Massiver Warnstreik der Gewerkschaften  - Ein Streik als deutliches Signal

Ein Warnstreik legt große Teile des öffentlichen Verkehrs lahm. Die Gewerkschaften wollen Druck auf die Arbeitgeber ausüben, damit im neuen Tarifvertrag die massiven Reallohnverluste sozial abgefedert werden. Doch das sorgt auch für neue Debatten über das Streikrecht. 

Mit einem großangelegten bundesweiten Warnstreik haben die Gewerkschaften EVG und Verdi am Montag weite Teile des öffentlichen Verkehrs lahmgelegt / dpa
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Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Es sind sicherlich noch keine „französischen Verhältnisse“. Aber der von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) für den heutigen Montag angekündigte 24-stündige Warnstreik in fast allen Verkehrssparten gleichzeitig hat für deutsche Verhältnisse schon eine ungewohnte Dimension. Bestreikt werden die Bahn, die meisten Flughäfen, kommunale Nahverkehrsbetriebe in sieben Bundesländern und teilweise auch kommunale Häfen, die Autobahngesellschaft und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Insgesamt werden sich bis zu 350.000 Arbeitnehmer an der Aktion beteiligen. 

Eintägige Warnstreiks im Verkehrssektor gab es auch schon in den vergangenen Jahren, etwa von der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) oder der Pilotengewerkschaft Cockpit. Doch eine koordinierte Aktion mehrerer Gewerkschaften in allen Verkehrssparten und in unterschiedlichen Tarifbereichen ist in dieser Form tatsächlich ein Novum in der bundesdeutschen Tarifgeschichte. 

Alle Verkehrssparten sind betroffen 

Entsprechend gravierend sind die Auswirkungen. Der Fernverkehr der Bahn wurde komplett eingestellt, der Regionalverkehr von wenigen Ausnahmen abgesehen ebenfalls. Auch der Güterverkehr wird stark beeinträchtigt sein. Im Flugverkehr wird ein Großteil der Verbindungen ausfallen. Beim kommunalen Busverkehr führen die Arbeitsniederlegungen in einigen Bundesländern unter anderem dazu, dass Schüler am heutigen Montag nicht die Schule besuchen können – sie bekommen dann Lernaufgaben übermittelt. Ferner ist die zeitweilige Sperrung von Tunneln und einigen Teilstücken auf der Autobahn zu erwarten. 

Die Härte der aktuellen Tarifauseinandersetzung erklärt sich vor allem aus den enormen Reallohnverlusten, die die Beschäftigten durch die galoppierende Inflation zu verzeichnen haben. Zumal der Verlauf der weiteren Preisentwicklung nicht absehbar ist. Selbst optimistische Schätzungen gehen davon aus, dass die Inflation im laufenden Jahr im Durchschnitt bei immer noch 6,6 Prozent liegen wird. Besonders die unteren Lohngruppen sind davon überproportional betroffen, da die weit überdurchschnittlich gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel in deren Haushalten auch einen überproportionalen Anteil am jeweiligen Budget ausmachen. 

Soziale Komponente im Mittelpunkt 

Daher haben ver.di und die EVG von vornherein betont, dass die Forderung nach einer Mindesterhöhung von 500 bzw. 650 Euro einen besonderen Stellenwert in dieser Tarifauseinandersetzung hat. Zwar gehört die Forderung nach relativ hohen Sockelbeträgen für Geringverdiener als „soziale Komponente“ schon seit langem zum üblichen Forderungskatalog, wurde aber in den vergangenen Tarifverhandlungen zumeist sang- und klanglos beerdigt. Für Beschäftigte in den unteren Entgeltgruppen würden 500 bzw. 650 Euro eine Gehaltserhöhung von bis zu 20% bedeuten, also deutlich mehr als die geforderten lineare Erhöhungen 10,5 bzw. 12%.
 

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Dagegen betonen die Verhandlungsführer des Bundes und der Vereinigung kommunaler Arbeitgeber (VKA), dass die Forderungen der Gewerkschaft „überzogen“ und „nicht finanzierbar“ seien. Ihr bisheriges Angebot wertet ver.di als „Provokation“. Demnach sollen die Tabellenentgelte in zwei Stufen zum 1. Oktober 2023 um drei Prozent sowie ab 1. Juni 2024 um weitere zwei Prozent erhöht werden, bei einer Gesamtlaufzeit von 27 Monaten. Dazu käme eine in zwei Raten ausgezahlte Sonderzahlung von insgesamt 2500 Euro. Ein ähnliches Angebot hat auch die Deutsche Bahn AG vorgelegt.

Vor allem die gewerkschaftliche Forderung nach einer Mindesterhöhung wurde dabei komplett ignoriert. Eine Annahme dieses Angebots würde also bedeuten, dass die Reallohnverluste im vergangenen Jahr nicht einmal annähernd ausgeglichen und zudem für die kommenden Jahre fortgeschrieben werden. Ver.di verhandelt für rund 2,5 Millionen Tarifbeschäftigte im Öffentlichen Dienst, die EVG für insgesamt 230.000 Mitarbeiter bei der Deutschen Bahn und rund 50 privaten Schienenverkehrsbetrieben. 

Streiks sollen wehtun 

Mit ihrem massiven Warnstreik wollen die Gewerkschaften vor allem demonstrieren, dass sie es diesmal ernst meinen und auch in der Lage sind, ihren Forderungen entsprechenden Nachdruck zu verleihen, nicht mehr und nicht weniger. Ihre Basis wissen die Verhandlungsführer dabei hinter sich. Ob es in den laufenden Tarifverhandlungen noch zu einer Einigung kommt, oder ob die Verhandlungen scheitern und es anschließend zu Urabstimmungen und dann möglicherweise noch weitergehenden, unbefristeten Streiks kommt, ist derzeit offen. Auch die einvernehmliche Einleitung von Schlichtungsverfahren erscheint als realistische Option. 

Das alles bewegt sich im Rahmen der im Grundgesetz verankerten Koalitionsfreiheit und somit auch des Streikrechts. Dieses ist – anders als in Frankreich – auf Forderungen beschränkt, die sich unmittelbar und ausschließlich auf Tarifverträge beziehen, deren Laufzeit beendet ist. Sonst gilt die sogenannte Friedenspflicht, Streiks wären also illegal. Hinweise, dass sich die Gewerkschaften außerhalb dieses engen gesetzlichen Rahmens bewegen, gibt es nicht. 

Natürlich können Streiks zu großen volkswirtschaftlichen Einbußen führen, und im Fall von Arbeitsniederlegungen, die die öffentliche Infrastruktur betreffen, auch massiv in den Alltag von Bürgern eingreifen, die nicht an dieser Auseinandersetzung beteiligt sind. Aber genau das ist eben ein Kernbestandteil des Streikrechts, denn „Streiks zeigen, wie wichtig die Arbeit der Beschäftigten ist und dass Löhne nicht der Willkür von Arbeitgebern unterliegen dürfen. „Das muss dann auch mal wehtun“, so die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi. 

Angriffe auf das Streikrecht 

Doch wie schon bei vergangenen Arbeitsniederlegungen von Piloten, Lokführern und Krankenhauspersonal werden auch angesichts des aktuellen Warnstreiks Forderungen laut, das Streikrecht entsprechend einzuschränken „Die Arbeitskämpfe der Gewerkschaften zielen immer häufiger darauf ab, mit möglichst geringem Aufwand möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzeugen – und dabei auch Mitglieder zu gewinnen. Auch deshalb brauchen wir neue Regeln, am besten ein Streikgesetz“, fordert Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Streiks dürften „nicht gegen die allgemeine Bevölkerung zielen“.

Ähnliche Töne schlugen der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) und die Mittelstandsvereinigung der CDU (MIT) an, die unter anderem verbindliche Schlichtungsverfahren bei Streiks in Bereichen der öffentlichen Infrastruktur forderten oder die aktuellen Arbeitsniederlegungen gar als „Geiselhaft“ bezeichneten. 

Die Axt an ein bewährtes Grundrecht legen

Aber man sollte die Kirche mal im Dorf lassen. Ein 24-stündiger Warnstreik im Verkehrswesen bringt zweifelsohne für viele Menschen einige Unannehmlichkeiten mit sich, die aber kaum gravierender sind als bei plötzlichen Wintereinbrüchen. Und gerade die Deutsche Bahn bestreikt sich mit zunehmender Intensität quasi permanent selber: Ausgefallene Züge, große Verspätungen, und großflächige Streckensperrungen sind längst Alltag, und die dafür ursächliche marode Infrastruktur kann man nun wirklich nicht den Gewerkschaften in die Schuhe schieben. 

Das gilt auch für den katastrophalen Personalmangel in vielen Bereichen der öffentlichen Infrastruktur. Und der hat durchaus auch mit teilweise nicht sonderlich attraktiven Vergütungen und Arbeitsbedingungen zu tun. Der heutige Warnstreik mag vielen überzogen erscheinen –  aber illegitim ist er keinesfalls. Und für leichtfertige Versuche, die Axt an ein bewährtes Grundrecht zu legen, sollte er keinesfalls missbraucht werden. Denn dann bekommen wir irgendwann vielleicht wirklich „französische Verhältnisse“, statt der im Großen und Ganzen gut funktionierenden Sozialpartnerschaft der Tarifparteien.

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