Migrationskrise - „Olaf Scholz hat sich hier aus der aktiven Politik zurückgezogen“

Die neue Migrationskrise trifft vor allem die Kommunen und Landkreise. Und die Bundesregierung? Schaut weg. Im Interview sagt der CSU-Landrat und bayerische Landkreistagspräsident Thomas Karmasin, was jetzt zu tun wäre.

Erstaufnahmeeinrichtung in Zirndorf: „Kinder in Containersiedlungen aufwachsen sehen“ / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Der CSU-Politiker Thomas Karmasin ist seit 1996 Landrat des Landkreises Fürstenfeldbruck bei München. Der bayerische Landkreistagspräsident hat kürzlich mit 70 weiteren bayerischen Landräten einen Hilfe-Ruf an Olaf Scholz und die Bundesregierung gesendet, weil die Landkreise bei der Zuwanderung über das Asylsystem an ihrer Belastungsgrenze angekommen sind. Eine Antwort hat er bisher nicht bekommen.  

Herr Karmasin, Sie sind seit 1996 Landrat des Landkreises Fürstenfeldbruck bei München. Wären Sie so freundlich, zu Beginn unseres Gesprächs einmal kurz zu skizzieren, wie die Situation rund um Asyl und Migration damals war und wie sie sich über die Jahre verändert hat? 

Wir hatten Anfang der 90er Jahre und später auch schon die Situation, wo das Asylrecht noch angewendet worden ist, so wie es die Verfassung vorsieht. In den 90er Jahren, in der Folge des Balkankriegs im damaligen Jugoslawien, kamen tatsächlich sehr viele Flüchtlinge auch zu uns, die zwar keinen individuellen Asylschutz genossen haben, aber Schutzstatus. Die sind nach dem Krieg zu einem ganz überwiegenden Teil wieder nach Hause gegangen, nach Bosnien, Kroatien und so weiter. Außerdem gab es Menschen aus der Türkei, die zu uns kamen, aber abgelehnt wurden und dann ebenfalls zu einem großen Teil in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Anschließend hat sich die Situation ein wenig beruhigt. Mein Ausländeramt hatte Anfang der 2000er Jahre ungefähr 25, vielleicht 30 Mitarbeiter. 

Und dann kam die Flüchtlingskrise der Jahre 2015/16.

Genau genommen hat diese Flüchtlingskrise schon im Jahr 2014 begonnen, auch, wenn wir vor allem von den Jahren 2015 und 2016 sprechen. Die Anfänge dieser explosionsartigen Zuwanderungswelle waren also schon früher. Jedenfalls – das muss man sich mal vor Augen führen – gab es damals zum Beispiel einen Beschluss, wonach Flüchtlinge nicht in Containersiedlungen untergebracht werden sollten, sondern in festen Häusern. Doch als immer mehr Menschen gekommen sind, ist man von diesem hehren Ziel dann auch abgerückt.

Damals hat das auch begonnen mit den Turnhallen, die für die Unterbringung in Beschlag genommen wurden. Aus diesen Turnhallen sind die Menschen dann in eher notdürftige Unterkünfte gekommen, und sind – das wird gerne verkannt – teilweise bis heute noch in diesen Einrichtungen, weil sie – Fürstenfeldbruck grenzt ja an München – keine Wohnung finden. Als versucht wurde, die Balkanroute zu schließen und der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer versuchte, bilaterale Abkommen zu schließen, hat es sich dann wieder ein bisschen beruhigt. Doch mittlerweile gilt wieder das Prinzip „Open Doors“. 

Über den Status Quo sprechen wir gleich. Zunächst noch die Frage: Was hat die Migrationskrise damals mit Ihrem Landkreis gemacht? Wie war die Akzeptanz der Einwohner für die Neuankömmlinge? 

In Deutschland und damit auch in meinem Landkreis war die Stimmung insgesamt eher offen, sehr positiv den Menschen gegenüber. Es haben sich Menschen in Asylkreisen organisiert, die geholfen haben und versuchten, zu vermitteln. Teilweise wurde da auch, sage ich mal, übertrieben, wenn man zum Beispiel Asylbewerber zu jeder Tages- und Nachtzeit irgendwo hingefahren oder von irgendwo abgeholt hat. Das hatte teilweise schon was von Bemutterung. Mittlerweile erlebe ich häufiger, dass die Helfer von einst die Flinte ins Korn werfen. Dass sie sagen, wir können all diese Menschen nicht mehr integrieren. 

Inwiefern stößt die Integration mittlerweile an ihre Grenzen? 

Es gibt bei uns, Gott sei Dank, keine negativen Töne gegenüber den Menschen wie anderswo in der Republik. Aber wir schaffen das nicht mehr. Es gibt keine Kindergartenplätze, es gibt nicht genügend Lehrer in den Grundschulen. Es gibt nicht genug Deutschlehrer. Wir haben auch Engpässe bei den Ärzten, in den Krankenhäusern. Und so weiter. Das System ist angesichts der schieren Zahl an Asylbewerbern einfach überlastet. Wir sehen, dass Menschen über Jahre in Containern leben, die eigentlich als Notunterkünfte gedacht waren. Die Überlastung spürt man auch bei den Mitarbeitern im Landratsamt. Die sagen: Wir sind seit 2015 im Krisenmodus. Wir können nicht mehr. Da ist ein Kipppunkt überschritten worden. Wir haben mittlerweile sogar ein Zelt auf einem Parkplatz aufgestellt. Aber mit der Unterbringung allein ist es ja nicht getan. 

Sie haben gerade einen interessanten Punkt angesprochen, der meines Erachtens in der Debatte über Migration und Integration zu sehr untergeht. Nämlich, dass selbst anerkannte Asylbewerber keine Wohnung finden, weshalb sie in den Asylunterkünften bleiben müssen. Während es sich vorne also längst staut, kommen hinten immer mehr Menschen nach.  Ist das einer dieser Aspekte, die Sie meinen, wenn Sie sagen, mit der ersten Unterbringung allein ist es nicht getan? 

Ja, absolut. Es kommen ja auch Familien mit Kindern zu uns. Man muss sich nur vorstellen, wie das als Vater oder Mutter ist, wenn man den Kindern kein richtiges Zuhause bieten kann; wenn man mit seiner Familie in einer Containersiedlung wohnen muss. In einem Bericht des ZDF hat eine Mitarbeiterin von mir jüngst gesagt, sie habe Kinder in Containersiedlungen aufwachsen sehen. Aber das kann ja nicht der Anspruch sein. Man wünscht sich doch, dass diese Kinder eine echte Chance haben. Stattdessen sieht man sie – etwas zugespitzt formuliert – in Baracken aufwachsen. Das ist wirklich tragisch. 

Dennoch wird die öffentliche Diskussion bei dem Thema sehr theoretisch geführt. Aus dem linksgrünen Milieu ist dann zum Beispiel zu vernehmen: Mei, wenn es nicht reicht, dann muss man halt mehr Ressourcen zur Verfügung stellen. Scheitert die Asylpolitik am Prinzip Anspruch und Realität; an Realitätsverweigerung gar?

Das glaube ich mittlerweile, ja. Die Grünen sind sehr wenig kommunalpolitisch verankert. Diejenigen, die es sind, Stichwort Boris Palmer, aber auch mein Kollege aus Miltenberg, der sich zu Wort gemeldet hat, sehen das nicht mit einem einzigen Jota anders als ich. Ich kann nachvollziehen, dass Menschen auch aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen. Wahrscheinlich würde ich das an deren Stelle nicht anders machen.

Aber wir müssen uns als Gesellschaft überlegen: Haben wir noch die dafür nötigen Ressourcen, oder haben wir sie nicht? Wenn wir sie nicht haben, dann können wir nicht so tun als ob; dann sollten wir niemandem etwas Vorspielen. Dann kommen nämlich Menschen zu uns und wir lassen sie – ich sage das mal ein bisschen überzeichnet – verelenden. Geld allein löst die Probleme nicht. Und die Menschen, die zu uns kommen, haben auch nichts davon. Die müssen dringend selbst auf die Füße kommen. 

Sie haben kürzlich mit weiteren 70 Landräten einen Hilferuf an Olaf Scholz und damit auch an die Bundesinnenministerin Nancy Faeser gesendet, die in der Ampel ja hauptverantwortlich ist für innere Sicherheit und Grenzschutz. Die Probleme sind offensichtlich und ich kann Ihre Kritik auch verstehen. Nichtdestotrotz wird in Bayern am 8. Oktober gewählt und Sie sind Mitglied der CSU. War dieser Hilferuf auch ein wahlkampftaktisches Manöver? 

Im Gegenteil. Wissen Sie, ehrlich gesagt, kann man mit dem Thema nicht gewinnen. Da kommt nämlich schnell der Vorwurf, derlei nutze nur dem rechten Rand. Außerdem sind wir ja nicht nur CSU-Landräte; sogar ein Grüner war da mit dabei. Der Anlass war nicht die anstehende Landtagswahl, sondern die Situation in Lampedusa, weil dort jüngst Tausende angekommen sind. Und es ist gut möglich, dass viele dieser Menschen weiter nach Deutschland wollen. 

Was sind also Ihre konkreten Forderungen an Olaf Scholz und Nancy Faeser?

Zunächst einmal, die Situation überhaupt anzuerkennen. Ein Beispiel: Ich war mit meinen Kollegen vorigen Herbst in Brüssel. Es gab Gespräche mit verschiedenen Kommissionsmitgliedern und auch mit Mitarbeitern für den Bereich Flüchtlingsfragen. Wir haben damals deutlich darauf hingewiesen, dass wir am Ende sind. Und dann sagte ein Mitarbeiter, in seinen Akten sei überhaupt nicht vermerkt, dass Deutschland am Ende sei. Nur, dass es Malta so ergehe. Er sagte, niemand habe an die EU gemeldet, was in Deutschland los sei. Aber klar ist doch, dass wir das Problem nur europäisch lösen können. 

Jetzt gibt es ja diesen EU-Kompromiss beim Thema, den Nancy Faeser zum Anlass nimmt, zu behaupten, der zeige doch, dass die Bundesregierung viel erreicht habe. Die Wahrheit ist: Die Bundesregierung versucht, diesen Kompromiss aufzuweichen. Sie versucht, Menschen auch weiterhin von Kontrollen an den Außengrenzen auszunehmen. Obendrauf kommen dann noch Sonderkontingente, etwa für Afghanistan, mit denen Deutschland nochmal mehr leistet als es müsste. 

 

Texte aus Cicero-Büchern:

 

Uns geht es also um Grenzschutz, um Realismus, auch darum, unser Sozialsystem so zu gestalten, dass nicht alle Leute unmittelbar zu uns wandern. Ich sage immer: Das Wasser fließt halt zum tiefsten Punkt. Dass Ukraineflüchtlinge Bürgergeld bekommen, also Ansprüche haben, die Deutsche auch haben, sollte nicht sein. Die Attraktivität des deutschen Sozialsystems muss abgeflacht werden, etwa, indem man auf Sachleistungen setzt. Übrigens wird diesen Menschen zwar eine Wohnung bezahlt, aber bei der Wohnungssuche wird ihnen nicht geholfen. Wenn wir als Landkreise nicht so nett wären, diese Menschen unterzubringen, stünden sie auf der Straße. Außerdem brauchen wir dringend mehr bilaterale Abkommen. 

Das sagt zum Beispiel auch der renommierte Migrationsforscher Ruud Koopmans; dass die bilateralen Abkommen im Prinzip die zentralen Weichen sind, die gestellt werden müssen, um das Problem in den Griff zu kriegen. Ihr im Prinzip Parteifreund Thorsten Frei von der CDU hat jüngst zudem eine Debatte angestoßen, wonach wir – aufgrund der Entwicklungen der vergangenen Jahre – unser Asylrecht in seiner aktuelle Ausführung  grundsätzlich einmal überdenken sollten. Teilen Sie seine Auffassung? 

Das bin ich schon öfter gefragt worden. Ich bin der Meinung, es würde genügen, wenn wir das jetzige Asylrecht richtig anwenden. Wenn man ehrlich ist, dürfte nach Dublin wohl nicht ein einziger Flüchtling bei uns sein, wenn er nicht mit dem Flugzeug gekommen ist. Ukrainer ausgenommen. Denn Deutschland hat keine EU-Außengrenzen. Wer zu uns kommt, kommt bereits aus einem sicheren Drittstaat, aus Italien, Österreich oder Frankreich. Statt Dublin richtig anzuwenden, gibt es bei uns aber die Mentalität: Na gut, jetzt ist er halt da. Dabei fallen die meisten Menschen, die zu uns kommen, überhaupt nicht unter das Asylrecht. Da hilft es auch nichts, das Asylrecht zu ändern. 

Haben Sie von Olaf Scholz eigentlich schon eine Antwort auf Ihren Hilferuf bekommen? 

Nein. Also bei allem Respekt: Der Bundeskanzler hat sich doch längst aus der aktiven Politik zurückgezogen in dieser Frage. Es ist ja nicht der erste Appell, der die Bundesregierung erreicht. Wir haben einen ähnlichen Appell schon vor gut einem Jahr formuliert und auch darauf bisher keine Antwort bekommen. Nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Null Reaktion. Da bin ich schon sehr enttäuscht vom Bundeskanzler. Stattdessen heißt es dann von Frau Faeser: Aber wir haben doch einen Flüchtlingsgipfel gemacht. Stimmt schon, aber dazu waren die Kommunen überhaupt nicht eingeladen. Bei späteren Arbeitsgruppen waren dann zwar Vertreter der Kommunen dabei, aber dort konnte nichts entschieden werden, weil ausdrücklich nicht über Finanzen geredet werden durfte. 

Das Absurde ist ja, dass dieses Wegducken von Seiten der Bundesregierung letztendlich auch ein Konjunkturprogramm für die AfD ist. Es ist für jeden mit Verstand ersichtlich, woher die hohe Zustimmung von derzeit 22 Prozent kommt. Aber um mal so ein Gefühl zu kriegen: Wie hoch müsste die Zahl der Asylbewerber pro Jahr denn sein, damit Deutschland, inklusive der Landkreise, nicht an seine Grenzen kommt oder darüber hinaus? 

Ich glaube, so 300.000 pro Jahr. Das wäre eine Zahl, die Deutschland noch handeln könnte. Dann heißt es in der Diskussion aber gerne: Und was ist mit dem 300.001 Asylbewerber? Dabei geht es doch nicht um einen Asylbewerber mehr oder weniger, sondern um eine ungefähre Größenordnung. 

Sind bei Ihnen im Landkreis eigentlich Probleme entstanden, die sich direkt auf diese Art der Migration zurückführen lassen? Stichwort „Gewaltkriminalität“ zum Beispiel. 

Das würde ich für meinen Landkreis jetzt nicht so sagen. Natürlich gibt es immer mal wieder Probleme, es ist auch schon zu sexuellen Übergriffen gekommen. Aber alles in allem sind die Probleme, die im Zuge der Zuwanderung hinsichtlich innere Sicherheit entstanden sind, bei uns vergleichsweise gering. Das liegt auch daran, dass wir hier einen massiven Aufwand betreiben. Wir haben ausreichend Sicherheitspersonal in allen größeren Einrichtungen. Außerdem ist uns bisher gelungen, die Menschen nicht irgendwo in der Peripherie unterzubringen, sondern in den Orten. Bis jetzt, muss man sagen. Der Parkplatz mit den Zelten gehört zu einem Freibad, das außerhalb des Ortes ist. Da ist vieles nicht mehr fußläufig erreichbar. Wenn wir gezwungen sind, immer mehr Menschen außerhalb der Orte unterzubringen, dann, glaube ich, werden auch die Probleme zunehmen.  

Das heißt – was ja immer wieder berichtet wird – dass sich bei Ihnen irgendwie 100 Asylbewerber gegenseitig den Kopf einschlagen, kommt eher nicht vor? 

Es gibt schon immer mal wieder Gewalttaten und sonstige Übergriffe in den Unterkünften. Aber da schreitet die Polizei auch sehr schnell und stark ein. Diese Konsequenz ist auch nötig, damit man sich Respekt verschafft und bewahrt. Und es wird auch gemacht. Dafür muss man die Polizei aber selbstverständlich auch in entsprechender Stärke vor Ort haben. 

Sie sagen, Sie sind eigentlich schon am Anschlag beziehungsweise schon darüber hinaus: Haben Sie schon über ein Szenario nachgedacht, sollte sich an der aktuellen Situation nichts ändern und weiterhin Menschen ins Land strömen? 

Naja, das wird wohl leider erstmal so bleiben. Bis die europäischen Maßnahmen greifen, wird es mindestens 2024. Und das wäre dann schon sehr schnell. Ich gehe derzeit davon aus – auch, wenn das hässlich klingen mag – dass der kommende Winter die Zahl der Überfahrten übers Mittelmeer erstmal verringern wird. Das ist erfahrungsgemäß auch so. Aber es ist bei dem Thema in Deutschland eben leider politisch noch nichts passiert. Statt funktionierender Sofortmaßnahmen haben wir immer mehr Menschen, die ins Land kommen.

Von diesen Menschen werden viele über Jahre hinweg zwar Geld vom Staat, aber keine Perspektive haben. Das ist ein bisschen wie mit den Kipppunkten beim Klimawandel. Wenn diese überschritten sind, bricht nicht sofort alles zusammen, aber vieles wird dann irreparabel sein. Wenn es so weitergeht wie bisher, streichen irgendwann alle die Segel und die ankommenden Menschen werden einfach sich selbst überlassen. 

Das Gespräch führte Ben Krischke. 

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