Pressekonferenzen zu neuen Corona-Beschlüssen - Merkel fahrig, Söder riskant, Laschet im Aus

Eine fahrige Kanzlerin, ein machtbewusster Söder, Armin Laschet in der Defensive: Der gemeinsame Beschluss von Bund und Ländern sorgt für Eigenlob, Einsicht und Vernunft und ist doch nur ein Zwischenschritt. Die Coronakrise erschüttert die Politik – mit dramatischen Folgen.

Söder, Merkel, Tschentscher: Die Grenzen der Kompetenz / dpa
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Die Lage ist verwirrend, war verwirrend, bleibt verwirrend. Die Coronakrise, in die Deutschlands Regierungen stolperten, ohne vorbereitet gewesen zu sein, wirft prinzipielle Fragen nach dem Wesen des Politischen auf: Kann Politik der Wissenschaft folgen, wenn die Stimme der Wissenschaft ein vielstimmiger Chor ist? Darf sie es? In welchem konkreten Verhältnis stehen die Freiheitsrechte der Bürger und die Schutzpflicht des Staates für seine Bürger? Ab welchem Punkt überwiegen die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nebenfolgen die Vorteile eines funktionierenden Gesundheitssystems? Darauf gab es heute keine Antwort. Wohl aber wissen wir nach der gemeinsamen Konferenz von Bund und Ländern: Das Corona-Jahr ordnet die politischen Verhältnisse ganz neu.

Als wäre der föderale Flickenteppich in Deutschland nicht herausfordernd genug, zeigt sich in der Krise Europa als Ansammlung heterogener Interessensgemeinschaften. Man sagt gerne, eine Krise, die alle betreffe, könnten nur alle gemeinsam lösen. Das stimmt theoretisch. In der Praxis ist jede Regierung ihrem Souverän verantwortlich und entscheidet aufgrund der nationalen Lage. Man kann es keinem verdenken. Und so hat Dänemark seine Kindergärten und Schulen bis zur fünften Klasse wieder eröffnet, während Frankreich am totalen Lockdown bis zum 11. Mai festhält. Neuseelands Regierung verzichtet aus Gründen der Solidarität ein halbes Jahr lang auf 20 Prozent des Gehalts. In Deutschland, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert, ist von vergleichbaren Plänen nichts bekannt. Immerhin stellte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Aussicht, „die meisten Menschen“ würden nach der Corona-Krise „erstmal ärmer sein.“ 

Wie soll das gehen?

Der grüne Spitzenpolitiker Kretschmann war es auch, der ein „Maskengebot“ beim Einkaufen, in den Schulen und im Nahverkehr forderte und ab 27. April Schulen sukzessive wieder öffnen will, beginnend mit den Abschlussklassen. Damit verwarf er wie viele Politiker die Anregung der Leopoldina, zunächst sollten die jüngeren Schüler in Kleingruppen in den Unterricht zurückkehren. Bayerns Ministerpräsident Söder wandte sich gegen eine „zeitnahe“ Schulöffnung nach dem 19. April. Die nordrhein-westfälische Landesregierung unter Armin Laschet präferierte eine Eröffnung ab diesem frühen Zeitpunkt, während die Berliner Landesregierung vor übereilten Maßnahmen warnte. Bodo Ramelow brachte aus Thüringen die Anregung ins Spiel, gegebenenfalls die Schulpflicht für das Jahr 2020 aufzuheben. Alle betonten, man müsse gemeinsam handeln, „wir brauchen einen Konsens der 16 Länder.“ (Laschet) Wie soll das gehen?

Als heute Abend Merkel und Finanzminister Scholz und die Ministerpräsidenten Söder und Tschentscher mit fast zweistündiger Verspätung vor die Presse traten, war der Handlungsauftrag rasch klar. Lob war angesagt, Lob für „die Bürgerinnen und Bürger“ und deren „großes Verständnis“ für „drastische Maßnahmen“ (Scholz), aber auch Eigenlob. Der Mann aus Bayern brillierte in dieser Disziplin. Kaum hatte die Kanzlerin ihren überraschend fahrigen Vortrag beendet, dem die konkret beschlossenen Maßnahmen nur episodisch zu entnehmen waren und in dem sie einmal 800 mit 8000 Quadratmetern verwechselte, spurtete Söder los, als gäbe es kein Morgen. In Deutschland sei es gelungen, Corona „anders unter Kontrolle zu halten als in den meisten anderen Ländern“; man habe rechtzeitig gehandelt. Vor der Berliner Pressekonferenz hatte der Fernsehsender Phoenix indes eine Reportage ausgestrahlt, in der der Virologe Alexander Kekulé klagte, Deutschland habe im Februar durch eine zu späte Reaktion auf die Nachrichten aus China zwei wertvolle Wochen verloren.

Söders riskante Aussage

Söder, einmal in Fahrt, reklamierte „Weitblick und Überblick“ für Deutschland, für Bayern, für sich. Anders als „viele andere Länder der Welt“ könnte Deutschland sogar gestärkt aus der Coronakrise hervorgehen, das deutsche Gesundheitssystem habe den „internationalen Bewährungstest im Moment bestanden.“ Das kann man konzedieren, ja, doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Riskant auch Söders Ansage, das Ausland schaue staunend auf das „in Europa einmalige Finanzkonzept“ des Kollegen Scholz und generell auf den deutschen Weg im Umgang mit der Krise. Söder aber war es auch, der am 20. März bei einer Pressekonferenz in München ankündigte, nun werde Bayern sich mit seinen Maßnahmen „1 zu 1 an Österreich orientieren". Ist es dann nicht eher ein österreichisch-deutscher Weg mit Patentrechten für Wien, nicht für Berlin, nicht für München, nicht für Markus Söder?

Was konkret beschlossen wurde von Bund und Ländern, kann nachgelesen werden auf den Seiten der Bundesregierung. Darauf wies Regierungssprecher Seibert eigens hin, als habe auch er den Eindruck gewonnen, da sei zu wenig Beef gewesen bei den lobenden Redebeiträgen. Alle Kontaktsperren werden bis zum 3. Mai aufrechterhalten,Großveranstaltungen – was immer das im Einzelnen sein mag – sollen bis Ende August ausfallen, Restaurants bleiben geschlossen, ein „Maskengebot“ gilt im öffentlichen Nahverkehr und beim Einkaufen. Keine Frage: All das ist vernünftig. Merkel hat Recht, wenn sie von einem „zerbrechlichen Zwischenerfolg“ spricht, vor „falschem Vorpreschen“ warnt und ein „Leben mit dem Virus“ solange sieht, bis ein Impfstoff gefunden sein wird. Das ist wahrlich eine „neue Normalität“ (Scholz), eine neue Kultur der Distanz, die „über Monate noch“ (Tschentscher) andauern wird.

Streiten kann man sich über das geringe Vertrauen in die Kirchen und das große Vertrauen in den Einzelhandel. Geschäfte bis 800 – nicht 8000 – Quadratmeter Verkaufsfläche dürfen öffnen, wenn sie ein Schutz- und Hygienekonzept vorlegen, sowie „unabhängig von der Verkaufsfläche Kfz-Händler, Fahrradhändler, Buchhandlungen“. Kirchen mit einer vergleichbaren Größe traut man es offenbar nicht zu, solche Konzepte zu entwickeln und durchzusetzen. Die Säkularisierung buchstabiert sich auch unter hygienepolitischen Vorzeichen scharf aus. Noch in dieser Woche wollen die Regierungen Vertreter der Glaubensgemeinschaften zum Austausch treffen.

Söder sind eine Fläche von 800 Quadratmetern zu groß. Die Bundesländer, setzte er hinzu, seien nicht gezwungen, diese Obergrenze auszuschöpfen, Bayern werde es voraussichtlich nicht tun. Armin Laschet hingegen heftete sich in einer Düsseldorfer Separatpressekonferenz im Anschluss das Flächenmaß ans eigene Revers. Die 800 Quadratmeter seien „von Nordrhein-Westfalen eingebracht“ worden. Mehr gab es für einen in die Defensive gedrängten Bewerber um den Parteivorsitz der CDU nicht zu holen. Neben der Kirche ist Laschet der große Verlierer des gemeinsamen Beschlusses. Süffisant erging sich Söder in der Betrachtung des eigenen Erfolgs, als er darlegte, die „vorsichtigeLinie“, die bayerische Linie habe sich durchgesetzt. Je länger die Corona-Krise dauert, desto stärker schwinden die Aussichten des Armin Laschet auf den Parteivorsitz. Der Eindruck auch heute war: Laschet kann hinterher erklären, warum etwas anders kam als gedacht. Er ist als Plauderer und Zauderer gut besetzt.

Naturgemäß wolkig

Nordrhein-Westfalen wird ab „kommender Woche“ – wann genau? – die schulische „Vorbereitung der Abschlussklassen“ gestatten, ab dem 4. Mai dann auch „andere Schulen, die im nächsten Jahr Prüfung haben, und die letzte Grundschulklasse“ zum Unterricht zulassen. Wer wissen will, was damit gemeint ist, muss in den Berliner Text schauen: „Ab dem 4. Mai 2020 können prioritär auch die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen und qualifikationsrelevanten Jahrgänge der allgemeinbildenden sowie berufsbildenden Schulen, die im nächsten Schuljahr ihre Prüfungen ablegen, und die letzte Klasse der Grundschule beschult werden.“ Fahriger noch, zugleich auffahrender als Merkel verhedderte Laschet sich in Bestimmungen, die präzise zu benennen ihm nicht gelang. Soviel immerhin ist klar: Bayern wird erst ab dem 11. Mai Abschlussklassen wieder unterrichten, eine Woche später als Nordrhein-Westfalen.

Die Kanzlerin war für den Überbau zuständig, wo es naturgemäß wolkig zugeht. Vom „gemeinschaftlichen Geist“ sprach sie und vom „Wunder“ des Föderalismus. Scholz hatte sich das Begriffspaar „Augenmaß und Zuversicht“ zurechtgelegt, das er dreimal ausspielte. Den besten Eindruck hinterließ in seiner ruhigen, nicht auftrumpfenden Art Peter Tschentscher. Mancher Genosse mag sich beim Anblick von Olaf und Peter gedacht haben, was für ein Jammer es eigentlich ist, dass die Basis sich für Saskia (Esken) und Walter (Norbert-Borjans) an der Spitze entschied. Mit Scholz und Tschentscher wäre mehr Staat zu machen.

Die Grenzen der Kompetenz

Inkongruenzen lassen sich nicht mit Lob bemänteln. Wenn Restaurants geschlossen bleiben, weil man in ihnen ja tatsächlich nicht mit den nun für geboten erklärten „Alltagsmasken“ konsumieren kann – warum sollen dann Friseure ab dem 4. Mai öffnen? Wie schneidet man Haare, wenn der Kunde eine Maske trägt, die bekanntlich am Ohr befestigt ist? Und der Friseur soll acht Stunden lang ins Vlies atmen? Auch die offene Frage nach der Zulässigkeit von Geisterspielen im Fußball oder zurückgeschrumpften Großveranstaltungen, etwa 200 Leuten im Opernhaus mit 1500 Sitzen, wird mit Macht auf die Agenda zurückkehren. 

Alle 14 Tage sollen die Maßnahmen überprüft werden. Bis dahin, so noch einmal Söder, leiste „jeder das Beste, was er kann.“ Die Grenzen der Kompetenz werden in Krisenzeiten offenbar. Krisen sind die großen Enthüller, und was sie morgen offenbaren werden, weiß heute kein Mensch.

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