Kulturelle Hegemonie - Im Visier der politischen Moralisten

Das scharfe Schwert der in unserer Gesellschaft besonders lautstarken Moralisten ist die Bezichtigung Andersdenkender als rechte Verfassungsfeinde. Doch die politische Deutungshoheit des links-grünen Milieus beginnt zu bröckeln.

Wie kein Zweiter personifiziert Jan Böhmermann den von Feindseligkeit getriebenen Moralismus / dpa
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Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

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Wer offensiv für eine Ordnung der Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft und gegen staatliche Planwirtschaft und Lenkung der öffentlichen Meinung eintritt, kommt schnell ins Visier der politischen Moralisten. Wie der Schweizer Philosoph Hermann Lübbe gezeigt hat, wird politischer Moralismus im Rechtsstaat zur Waffe machthungriger Interessengruppen, die ihre Wertvorstellungen der Allgemeinheit aufzwingen wollen.

Da anders als im totalitären Staat im Rechtsstaat kein Gesinnungszwang mit staatlicher Gewalt ausgeübt werden kann, soll eine von bestimmten Gruppen als „moralisch richtig“ definierte Gesinnung durch Androhung gesellschaftlicher Ächtung durchgesetzt werden. Verbreitet wird die „richtige Gesinnung“ sowohl in den konventionellen als auch den neuen sozialen Medien, wobei die Internetplattformen bessere Möglichkeiten zum Zwang durch Mobbing bieten. Das Ziel: Erlangung der „kulturellen Hegemonie“ (nach Antonio Gramsci).

Mit politischen Bezichtigungen kritische Geister ausschalten

Das scharfe Schwert der heute besonders aktiven politischen Moralisten ist die Bezichtigung derjenigen, die Freiheit zur Verfolgung individueller Ziele vor die Verpflichtung zu einem von wenigen definierten Gemeinwohl stellen, einer politisch rechten Gesinnung, des Antisemitismus, des Rassismus, der Nähe zum Nationalsozialismus, oder auch der „Klimaleugnung“ oder der „Islamophobie“. Indem sie Beziehungen zu gesellschaftlich geächteten Haltungen und Ansichten herstellen, versuchen sie, die Ächtung auf die Beschuldigten zu übertragen, auch wenn diese Beziehungen nicht wie behauptet vorhanden sind.

Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind die Bezichtigungen des bayerischen Politikers Hubert Aiwanger des Antisemitismus, des Journalisten Constantin Schreiber der Islamophobie, des Unternehmensberaters und Managers Markus Krall der Kollaboration mit den Möchtegern-Putschisten aus dem rechtsradikalen Reichsbürgermilieu und der CDU der Nähe zur in Teilen völkisch-nationalen AfD, die trotz oder wegen ihrer Umfrageerfolge in der Kaste der Unberührbaren verbleiben soll.

Das Schwert gegen Aiwanger, einen kantigen liberal-konservativen und damit den Moralisten verhassten Politiker, wurde aus einem 35 Jahre alten, fürchterlichen Pamphlet geschmiedet, für das als mildernder Umstand nur angeführt werden kann, dass es von einem unreifen Jungen verfasst worden war. Aber egal; egal auch, dass Aiwanger die Autorschaft bestritt (und sein Bruder sich dazu bekannte), wichtig war nur, dass man kurz vor der bayerischen Landtagswahl Aiwanger damit des Antisemitismus bezichtigen konnte, um ihn aus der Regierung zu katapultieren. Dass dieser darüber nicht in Sack und Asche ging, wurde als weiteres Belastungsmaterial gegen ihn verbucht. Ob die Aktion aufging, wird sich bei der Landtagswahl am 8. Oktober zeigen. Bisher sieht es allerdings nicht danach aus.

 

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Mehr Erfolg hatten die Moralisten gegen Constantin Schreiber. Der Fernsehjournalist kennt die islamische Welt, möglicherweise sogar lebensnaher als manche „Islamwissenschaftler:innen“ an deutschen Universitäten. Er hat in islamischen Ländern Erfahrungen gesammelt und sich in mehreren Büchern kritisch mit dem in Deutschland praktizierten Islam auseinandergesetzt. Sein im Jahr 2021 erschienener Roman „Die Kandidatin“ erregte besonderes Aufsehen. In Anlehnung an Michel Houellebecqs „Die Unterwerfung“ erzählt er dort die Geschichte einer als Flüchtling nach Deutschland gekommenen Muslimin, die als Kandidatin für das Amt des deutschen Bundeskanzlers antritt. Nun ist auch scharfe Kritik an Sachbüchern und Romanen nicht nur erlaubt, sondern sogar wünschenswert. Im Falle Schreibers wurde diese Kritik jedoch zunehmend persönlicher.

In der taz warf ihm Stefan Buchen, ebenfalls Journalist bei der ARD, vor, „Die Kandidatin“ sei „ein politisches Hasspamphlet, das Angst vor Migranten schürt“. Bei einer Lesung an der Universität Jena im August 2023 wurden Flyer verteilt, die Vergleiche mit dem Nazi-Propagandafilm „Jud Süß“ zogen. Während der Veranstaltung warf ein „Aktivist“ Schreiber eine Torte ins Gesicht.

In einem Interview mit Giovanni di Lorenzo in der Zeit bezeichnete Schreiber die gegen ihn erhobenen Bezichtigungen als „Diffamierung“, die zu zunehmenden Bedrohungen in seinem Alltag geführt hätten. Auch habe er wenig Hilfe gegen die Angriffe erhalten. Erst knapp zwei Tage nach dem Vorfall in Jena habe sich die Universität auf Presseanfragen mit einer Stellungnahme öffentlich gemeldet. Daher habe er beschlossen, sich journalistisch nicht mehr mit dem Thema Islam zu beschäftigen. Die politischen Moralisten können die Causa Schreiber als siegreich abgeschlossen abhaken.

Markus Krall widersetzte sich dem Angriff der Moralisten

Der ehemalige Unternehmensberater, Manager und Publizist Markus Krall hat ein Faible für Crashprognosen. Mit Apokalypsen handeln auch Klimaaktivisten, und Finanzcrashs sind eigentlich Wasser für die Mühlen der Antikapitalisten. Aber Krall verbreitet offensiv seine politischen Überzeugungen, die er als liberal bis libertär einstuft. Das macht ihn für linksstehende politische Moralisten besonders verdächtig, stehen Libertäre doch dem Staat, den sie zur Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft in ihrem Sinne inspirieren wollen, besonders kritisch gegenüber. Die Möglichkeit, Krall in die Nähe der Möchtegern-Putschisten aus dem rechtsradikalen Reichsbürgerlager und damit von mutmaßlich Kriminellen zu rücken, eröffnete sich durch seine persönliche Bekanntschaft mit Heinrich XIII. Prinz Reuß, einem Frankfurter Immobilienunternehmer und Gallionsfigur der Putschaspiranten.

Aufgrund dieser Bekanntschaft kam Krall den Ermittlungsbehörden als Zeuge ins Visier. Sie durchsuchten seine Wohnung, filzten ihn bei einer Einreise aus dem Ausland bis zur Leibesvisitation und prüften seine Steuererklärung. Fälschlicherweise behauptete die Steuerbehörde, er habe staatliche Corona-Hilfen in Anspruch genommen. Einen Zeugen so zu behandeln, mag extrem erscheinen, ist jedoch rechtlich zulässig.

Unzulässig ist aber, Ermittlungsergebnisse an die Presse durchzustechen, was dennoch geschah. So landete unter anderem die Falschbehauptung der Annahme von Corona-Hilfen bei der Zeit, was die Steuerbehörde zum Widerruf zwang. Ebenso landeten Abhörprotokolle von Kralls Telefongesprächen und Textnachrichten in der Presse, so dass über seinen Kontakt zu Krall der ehemalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans Georg Maaßen, mit der Reichsbürgerszene in Verbindung gesetzt wurde.

Der ZDF-Satiriker (und sich als Chefmoralist gebärdende) Jan Böhmermann rührte weit ausholend aus der Herstellung und Verwendung von Gold, der Geschichte des Unternehmens Degussa in der Nazizeit und dem Umstand, dass Krall einige Jahre Degussa-Goldhandel leitete, einen Brei zur Übertragung der Kontaktschuld auf alle Goldanleger an. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fragte dann auch pflichtschuldig Kralls Nachfolger bei Degussa: „Wie rechts sind Deutschlands Goldanleger?“. Anders als Schreiber stachelte der Angriff der Moralisten Krall jedoch zu Gerichtsklagen und einer Kaskade von Twitter-Botschaften an, statt ihn zum Schweigen zu bringen.

Brandmauer als Instrument links-grüner Deutungshoheit

Gegenwärtig zeigen Umfragen eine deutlich größere Zustimmung zu CDU/CSU und AfD zusammen als zu den davon politisch links angesiedelten Parteien. Damit sich die Zustimmung aber nicht in politische Mehrheiten überträgt, sind die Anhänger der linken und grünen Parteien – sowie die sogenannten „Merkelianer“ in der Union – an der Errichtung einer „Brandmauer“ gegen die AfD interessiert. Zwar wird die politisch rechtsaußen stehende AfD vom Verfassungsschutz verfassungsfeindlicher Bestrebungen verdächtigt, doch ist der Verdacht nicht erwiesen, und es können nicht alle Anhänger und Wähler dieser Partei als Verfassungsfeinde betrachtet werden.

Für den Erhalt der „Brandmauer“ ist es daher wichtig, alle rechtskonservativen politischen Ansichten der Verfassungsfeindlichkeit zu verdächtigen und sie der AfD zuzuordnen, als ob das Grundgesetz die Deutschen auf Ansichten verpflichten würde, die zwar weit nach links, aber nur ein klein wenig nach rechts von der politischen Mitte reichen dürfen. Dazu soll die Union genötigt werden, auf allen politischen Ebenen grundsätzlich andere politische Positionen als die AfD zu vertreten, auch wenn diese solche Positionen von CDU und CSU übernommen hat.

So stellte der SPD-nahe Ökonom Marcel Fratzscher kürzlich „erhebliche Überschneidungen (der) Positionen (der AfD) mit den etablierten konservativen Parteien“ fest und warnte die „konservativen Parteien“ vor jeglichen „Kooperationen“ mit der AfD. Implizit fordert Fratzscher damit die Union auf, ihre politischen Positionen dem „progressiven“ Lager aus SPD, Grünen und Linke anzunähern und auf politische Opposition zu verzichten. Die Frage, worin genau die Verfassungsfeindlichkeit der AfD besteht, wenn sich ihre Positionen mit denen der Union „erheblich überschneiden“, lässt er offen.

Macht des links-grünen Milieus beginnt zu bröckeln

In seiner Gefängniszelle im faschistischen Italien notierte Antonio Gramsci, der Theoretiker moderner totalitärer Herrschaft, dass sich diese nicht allein auf Gewalt und Terror bauen lässt. Sie braucht Gefolgschaft. Denn im Gegensatz zum Russland vor der Oktoberrevolution des Jahres 1917 wird der moderne westliche Staat von der bürgerlichen Kultur seiner Gesellschaft untermauert. Will man ihn stürzen, reicht ein Staatsstreich nicht aus.

Gramsci meinte, dass in diesem Kulturkreis „jeder Revolution eine intensive kritische und kulturelle Arbeit vorausging, dass zunächst widerspenstige Menschen kulturell und ideologisch durchdrungen wurden“. Die Revolutionäre sollten daher als „kollektiver Intellektueller“ die Weltbilder der „subalternen Klassen“ in ihrem Sinne vereinheitlichen. Dazu müssten sie die „kulturelle Hegemonie“ über die Gesellschaft erobern. Indem der „kulturelle Hegemon“ seine Interessen als die der anderen definiert, schafft er sich ohne Gewalt und Terror eine willige Gefolgschaft.

Nach Gramscis Tod entdeckten ab Ende der 1960er Jahre zunächst die Neue Linke außerhalb des Sowjetimperiums (wo Gefolgschaft noch mit Gewalt erzwungen wurde) und seit den 1990er Jahren dann die Neue Rechte Gramscis Rezept für sich. Beide einte der Kampf gegen den Kapitalismus. Doch während der Neuen Rechten ein Außenseiterdasein beschieden war, gelang es der Neuen Linken, die kulturelle Hegemonie zu erobern.

Nach „einem Marsch durch die Institutionen“ zog sie in die links-grünen Parteien und ihr politisches Vorfeld, staatliche Universitäten und öffentliche Rundfunkanstalten ein und pflegte ihren Nachwuchs. Von dort aus will sie den gesellschaftlichen Diskurs mit den Mitteln des politischen Moralismus bestimmen. Aber ihre Macht beginnt zu bröckeln. Ihre moralisierende Gängelei geht immer mehr Menschen auf den Wecker und immer weniger lassen sich einschüchtern. Die Brandmauer wankt.

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