Rechtsextremismus und Corona-Proteste - Florett statt Nazi-Keule

Die derzeitigen Proteste gegen staatliche Corona-Maßnahmen in vielen Städten zeigen: Wo sich Spaltungspotenziale gegen „die Herrschenden“ ausfindig machen lassen, sind auch die Gesellen vom rechten Rand zur Stelle. Aber es ist ein schwerer Fehler, deswegen gleich alle Demonstranten mit der Nazi-Keule treffen zu wollen.

Demonstranten protestieren gegen die Corona-Politik der Bundesregierung und eine mögliche Impfpflicht / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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In ganz Deutschland und Europa versammeln sich in immer mehr Städten Bürger, um gegen die Coronamaßnahmen zu demonstrieren. Ob Wien, Hamburg, Rostock, Leipzig oder München: Regelmäßig sind tausende von Menschen unterwegs, um ihrem Unmut insbesondere über die angedachte gesetzliche Impfpflicht Luft zu machen. Immer mit dabei: Kameradschaften und Neonazis aus allen Teilen des Landes.

Es ist vor allem deren Anwesenheit, die zum politischen Zankapfel und Anlass ausgreifender Berichterstattung wird. Kaum ein Beitrag erscheint dieser Tage, in dem auf die Teilnahme rechter Kreise an diesen Demonstrationen nicht hingewiesen wird. Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) sieht dabei in der AfD den eigentlichen „Treiber der radikalen Corona-Proteste“. Sie habe das Ziel, den Staat verächtlich zu machen: „Diese Partei ist dabei, die Demokratie von innen auszuhöhlen.“ Und so geraten unbescholtene Bürger, die sich auf Demonstrationen im besten liberalen Sinne bloß auf ihre Grundrechte berufen, dieser Tage zwangsläufig in ein fragwürdiges Licht. Westdeutsche Altlinke mit einem Faible für Zuckerkügelchen gehören ebenso dazu wie ostdeutsche Konservative, die von einem Staat, der ihnen allzu sehr in ihrem Privatleben herum reguliert, schon vor Jahrzehnten die Nase voll hatten.

Noch weiter als Innenminister Maier gehen die Teams zur „Mobilen Beratung“ gegen Rechtsextremismus in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. In einer jüngst vorgelegten gemeinsamen Erklärung betonen sie zwar, dass sich mit den aktuellen Demonstrationen „derzeit (!) keine geschlossene rechtsextreme Bewegung“ formiere – aber eines ist für die Vertreter dieser zivilgesellschaftlichen Initiativen dennoch klar: „Einen Großteil der Protestierenden eint (...) eine aggressive Haltung gegen die parlamentarische Demokratie und ihre Vertreter*innen. Die Demonstrationen sind geprägt von autoritären Narrativen, antisemitischen Verschwörungserzählungen und einer verharmlosenden Instrumentalisierung der Geschichte des Nationalsozialismus.“ Manch ein bürgerlicher Demonstrationsteilnehmer, der diese Zeilen liest, mag sich darob verwundert die Augen reiben.

Aufstand der Anständigen

Es sind drei Faktoren, die diese Wahrnehmungsverschiebung „vom Liberalen zum Nazi“ herbeigeführt haben. Am Beginn der Entwicklung stand die Ausrufung eines „Aufstandes der Anständigen“ im Oktober 2000 durch den SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Er reagierte damit auf einen Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge.

Es blieb allerdings nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen. In ganz Deutschland wurden spontan Demonstrationen und Lichterketten veranstaltet, und der Bund mobilisierte fortan erhebliche finanzielle Mittel, um bis heute im ganzen Bundesgebiet „Aktionspläne“ gegen Rechtsextremismus ins Leben zu rufen. Gehörte die Abwendung vom Nationalsozialismus schon immer zum Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland, wurde sie nun über die rot-grüne Bundesregierung zu einem tragenden Konsens zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit.

Der zweite Faktor liegt in der rechtsextremen bzw. rechten Szene selbst begründet. Immer dann und immer dort, wo sich bis in die bürgerliche Mitte hinein entlang an bestimmten Themen Spaltungspotenziale gegen „die Herrschenden“ ausfindig machen lassen, sind die Gesellen vom rechten Rand zur Stelle. Gegen diese Vereinnahmungsversuche im öffentlichen Raum lässt sich indes nur wenig ausrichten. Jedenfalls ist kaum vorstellbar, dass in Deutschland künftig der Teilnahme an einer Demonstration eine Gesinnungsprüfung vorausgeht.

Der Mechanismus, dessen Zeugen wir seit geraumer Zeit sind, funktioniert allerdings genau umgekehrt. Ein tragender Teil der politischen Öffentlichkeit instrumentalisiert nun seinerseits die Anwesenheit Rechter auf Anti-Corona-Demonstrationen, um die Anliegen der übrigen Demonstranten weidlich zu skandalisieren. Und das liegt an einem dritten Faktor.

Zurück zur Gemeinschaft

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich im Westen als ein Wandel von der „Gemeinschaft zur Gesellschaft“ (Ferdinand Tönnies) oder als „reflexive Modernisierung“ (Ulrich Beck) charakterisieren. Schritt für Schritt verloren gemeinschaftsbezogene Traditionen und Selbstverständnisse immer mehr an Relevanz, und immer mehr rückte das Individuum ins Zentrum politischer Vergesellschaftung. Schon lange geht es in der Politik nicht mehr um die Pflichten, die das Individuum der Gemeinschaft für ihr Funktionieren schuldet, sondern um die Rechte des Einzelnen, für die die Gesellschaft einzustehen hat.

Die allgegenwärtige Dominanz dieser liberal-individualistischen Erwartungshaltung gegenüber Staat und Gesellschaft hat allerdings wesentliche Erfolgsbedingungen, denn auch die Realisierung von Bürger- und Menschenrechten findet nicht im luftleeren Raum statt: eine auskömmliche Reichtumsentwicklung und die Abwesenheit gesamtgesellschaftlicher Krisenzustände. Nur so lange der Rubel rollt, lassen sich die zahlreichen Wünsche fordernder Staatsbürger auch erfüllen. Der opferfreie individualistische Liberalismus erweist sich am Ende als eine Schönwetterideologie.

Mit Corona haben wir allerdings beides nicht mehr: sprudelnde Geldquellen und eine heile Welt. Die Politik kann in dieser Situation gar nicht anders, als den Spieß wieder umzudrehen, also die Gemeinschaft gegenüber der Gesellschaft der Individuen zu stärken und anstatt weitere Geschenke zu verteilen von seinen Staatsbürgern umgekehrt Opfer zu verlangen. In einer Gesellschaft, die seit 100 Jahren auf die Rechte des Individuums konditioniert ist, muss das manchen als unerträgliche Zumutung erscheinen. Zumindest dann, wenn der Staat mittels Impfpflicht gar in die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger eingreifen will.

Moralisierung als Herrschaftstechnik

Und da kommt das Problem: Die Regierenden haben nicht die Zeit, nun über Monate und vielleicht Jahre in eine ethisch-politische Verständigung mit den Zweiflern und Zögerern über die Tatsache einzutreten, dass die Party zumindest für eine gewisse Zeit ausgesetzt werden muss. Der Takt für die erforderliche Entscheidungsgeschwindigkeit wird vielmehr von einem diskursunfähigen Virus vorgegeben.

Handlungsfähigkeit lässt sich unter solchen Umständen nur herstellen, indem die Komplexität reduziert und der Diskurs abgekürzt wird – und das geschieht am besten mittels Moralisierung. Während jeder echte Diskurs das Abwägen von Argumenten mit ungewissem Ausgang zur Folge hätte, verspricht allein die Moralkeule eine effektive Herrschaftstechnik zu sein. Indem die Träger abweichender Meinungen moralisch zu Unpersonen erklärt werden, fallen ihre Gegenargumente zugleich der Bedeutungslosigkeit anheim.

Und deshalb kommen die rechten „Schwurbler“ und „Querdenker“ auf Anti-Corona-Demonstrationen so manchem politischen Debattenteilnehmer gerade recht. Wenn es sie nicht ohnehin gäbe, müsste man sie direkt erfinden. Aber dank ihrer Existenz und einer in 20 Jahren etablierten „Kultur der Anständigen“, auf die auch dieser Tage problemlos assoziativ Bezug genommen werden kann, fühlt sich die Verächtlichmachung von Teilnehmern auf Anti-Corona-Demonstrationen fast wie ein antifaschistischer Kampfbeitrag an.

Die Nazikeule als Florett

Schon zu Beginn der Pandemie hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geahnt, dass man sich am Ende werde gegenseitig vieles verzeihen müssen. Er hatte offenbar von Anfang an ein Gespür dafür, dass die Pandemie nicht nur ohne Fehlentscheidungen nicht auskommen wird, sondern auch nicht ohne erhebliche individuelle Zumutungen. Schien es zunächst so, als würde die Pandemie das Flüchtlingsthema von der politischen Tagesordnung abgesetzt und der AfD damit den elektoralen Humus geraubt haben, könnte ihr die aufgeheizte öffentliche Debatte nun zumindest im Osten zu einem Wiederauferstehungsprogramm verhelfen. 

Während seinerzeit die Flüchtlinge Stein des Anstoßes waren, richtet sich der Mobilisierungsprotest nun auf den Kern unseres rechtsstaatlichen Selbstverständnisses. Gerade weil Teile der bürgerlichen Mitte aus ihrer Sicht nichts anderes tun, als ihre Grundrechte in bester liberaler Tradition gegen den Staat zu verteidigen und sie scheinbar genau dafür in die rechte Ecke gestellt werden, könnte das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat bei ihnen dauerhaft beschädigt werden. Für die AfD freilich wäre das ein gefundenes Fressen, könnte sie sich doch als Anwalt dieser Leute und damit als die eigentliche Rechtsstaatspartei inszenieren.

Angesichts des Geistes unserer Verfassung und unseres politischen Grundkonsenses gibt es kaum eine größere moralische Unwerterklärung als jene, in die rechtsextreme Ecke gestellt zu werden. Wer über hinreichend Selbstachtung verfügt, wird sich von einer solchen Frechheit nicht ohne weiteres wieder erholen wollen.

Man bedenke daher: Die Pandemie wird irgendwann vorbei sein. Und dann müssen wir alle in dieser Republik wieder miteinander in Eintracht klarkommen. Dafür wäre es nützlich, zuvor nicht allzu viel gemeinsames Porzellan zerschlagen zu haben. Gerade weil der Anti-Nationalsozialismus den wesentlichen Gründungsmythos unseres Rechtsstaates bildet, sollte man mit der Nazikeule daher eher wie mit einem Florett umgehen. Oder sie, wo möglich, gleich ganz stecken lassen.

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