Politikfähigkeit der Grünen - Wenn Befindlichkeiten wichtiger sind als Tatsachen

Nicht nur mit ihrer Klimapolitik, die steigende Preise und Wohlstandsverluste für Normalverdiener bedeutet, beweisen die Grünen einen eklatanten Mangel an Regierungsfähigkeit: Denn man kann nicht gleichzeitig einem Land dienen und dessen Bevölkerung verachten.

Demnächst auch vor Ihrem Wohnzimmerfenster: Windräder, hier in Bayern / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Muss man als Politiker sein Land lieben und die Menschen, die dort leben, dazu? Natürlich nicht. Gustav Heinemann achtete sein Land, aber er liebte seine Frau – das genügte der Bevölkerung bereits in den 70ern vollauf. Mehr verlangte sie von ihrem Präsidenten nicht, empfand vielmehr diese Abgrenzung zwischen Öffentlichkeit und Privatleben als sinnvoll und angenehm, als zartes Zeichen, dass der höchste Repräsentant des Staatswesens Grenzen eben jenes Staates kennt und respektiert.  

Es ist diese Abgrenzung zwischen Draußen und Drinnen, zwischen Masse und Individuum, die ausgerechnet den Grünen aber heute nicht mehr gelingt. Und jene Indifferenz, jene Nicht-Diskriminierung im Sinne einer Unfähigkeit der Unterscheidung, hat sie bereits vier Wochen nach der Amtsübernahme in große Schwierigkeiten gebracht und wird das auch weiter tun, vielleicht sogar exponentiell.  

Die Grünen haben offensichtlich immer noch nicht begriffen, dass man ein Land und eine Bevölkerung nicht zugleich verachten und ihm und ihr dienen kann. Das geht ab sofort auf Kosten des Dienens. Das Misstrauen, mit dem sie den Menschen jenseits der eigenen Ideologie begegnen, schlug bereits am Wahlabend auf sie zurück und hat sich seither sogar noch vergrößert. Als ob sie alle Vorurteile doppelt und dreifach bestätigen wollten, mischen sie sich, beleidigt von der gemeinen Welt, die dauernd auf allen möglichen Feldern, im Inland wie im Ausland, nicht so will wie sie, stattdessen immer stärker in genuin private Entscheidungen ein. 

Klima vor Natur – das neue Mantra 

Vor die Wahl gestellt, Deutschland voranzubringen oder die eigenen Befindlichkeiten nach langer Dürrezeit zu befriedigen, tendieren sie zu Letzterem, was ihrem Ansehen weiter schadet. Ergebnis: In der Silvesternacht, nicht einmal vier Wochen nach Amtsantritt, flog ihnen ihr Moralismus bereits so richtig um die Ohren. Das rote Tuch „Atomkraft“ ließ ihren Verstand schmelzen – ein Vorgang, der zeigte, dass sie nie wirklich von der Anti-Akw- zur Naturschutzpartei geworden sind.  

Folgerichtig wird ihr Klimaminister Robert Habeck bereits an diesem Dienstag per Pressekonferenz klarstellen, dass Naturfreunde, lokale Bürgerinitiativen und Tierschutzgruppen ab sofort die Klappe zu halten haben, wenn es darum geht, neue Windkraftanlagen gegen jeden Widerstand in der Fläche durchzusetzen, insbesondere durch eine drastische Einschränkung des Rechtsweges. Wenn es für eine vermeintlich gute Sache ist, holt Habeck ab sofort den ganz großen Bulldozer heraus. Regelrecht pervers: Beim Versuch, stillgelegte Bahnstrecken zu reaktivieren, hat man vielerorts ebenfalls die Grünen am Hals, die verbissen um jeden Kilometer Radweg kämpfen, am liebsten beleuchtet, mit Heizung und vierspurig für den eiligen Pedelec-Pendler.  

Klima (abstrakt irgendwann) vor Natur (konkret heute) – das ist die Priorität des amtierenden Vorsitzenden der Grünen. Schöne Grüße von Holger Börner (SPD) und Roland Koch (CDU), möchte man da sagen. Die hessischen Ministerpräsidenten formulierten damals ganz ähnlich die Alternative „Wohlstand (morgen) gegen Wald (heute)“ und paukten nach der Startbahn West 20 Jahre später auch noch die Landebahn Nord-West durch, der – gegen alle damaligen Versprechen – dann der Schwanheimer Wald zum Opfer fiel. Sie dürfte man mangels Auslastung schon bald zurückbauen und wieder aufforsten, wenn Prognosen eintreffen, nach denen sich der Luftverkehr nie wieder ganz vom Corona-Einbruch erholen wird. 

Vom EU-Anhimmler zum Europagegner 

Anstatt sich mental und praktisch auf ihre neue Rolle als Regierungspartei vorzubereiten, pflegten die Grünen 16 Jahre lang in der Opposition ihre eigenen Illusionen und Befindlichkeiten. Nicht einmal auf den ja nun wirklich nicht neuen und überraschenden Widerspruch von CO2-Reduktion und Atomausstieg waren sie auch nur minimal vorbereitet. Im Gegenteil: Eine einzige E-Mail aus Brüssel genügte ihnen, um wenige Minuten vor Silvester vom EU-Anhimmler zum Europagegner mutieren, weil sie anders mit ihrer kognitiven Dissonanz nicht fertig werden.  

Das ist so armselig, dass nicht einmal der so verständnisvolle Spiegel es noch schönreden wollte: „Die teils wütenden Reaktionen der Grünen auf die Entscheidung aus Brüssel sind insofern nicht restlos nachvollziehbar.“ Die Abschaltung von weiteren drei Atomkraftwerken zeigte bereits in den ersten Tagen des neuen Jahres die vorhergesagten Folgen: Bei gleichbleibender Einspeisung erneuerbarer Energien stieg der deutsche CO2-Ausstoß entsprechend an, weil der Atomstrom erwartungsgemäß durch fossile Energien ersetzt werden musste.  

Das kommt davon, wenn Ideologie wichtiger ist als Wissenschaft, Befindlichkeiten einer 14-Prozent-Partei wichtiger als Fakten. Der unheilvolle Drang, Umweltpolitik staatlich zu steuern mit Subventionen und Strafen im Billionenmaßstab und den Markt möglichst auszuschalten – nichts anderes steckt ja hinter der umstrittenen Taxonomie-Verordnung der Europäischen Union – fällt ihnen hier so richtig böse auf die Füße.   

Es droht der ganz große Lastabwurf  

Der Konflikt mit der Kommission zeigt zugleich, dass die Grünen nicht einmal innerhalb ihres Klimaschutz-Paradigmas auch nur halbwegs widerspruchsfrei agieren können. Andernfalls hätten sie nach einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung die Atomkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen wenigstens so lange weiterlaufen lassen, bis klimaverträglicher Ersatz nicht nur für irgendwann geplant, sondern tatsächlich am Netz ist. Und es zeigt zugleich jenseits von Treibhausgasen ihre Unfähigkeit zu einer plausiblen Risikoeinschätzung: Jeder flächendeckende Stromausfall in Deutschland (der auch Nachbarländer in Mitleidenschaft ziehen dürfte) wird nach menschlichem Ermessen hierzulande mehr Todesopfer fordern als seinerzeit die Katastrophe im japanischen Fukushima.  

In unseren Nachbarländern gibt es bereits Planspiele, die auf einen Lastabwurf ganz neuer Art hinauslaufen. Lastabwurf bezeichnet die Unterbrechung der Stromversorgung von Großverbrauchern, etwa Aluminiumwerken, als letztes Mittel, um den kompletten Zusammenbruch eines Verbundnetzes zu verhindern. Und bevor sie von uns mit in einen Blackout gerissen werden, werden die Nachbarländer Deutschland weitgehend vom europäischen Verbundnetz abtrennen. Das wäre dann die ultimative Quittung für einen weiteren deutschen Alleingang ohne Sinn und Verstand – nach der erratischen Asyl- und Einwanderungspolitik der Ära Merkel –, die die Ampel-Koalition nun mit einer neuen Masseneinwanderung aus Afghanistan fortsetzen will.      

Vorwürfe, Vorschriften und Vorurteile 

Zurück zur Ausgangsfrage: Dürfen, sollen, müssen Politiker ihr Land und seine Menschen lieben? Sie dürfen, denn es erleichtert die Aufgabe ungemein, aber sie müssen nicht. Ein Minimum an Achtung und Respekt ist aber unverzichtbar, soll nicht das ganze Verhältnis zwischen Regierten und Regierenden in eine gefährliche Schieflage geraten. Das ist bereits unübersehbar geschehen. Den Grünen fällt bei diesem Thema nicht mehr ein als die Formulierung ständig neuer Vorwürfe, Vorschriften und Vorurteile. Wer schon länger hier lebt, muss nach Überzeugung dieser Kreise mühsam und rund um die Uhr davon abgehalten werden, umgehend wieder auf Minderheiten loszugehen.  

Das AfD-Virus lauert nach Meinung der Grünen überall, weit über den verbliebenen Zehn-Prozent-Wähler-Anteil der Unbelehrbaren hinaus. Inzwischen machen die Grünen nicht einmal mehr einen Hehl aus ihrer Absicht, großen Bevölkerungskreisen das Leben nicht etwa leichter, sondern schwerer, mühseliger, teurer, entbehrungsreicher zu machen – als gerechte Streife für bisherige Privilegien und achtlose Klimazerstörung am anderen Ende der Welt sowie – logo – angeblich ubiquitären „strukturellen Rassismus“, eine Art deutsche Erbsünde. Erhebliche Teile der galoppierenden Inflation sind explizit staatlich gewollt. Kein Wunder, dass man kritische Worte über die Enteignung speziell der kleinen Leute aus dieser Richtung nicht vernimmt. Stattdessen leise Genugtuung, dass das 1998 formulierte Fünf-Mark-Ziel für den Benzinpreis endlich zum Greifen nah scheint.  

Keine Rede mehr von „Bündnis 90“ 

Als Bundesbankpräsident Jens Weidmann im Oktober seinen Rücktritt ankündigte, freute sich Habeck: Einer weniger, der einer „modernen“ Zentralbankpolitik im Wege steht. Die zarten Ansätze der Partei, „Heimat“ nicht gleichzusetzen mit „Nationalismus“ und German Supremacy, sondern sich um ein entspannteres Verhältnis zur eigenen Scholle und den eigenen Mitbürgern zu bemühen, haben sie unter dem Gekeife ihrer antifa-verstrahlten Jugendorganisation schon wieder aufgegeben. Und es ist in diesem Zusammenhang kein Wunder, dass seit dem Wahlabend das „Bündnis 90" im Parteinamen immer seltener erwähnt wird. Auch ihre eigenen Ossis, diese seltsamen Figuren mit ihrer ausgeprägten Allergie gegen jede totalitäre Anwandlung, sind dem Parteiestablishment offensichtlich suspekter als je zuvor.  

Eine Beobachtung soll allerdings in dieser Betrachtung nicht unter den Tisch fallen: Annalena Baerbock hat in ihrem neuen Amt bisher deutlich mehr richtig gemacht als falsch. Ihre Positionierung gegen China und Russland und für Amerika lässt selbst oberskeptische Beobachter leise zweifeln, ob ihr Urteil über die neue Außenministerin gerecht und zutreffend war oder eher voreilig, zumal sie mit ihrem freiheitlichen Kurs – anders als Habeck – sicherlich nicht die Mehrheit der Parteibasis, Abgeordneten und Funktionäre hinter sich weiß. In den Sozialen Medien häufen sich – auch von naturgemäß besonders kritischen Frauen – anerkennende Worte über Auftreten und Kleidungsstil. Das könnte, ausgerechnet an völlig unerwarteter Stelle, vielleicht doch noch etwas werden.  

Im Moment hat der Außenministerin jede Woche des Nichttadels noch als Lob zu genügen. Aber das muss ja nicht so bleiben. Die Grünen hätten es nötig. Denn bis auf weiteres gilt: Sie sind mit ihrem Land nicht im Reinen und nicht mit sich selbst. Das wird ihre Regierungszeit ohne deutlichen Bewusstseins- und Kurswechsel zum Glück deutlich verkürzen. Ihre Maßstäbe sind nicht realitätstauglich. Forderungen, Kompromisse zu schließen, Wesenskern unserer Demokratie, betrachten sie als persönliche Angriffe, sogar „auf ihre DNA“. In der Gesamtschau weckt dies Zweifel an ihrer generellen Politiktauglichkeit. 

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