sie die unverzichtbare Rolle des Provokateurs gesellschaftlicher Selbstgerechtigkeit und Sattheit nahezu ausschließlich den Rändern überlassen.

Marginalisierung der Volksparteien

Die Große Koalition und die damit verbundene permanente Verschleierung legitimer Konflikte durch Formelkompromisse ist die gouvernementale Ausprägung dieses Phänomens, das die Marginalisierung der Volksparteien vorantreibt. Solange sie besteht, können beide Volksparteien ihre eigentliche gesellschaftspolitische Verantwortung kaum wahrnehmen. Sind das einfache Floskeln oder kann man das an konkreten Beispielen veranschaulichen? Dazu drei Thesen:

1. Das Leitbild von Freiheit und Verantwortung verblasst. Die Union lässt es zu, dass für jedes Problem eine staatliche Regulierung herbeigerufen wird. Wer der Meinung ist, dass das Recht zum Scheitern, die Inkaufnahme von Risiken und die Ablehnung einer staatlichen Allzuständigkeit Ausdruck einer zukunftsgewandten, Wohlstand schaffenden und dem christlichen Menschenbild entsprechenden Werteordnung sind, gilt heute bestenfalls als „Neoliberaler“, dessen Zeit vorbei ist.

Keine jungen Wähler mehr

2. Das Wort Verteidigung läuft Gefahr, seine Bedeutung zu verlieren. Unsere äußere Stärke wird bestenfalls durch die Entsendung von Sanitätseinheiten und Spürtrupps demonstriert. Die Bundeswehr ist in der Verantwortung der CDU/CSU auf einen Stand ihrer Ausrüstung abgesunken, der kaum noch mehr zulässt. Die Verteidigung unserer Grenzen, seien es die europäischen oder die nationalen, ist von der Bundeskanzlerin als nicht mehr realistisch angesehen worden. Die „wehrhafte Demokratie“, die zur Verteidigung ihrer Bürger und Werte gegebenenfalls alle notwendigen Mittel bis zur Ausübung von Gewalt einsetzen können und wollen muss, hat ihre Anwälte der Mitte verloren.

3. Der Glaube an die kreative Kraft des Eigennutzes als Motor für Innovation und Verbesserung der Lebenssituation des Einzelnen und der Menschheit ist verdorrt, er löst keine Impulse der Motivation und Hoffnung mehr aus. Die Sprachlosigkeit der ganzen großen Union auf einen gelungenen Aufritt eines im besten Sinne provokatorischen Bloggers ist in erster Linie kein PR-Desaster, sondern die Dokumentation von Mutlosigkeit. Der Hunger verschwindet, die Leben werden länger, Menschen werden zur globalen Gemeinschaft, weniger sterben in Kriegen – und aus der ganzen Volkspartei CDU traut sich niemand mehr offen zu sagen, dass freie Menschen in freien Gesellschaften auch die ökologischen Herausforderungen lösen können, ohne einem unsozialen und defätistischen Verzicht das Wort zu reden. Das sind nur Beispiele. Aber für die Frage, wer sich noch emotional in den Volksparteien aufgehoben fühlt, und auch für die Frage, wer sich aus der jüngeren Generation noch für diese Volksparteien begeistern kann, sind sie elementar.

Der Kompromis steht am Ende

Will man diese Fähigkeiten zurückgewinnen, muss man fragen, warum sie verloren gingen. Heute fehlen Persönlichkeiten, die von einer Vision geprägt sind und die Bereitschaft zeigen, für diese Vision ihre politische Existenz zu riskieren. Solche Menschen sind keine Ideologen, sie werden nur erfolgreich sein, wenn sie eine wertgebundene und unverwechselbare Position ausdrücklich mit der Fähigkeit zum Kompromiss verbinden.

Das nämlich ist es, was eine Volkspartei ausmacht. Sie muss eine unverwechselbare Position entwickeln, begründen und anschließend Bündnispartner für eine möglichst prinzipientreue Durchsetzung suchen. Dabei hat die Volkspartei durch ihre innere Pluralität immer auch im Auge, die Durchsetzung dieser Position für die Andersdenkenden erträglich zu machen. Der Kompromiss steht nicht am Anfang, auch nicht als Schere im Kopf, sondern er steht am Ende. Er ist ein notwendiges Zugeständnis an den gesellschaftlichen Frieden. Ohne klare Positionen am Anfang ist ein solcher Kompromiss fade, unambitioniert und motiviert niemanden zum Engagement.

Keine Führungskräfte in Sicht

Die Leidenschaft des politischen Streites muss in der Mitte der Gesellschaft lodern, nicht an den Rändern! Die Unzufriedenen müssen sich hinter Volksparteien versammeln können, sonst werden sie eben radikal. Für diese Auseinandersetzungen um den richtigen Weg in der Mitte der Gesellschaft muss es Anwälte und Sprecher geben. Menschen, die prägnante Positionen mit Sachverstand und Autorität vertreten. Die Union mag da an so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Hans Katzer, Norbert Blüm, Alfred Dregger, Klaus Töpfer und Rita Süssmuth denken. An wen denken Sie heute? Wer sind die glaubwürdigen Protagonisten der ökologischen Herausforderung in Union und SPD? Wie kann es sein, dass den Volksparteien die Führungscharaktere abhandengekommen sind?

Es gibt eine wohlfeile Ausrede. Sie lautet: Die Wähler wollten es so. Hat nicht Angela Merkel mit der asymmetrischen Demobilisierung große Erfolge erzielt? Will die Mehrheit der Deutschen nicht gerade diese langweilige und ideenlose Große Koalition? Ja, vielleicht ist es so. Aber hier werden die mittel- und langfristigen Mechanismen der Demokratie verkannt. Wer von uns will Kontroversen entscheiden, Interessen abwägen, Streit aushalten? Solange das Angebot von Parteien lautet, auf diesen Streit zu verzichten, werden sie nicht viele hinter sich versammeln.

Es geht um die Grundeinstellung, nicht einzelne Fragen

Am Ende dieses Prozesses steht aber eben nicht die Zufriedenheit aller. Die Zahl derer, die sich ärgern, sich abwenden oder Parteien suchen, die es „denen da oben“ einmal richtig zeigen, wird immer größer. Es gibt ja auch keinen übergeordneten Grund mehr zu einer bestimmten politischen Loyalität. Kein Wähler kann sich mit allen Entscheidungen und gar mit allen Kompromissen „seiner“ Partei wirklich einverstanden erklären. Das wäre ja auch schlimm. Loyalität entsteht aus dem „trotzdem“. Man ärgert sich über eine Entscheidung oder auch mehr, aber man unterstützt doch die ganze Richtung. Man ist ja bei Wahlen gerade nicht nach einzelnen Entscheidungen, sondern dieser grundsätzlichen Richtung gefragt. Da sind wir wieder bei der Rolle der Volksparteien, die man wegen einer vermuteten Grundeinstellung, nicht aber wegen einzelner Fragen, und seien sie noch so wichtig, wählt.

Beide große Volksparteien haben in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts den Weg eingeschlagen, die grundsätzlichen Unterschiede zu nivellieren. Ihr langfristiges gemeinsames Regieren ist ein sichtbarer Ausdruck. Damit haben sie aber nicht nur die Leidenschaft, sondern auch die Motivation des „trotzdem“ von der Mitte an die Ränder geschoben. Anschließend die Wähler zu beschimpfen, die kein „trotzdem“ mehr kennen und ihre eigenen Interessen an den Rändern – und sei es nur, um „denen da oben“ vors Schienbein zu treten – gut vertreten sehen, ist sinnlos.

Viele Erfolge in der Geschichte

Man kann diese Entwicklung nicht vollständig beschreiben, ohne auf die Rolle der Meinungsforschung einzugehen. Dieses Handwerk, das keineswegs eine Wissenschaft ist, hat die Prognosehoheit über zukünftiges Wählerverhalten übernommen. Demoskopie kann kurzfristige Wahlentscheidungen vorhersagen und Wahlergebnisse erklären. Die Meinungsbildung darf sich Politik aber nicht von der Meinungsforschung abnehmen lassen. Von Erhard und der Freigabe der Preise über Adenauer und die Gründung der Bundeswehr, von Brandts neuer Ostpolitik und Kohls Nato-Doppelbeschluss bis zu Macrons Europakurs, all diese Entscheidungen waren nicht von Demoskopen geboren, sondern von Politikern gegen Widerstände und meist gegen den anfänglichen Mainstream erkämpft. Genau darin liegt der Beruf des Politikers. Und diese Schlüsselqualifikation muss der nächste Kanzlerkandidat der Union haben – wer auch immer es wird.

Alles hier Beschriebene ist änderbar. Die Geschichte der Volksparteien und ihrer Führungen kennt viele Erfolge. Also ist die Wiedergewinnung der Stärke, um aus der Mitte heraus zu gestalten, möglich. Aber es muss schnelle und sichtbare Änderungen geben. Viele Faktoren und Akteure müssen zusammenwirken. Patentrezepte zu verkünden, wäre nur arrogant. Dennoch einige bewusst unvollständige und tagesaktuelle Ideen zum Schluss:

Mehr Visionen für die Zukunft

– Die CDU sollte schnell entscheiden, ob sie die Apokalypsetheorie der Fridays-for-Future-Bewegung teilt oder an die Chancen des technischen Fortschritts glaubt. Sollte sie, was ich hoffe, von der Fähigkeit zur Bewältigung der Herausforderung überzeugt sein, dann muss es gesagt und der Bewegung widersprochen werden. Die Union muss Galionsfiguren dieser Debatte stellen.

– Die Klimadebatte mag auch als Beispiel für den Punkt gelten, dass die Argumentationsenthaltung der Führung und besonders der Bundeskanzlerin aufhören muss. Deutschland braucht eine Kanzlerin, die durch das Land reist und für ihre Konzepte, auch ihre Kompromisse wirbt. Ihr baldiges Ausscheiden ist keine hinreichende Erklärung.

– Die Union muss das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen, dass sie willens und in der Lage ist, die Grenzen Deutschlands und Europas zu schützen. In keiner Demokratie werden die Wähler es ihren Parteien erlauben, bei dieser Frage zu kapitulieren. Migration ist nicht das einzige wichtige Thema in Deutschland, aber die Union muss verhindern, dass es zum einfachen Symbol des Vertrauensverlusts vieler traditioneller Wähler wird.

– CDU und CSU müssen die Freude an Innovationen verkörpern, junge und mutige Unternehmer feiern, den Besitz an Aktien verbreitern. Der verantwortliche Umgang mit Daten, aber auch das Recht ihrer Nutzung müssen ein besonderes Anliegen sein. Dazu gehört natürlich auch, dass die CDU öffentlich so agiert, dass man ihr glaubt, sie könne selbst mit den neuen Formen der sozialen Medien etwas anfangen.

Der Preis der Opposition

– Die Union muss den Mut wiedergewinnen zu sagen, dass unanständiges Verhalten kein Ausdruck von Modernität ist. Das gilt es mit Härte gegenüber Zuwanderern zu vertreten, aber mit ebensolcher Klarheit gegenüber Mitbürgern, die glauben, Freiheit sei ein ungebundener Anspruch, seinen Egoismus ausleben zu können. Bürger, die in ihrer Nachbarschaft jede weitere Bebauung bekämpfen, Initiativen, die aus Prinzip gegen jede Maßnahme klagen, aber auch Bürger, die Polizisten und Sanitäter im Einsatz beschimpfen oder gar angreifen, schaden unserer Gemeinschaft und müssen den Widerstand aus der Mitte heraus spüren.

Wer will, dass Menschen ihm folgen, muss als Erster vorangehen. Geschützt durch Werte und Visionen, nicht durch die Prognosen von Meinungsforschern. Die Führung einer Partei muss von den eigenen Ideen so überzeugt sein, dass sie bereit ist, dafür den Preis der Opposition zu zahlen. So errungene Stärke ermöglicht den Kompromiss mit ebenfalls kompromissbereiten Mitbewerbern. Nur wenn sich die beiden großen Volksparteien diesen Konflikt wieder zutrauen, haben sie eine gute Chance, Zukunft zu gestalten. 

Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie ab Mittwoch am Kiosk oder ab direkt bei uns portofrei kaufen können.

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