Migration - Wir hatten Platz

In der Migrationspolitik erlebt die Ampelregierung noch eine Zeitenwende. Die Grünen versuchen sich unter Schmerzen von einigen Grundmaximen ihrer Flüchtlingspolitik zu verabschieden.

Annalena Baerbock und Nancy Faeser werden plötzlich zu Realisten in der Migrationspolitik / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

So erreichen Sie Volker Resing:

Anzeige

Ein Sommertag im August 2021, viele sitzen in der Eisdiele und schauen hinauf zur runden Bühne. Auftritt Annalena Baerbock, die hier den Wahlkreis gegen Olaf Scholz gewinnen will, auf einem Platz in der Potsdamer Innenstadt. Die Kanzlerkandidatin gibt Autogramme und dann spricht sie über die Flüchtlingspolitik. „Wir haben Platz“, das sei die Devise gewesen angesichts der schrecklichen Bilder vom Mittelmeer, ruft sie dem Publikum zu. Und sie wiederholt den Satz energisch: „Wir haben Platz!“ Das müsse der Maßstab für die nächste Bundesregierung sein. „Wir müssen auf Humanität setzen.“ Es gibt Applaus von der Basis für die Spitzenfrau der Grünen.

Nur zwei Jahre ist das her. Doch die Bilder und Worte wirken wie aus einer anderen Welt. Inzwischen ist Olaf Scholz Bundeskanzler und Annalena Baerbock Außenministerin in einer Ampelkoalition. Inzwischen hat Wladimir Putin die Ukraine überfallen, der Krieg dauert schon anderthalb Jahre. Deutschland hat mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Und auch die Zahlen der Asylbewerber steigen wieder an. Bereits bis April 2023 waren es rund 100 000 Anträge, die in Deutschland gestellt wurden. Im ganzen Jahr 2022 waren es 244 000. Die Kommunen schlagen Alarm, die Kapazitäten sind ausgeschöpft. Italien hat bereits den Notstand ausgerufen. Die Europäische Union berät über eine weitreichende Asylreform.

Von „Wir haben Platz“ zur Asylreform

Und Annalena Baerbock? Das „Wir haben Platz“ ist lange vorbei. Verflogen ist der Enthusiasmus des Wahlkampfsommers 2021. Nun spricht sie von der „Belastungsgrenze“, die bald erreicht sei, und bewegt sich auf einen neuen europäischen Konsens zu. Sie fordert Solidarität bei den anderen Mitgliedstaaten ein, weil Deutschland schon „viele Menschen“ aufgenommen hätte. In einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung aus dem Juni 2023 werden alte Dogmen vorsichtig aufgeweicht. 

Alle Flüchtlinge sollen nun an der Grenze registriert werden, dort soll man die Anträge bearbeiten. Das Grenzverfahren sei zwar „hochproblematisch“, weil es in „Freiheitsrechte eingreife“. Doch sei es die einzige Chance, überhaupt auf europäischer Ebene eine Einigung erzielen zu können. Den umstrittenen Kompromiss der EU-Innenminister hin zu einer Asylreform verteidigte sie, die Entscheidung sei ihr „als Außenministerin, als Grüne und auch persönlich sehr schwergefallen“, so Baerbock. 
 

Das könnte Sie auch interessieren: 

Die Deutung dieser europäischen Asylreform bleibt dabei zunächst sehr unterschiedlich. Experten bezweifeln, dass sie kurz- und mittelfristig zu deutlich sinkenden Flüchtlingszahlen führen wird. Zumal das Europäische Parlament noch zustimmen muss. Deutschland will Nachverhandlungen, und ein Inkrafttreten ist dann erst für 2025 vorgesehen. Zudem sind im nächsten Jahr verschiedene Wahlen, was die Auseinandersetzung stark politisiert. „Das wird noch ein wilder Ritt werden“, sagt Raphael Bossong, Migrationsexperte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, in der Neuen Zürcher Zeitung.

Ein Riss geht durch die grüne Partei

Außerdem zielen die Maßnahmen selbst, konkret was die Asylverfahren angeht, nur auf einen Anteil von 20 Prozent aller Flüchtenden, die Rückführung dann im Schnellverfahren abgelehnter Antragsteller ist noch unklar. Aber die Signalwirkung könnte größer sein. „Alle Beteiligten wissen, wie schwer die Grenzverfahren umzusetzen sind. Doch natürlich soll hier ein Signal der Abschreckung gesetzt werden. Es sollen einfach weniger Migranten kommen“, erklärt Bossong.

So wackelig der europäische Konsens auch ist, der Ärger kommt postwendend. Die grüne Basis ist alarmiert. Mit einem Protestschreiben wenden sich Grünen-Politiker aus Ländern und Kommunen gegen den neuen Pragmatismus. Darunter der Vorsitzende der Grünen Jugend, Timon Dzienus, der die geplanten Asylzentren unmenschlich findet und will, dass Baerbock sie verhindert. Schon Baerbocks Verteidigung des „Außengrenzenschutzes“ klingt manchen Aktivisten wie ein Plädoyer für die „Festung Europa“. Das Grundrecht auf Asyl werde ausgehöhlt, warnt auch die Organisation Pro Asyl. Für die Grünen ist das wie friendly fire, Gegenwind aus dem eigenen politischen Vorgarten. Der Riss geht mitten durch die Partei. Die Parteivorsitzende Ricarda Lang wettert gegen den Kompromiss, Co-Chef Omid Nouripour verteidigt ihn. 

Anders als die Grünen sind Sozialdemokraten und Liberale beim Thema Migration disziplinierter. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat in Luxemburg die europäische Neuregelung verhandelt. Auch sie klagt nach dem Kompromiss über die Dinge, bei denen sie sich nicht hat durchsetzen können. Es geht um Familien mit Kindern, die nach ihrem Wunsch vom Grenzverfahren ausgenommen werden sollten. 

Die Koalitionspartner freut's

Nun wünscht sich die deutsche Ministerin, das Europäische Parlament möge hier im bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren noch Änderungen erreichen. Dennoch steht der SPD-Parteivorstand hinter seiner Genossin. Ein entsprechender Beschluss verteidigt den Kompromiss. Die Sozialdemokraten, auch geführt durch die pragmatische Hand ihres Vorsitzenden Lars Klingbeil und Bundeskanzler Olaf Scholz, wirken geübter und geschlossener in der weiteren Zeitenwende. 

Von den Liberalen sind auch keine Störfeuer zu erwarten. Ganz im Gegenteil kostet FDP-Chef Christian Lindner es genüsslich aus, in einem konservativen Herzensthema punkten zu können. Das, was die Union nicht hinbekommen habe, leiste nun die Ampel: mehr Ordnung in der Asylpolitik, erklärt der Bundesfinanzminister. „Die Verschärfung der gemeinsamen europäischen Asylregeln ist ein Erfolg“, so Lindner, „mehr Kontrolle, mehr Konsequenz und Fortschritte bei der Unterbindung irregulärer Zuwanderung, auch an den Außengrenzen“ seien notwendig. 

Insgesamt ist das, was die Ampelparteien in der Flüchtlings- und Migrationspolitik im Laufe des Jahres 2023 erleben, aber nur ein weiteres politisches Feld, in dem nicht nur die Ökopartei, sondern alle drei Ampelpartner große Zeitenwenden durchkämpfen. 
Vielleicht schmerzt sogar die zaghafte Neuaufstellung in der Migrationspolitik Teile der Grünen am meisten. „Mehr Fortschritt wagen“ – so ist der erste Koalitionsvertrag eines echten Dreierbündnisses auf Bundesebene überschrieben. Das Kapitel „Integration, Migration, Flucht“ ist in Unterabschnitte unterteilt: Aufenthalts- und Bleiberecht, Integration, Asylverfahren und europäische und internationale Flüchtlingspolitik. In allen vier Bereichen ist eine Umordnung der politischen Ziele und Pläne aufgrund äußerer Einflüsse angesagt. 

Einbürgerung und Bleiberecht will die Koalition beibehalten

Am gravierendsten zunächst bei Grenzkontrollen, der Definition sicherer Herkunftsländer und Asylverfahren, bei denen die Regierung von ihrem ursprünglichen Ideal langsam abrückt. Noch lehnt Nancy Faeser eine stationäre Überwachung Richtung Polen ab, doch längst gibt es mehr Sicherungsmaßnahmen, die man früher hätte verhindern wollen.

Beim Thema sichere Herkunftsländer, lange Jahre ein besonders rotes Tuch für die Grünen, wandelt sich die Regierungsposition, zumindest mit Blick auf Moldawien und Georgien. Asylverfahren, die man laut Koalitionsvertrag vereinfachen wollte, wandern nun möglicherweise an die EU-Außengrenze. Allein bei der Einbürgerung und beim Bleiberecht (Stichwort Chancen-Aufenthaltsgesetz) sind die Koalitionäre noch halbwegs auf Linie. Aber insgesamt zeigt sich, dass bestimmte Grundmaximen der drei Partner, vor allem von SPD und Grünen, sich nicht mehr halten lassen. 

Eine Grundmaxime ist, dass Migration etwas grundsätzlich Gutes und Unvermeidliches ist. Vor allem die Liberalen steuern dazu die Erkenntnis bei, dass aufgrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels Zuwanderung notwendig und wünschenswert sei. Deutschland sollte deswegen ein „modernes Einwanderungsland“ werden. „Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel“, heißt es im Koalitionsvertrag. Mit einer aktiven und ordnenden Politik wolle man Migration vorausschauend und realistisch gestalten. 

Nancy Faeser als Pionierin der Migrations-Zeitenwende

Die zweite Grundmaxime, die sich an der Realität reibt, lautet: Der Zuzug von Schutzsuchenden kann und darf nicht begrenzt werden, weil dies eine Einschränkung des Asylrechts wäre. Die Flüchtlinge aber, die zu uns kommen, sind zum einen teilweise illegal eingereist, genießen mitunter aufgrund fehlender Voraussetzungen keinen Schutz, können aber größtenteils nicht abgeschoben werden, da ihnen Gefahr im Herkunftsland droht. Schließlich sind real existierende Migranten oft aus unterschiedlichen Gründen nur schwer in den Arbeitsmarkt integrierbar, fallen somit nicht in die Gruppe der erwünschten Migration, zu der man sich bekennt. 

Selbst die Wochenzeitung Die Zeit fordert die Ampel im Sommer 2023 zum Abschied von „linken Lebenslügen“ auf. Redakteur Ferdinand Otto formuliert: „Wer eine Migrationspolitik der offenen Tür will, braucht erst mal eine Mauer.“ Das hört sich in den Ohren mancher Ampelpolitiker an wie AfD-Sprech. Doch sickert die Erkenntnis sehr wohl durch.

Eine Art Pionierin der Migrations-Zeitenwende der Ampel ist aber Bundesinnenministerin Faeser. Sie gibt der Zuwanderungspolitik eine neue Richtung. Dabei spielt der Koalitionsvertrag keine große Rolle mehr, oder die Formulierungen werden so umgedeutet, dass sie zur neuen Linie passen. Faeser spricht selbst von „einem historischen Momentum“. Damit hat sie vielleicht sogar recht, nur ganz freiwillig kam sie nicht zu den neuen Einsichten. Der Einschnitt war die Ministerpräsidentenkonferenz vom 10. Mai 2023. Der Druck der Kommunen, auch die Not der Länder, führte dazu, dass der Bund nicht nur bereit war, mehr Geld für die Städte und Gemeinden bereitzustellen, sondern dass eine gemeinsame neue Strategie vereinbart wurde. 

Die Grünen werden am meisten leiden

Das „Beschluss“ überschriebene Dokument formuliert nicht weniger als eine „gemeinsame Flüchtlingspolitik von Bund und Ländern“. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen ist mit dabei, und auch der sächsische Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) hat unterzeichnet. Hier ist ein parteiübergreifender Konsens entstanden, der seinesgleichen sucht. In dem Dokument scheinen plötzlich ideologische und emotionale Debatten der zurückliegenden Jahre fast vergessen und verschwunden zu sein. Dort werden nun die Handlungsfelder ganz nüchtern aufgelistet: Der „Zugang der Geflüchteten“ müsse „stärker“ gesteuert werden. Die nach Deutschland kommenden Menschen müssten „so früh wie möglich“ erfasst werden. Außerdem vereinbart man die Digitalisierung der Verfahren und die „konsequente“ Rückführung von Straftätern. 

Die Opposition im Bundestag bleibt skeptisch. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm (CDU), will der Ampel die Kehrtwende nicht recht glauben. Bisher sei alles noch in eine andere Richtung gegangen. „Es wird von der Ampelkoalition der in ihrem Koalitionsvertrag ausgerufene Paradigmenwechsel hin zu einer schrankenlosen Migrationspolitik durchgezogen“, sagt Throm. Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn will in eine grundsätzlich andere Richtung. In der Fernsehsendung Lanz stellt er die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention zur Diskussion. Er frage sich, ob die Regelungen aus den 1950er-Jahren „mit diesen individuellen Verfahren, monatelang, ohne Klarheit für alle Beteiligten und mit den Botschaften, die sie senden“ noch funktionieren.

Stattdessen müsse es feste Kontingente für Flüchtlinge geben. „Die lassen wir von der UN auswählen. Dann kommen vielleicht nicht diejenigen, die am stärksten sind, sondern die, die es am dringendsten brauchen: Frauen, Kinder, auch andere“, so Spahn.
Zeitenwende geht nicht ohne Blessuren und Verluste. Die Grünen müssen in Sachen Migration abermals am meisten drangeben. Möglicherweise steht hinter all dem aber noch mehr: der Konflikt zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten, zwischen Wünschbarem und Machbarem. Die Grünen und die Ampel insgesamt müssen klären, was sie unter Politik verstehen. Ferdinand Otto schreibt in der Zeit: „Der alte grüne Reflex zieht nicht mehr. Die rhetorische Eskalation in die Moral – Menschlichkeit kennt keine Obergrenze – führt ins Gegenteil.“ Baerbock und Habeck wollen auch diese Zeitenwende durchziehen. Wie weit ihre Anhänger mitmachen, ist offen.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige