Markus Söder im Interview - „Man muss den Zeitgeist prägen“

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder spricht über seine Rolle im Wahlkampf, die richtige Strategie gegenüber der neuen Bundesregierung und über seinen Ansatz in der Pandemie-Bekämpfung. Zwei bis drei Prozent der Stimmenverluste bei der Bundestagswahl für die CSU führt Söder auf seine Corona-Politik zurück. Für ihn ein „Kollateralschaden“, denn der Schutz des Lebens sei wichtiger.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder beim Treffen mit „Cicero“ im Heimatministerium in Nürnberg. Hinter Söder steht ein großer Aufsteller, auf dem der fränkische Brombachsee zu sehen ist / Sonja Och
Anzeige

Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

So erreichen Sie Ben Krischke:

Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

Markus Söder wurde 1967 in Nürnberg geboren. Er ist seit März 2018 bayerischer Ministerpräsident und seit 2019 CSU-Vorsitzender. Cicero trifft ihn Anfang November im Heimatministerium in Nürnberg. Zu dem Zeipunkt liegt der Inzidenzwert in Deutschland bei knapp 200. Die vierte Welle hatte begonnen. Bevor das Gespräch beginnt, klärt Söder seinen Besuch aus Berlin und München aber erstmal auf, welcher See auf dem großen Aufsteller zu sehen ist, vor dem er im Konferenzraum Platz nimmt. Es ist der Brombachsee, der größte in Franken.

Herr Ministerpräsident, mit Blick auf den Bund sind Sie seit neuestem Vorsitzender einer Oppositionspartei. Hat sich dadurch ihr Lebensgefühl verändert?

Für die meisten in der Union ist das eine völlig neue Situation. Ein Großteil der Abgeordneten kennt nur die Regierungszeit. Ich selbst war CSU-Generalsekretär in der Opposition im Bund (während der zweiten Amtszeit Gerhard Schröders – Anm.d.Red.). Daher weiß ich, dass Oppositionsarbeit ein hartes Brot ist. Nach 16 Jahren an der Regierung wird das ein steiniger Weg zurück.

Was waren die entscheidenden Fehler im Wahlkampf, aber auch in der Zeit davor?

Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich viele Bürger nach 16 Jahren eine andere Regierung vorstellen können. Wahr ist aber auch, dass die Union nach dem angekündigten Rückzug Angela Merkels nie wirklich zur Ruhe gekommen ist. Aber es bringt auch nichts, endlose Hin-und-her-Debatten zu führen. Man muss sich irgendwann mit der Realität abfinden. Und die Realität heißt Opposition.

Gegen Sie lautete ein Vorwurf im Wahlkampf, Sie würden immer wieder gegen Armin Laschet sticheln. Laschet hat zuletzt in der Talkshow „Maischberger“ davon gesprochen, Ihre Äußerungen seien „nicht hilfreich“ gewesen. Wie bewerten Sie Ihre eigene Rolle im Wahlkampf?

Wir müssen jetzt nach vorne blicken. Und nebenbei bemerkt: Ich glaube, dass die Bevölkerung wenig Interesse an einer ständigen Nabelschau der Union hat. Die Bevölkerung schaut jetzt, was die Ampel macht, und wird prüfen, ob wir als Union in der Lage sind, eine konstruktive Opposition zu bilden.

Eine große Frage innerhalb Ihrer Partei lautete: „Warum hat Markus Söder jahrelang behauptet, sein Platz sei in Bayern und bleibe in Bayern, um in letzter Minute doch noch Anspruch auf die Kanzlerkandidatur zu erheben?“ Was hat Sie da geritten?

Ausschlaggebend waren der große Wunsch der CDU-Basis und die Rückmeldung aus der Bevölkerung in Deutschland. Dies war auch an den Zustimmungswerten abzulesen.

Klar ist jedenfalls geworden, dass die Unionsparteien kein wirklich geordnetes Verfahren zur Kür eines Kanzlerkandidaten haben. Muss sich daran bis zur nächsten Bundestagswahl etwas ändern?

Es gibt drei Varianten. Die erste wäre, dass der Bewerber oder die Bewerberin der CDU die klare Nummer eins ist. Das ist im Grunde der Normalfall. Die zweite wäre, dass die gemeinsame Bundestagsfraktion über die Kanzlerkandidatur entscheidet. Das war 1979 so – und hat damals zu starken Spaltungen innerhalb der Union geführt. Daher war das diesmal auch keine Option. Und die dritte Variante wäre eine konsensuale Nominierung gewesen. Also wie damals, als Angela Merkel vorgeschlagen hat, Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat aufzustellen. Klar ist, dass wir es künftig anders machen wollen als dieses Jahr.

Die CDU stellt sich neu auf. Erstmals gibt es eine Mitgliederbefragung, wer neuer CDU-Vorsitzender werden soll. Halten Sie diese Form von innerparteilicher Basisdemokratie für ein Modell mit Zukunft?

Wenn Parteitagsentscheidungen keine eindeutige Lösung bringen, kann es das sein. In der jetzigen Situation ist eine solche Mitgliederbefragung daher ein kluger und umsichtiger Weg. Aber was wir jetzt wirklich am wenigsten brauchen, ist ein umfangreiches Ratschlagskompendium der CSU an die CDU. Daher werden wir uns aus dem gesamten Prozess komplett heraushalten. Entscheidend ist, dass die Union wieder als geschlossene Einheit wahrgenommen wird.

Teil dieser Zusammenführung ist die Diskussion darüber, wie die Union ihr Profil wieder stärken kann. Was muss eine moderne und bürgerliche Volkspartei bieten?

Wir müssen mit der Zeit gehen und unsere Vorstellungen der Zukunft deutlicher herausstellen – etwa beim Klimaschutz oder der Digitalisierung. Aber wir müssen auch wieder stärker auf die Mitte der Gesellschaft schauen. Franz Josef Strauß würde sagen: „Wir müssen uns auch wieder mehr um die Leberkäs-Etage kümmern.“ Denn viele Menschen akzeptieren zwar die Modernität, ihre Seele kommt aber nicht mehr nach. Sie wünschen sich, dass es in einer beschleunigten Zeit auch entschleunigend um Werte und Haltung geht. Das bedeutet Politik mit mehr gesundem Menschenverstand. Dazu gehören ganz klar: keine Legalisierung von Drogen, keine Absenkung des Wahlalters und eine Absage an den sprachlichen Genderwahn. Wir brauchen außerdem eine kluge Balance zwischen Humanität und Ordnung bei der Zuwanderung sowie eine solide Finanzpolitik ohne Aufweichung der Schuldenbremse und ohne Vergemeinschaftung der Schulden in Europa. Und nicht zu vergessen: der Respekt vor der Bewahrung der Schöpfung und ein soziales Miteinander. Wenn man all diese Punkte zusammenfasst, haben wir ein ganz attraktives Programm, mit dem man viele Wählerinnen und Wähler begeistern kann.

Sie sagen, man müsse mit der Zeit gehen. Identitätspolitik entspricht auch dem Zeitgeist. In diesem Fall würden Sie aber einwenden, dass sie nicht dem gesunden Menschenverstand entspricht?

Mit der Zeit gehen heißt für mich, dass man den Zeitgeist prägen, nicht ihm hinterherlaufen muss. Wir müssen zum Beispiel aufpassen, dass aus der ökologischen keine soziale Frage wird. Ich will nicht, dass sich am Ende neben Querdenkern auch noch Gelbwesten vereinen und wir weitere Spaltungen in der Gesellschaft erleben. Und ja, auch Gleichberechtigung ist selbstverständlich ein zentraler gesellschaftlicher Auftrag. Aber die erreichen wir nicht dadurch, dass wir ganze Sprachbegriffe ändern. Wir haben deshalb in Bayern dafür gesorgt, dass Universitäten und Professorinnen und Professoren den Studenten keine schlechteren Noten geben können, wenn Gender-Vorschriften nicht befolgt werden. Wir brauchen keine Sprachpolizei.

Das Wahlalter nicht auf 16 Jahre abzusenken, haben Sie eben auch unter gesundem Menschenverstand subsumiert. Warum?

Es ergibt keinen Sinn, dass man mit 16 Jahren nicht Auto fahren darf oder nicht voll geschäftsfähig ist, aber wählen soll. Ich glaube, diese Ampel hat ein falsches Machtzentrum. Die Dominanz geht von FDP und Grünen aus. Beide zusammen vertreten aber gerade einmal ein Viertel der Wähler. Wir müssen deshalb aufpassen, dass nicht eine Minderheit die großen Standards für die Mehrheit der Bevölkerung setzt.

Wir erleben seit Jahren einen schleichenden Niedergang der großen Volksparteien. Ist das Konzept der Volkspartei, die breite Bevölkerungsschichten durch ihr Programm abbildet und an sich bindet, noch zeitgemäß?

Es ist auf jeden Fall ambitionierter als früher. Das liegt daran, dass sich klassische Milieus auflösen. Für die Union ist zum Beispiel eine der schwierigsten Herausforderungen, dass früher viele Stammwähler bekennende Christen waren. Heute sind die Kirchen in der Krise, weil sie dramatisch an moralischer Akzeptanz und an Mitgliedern verloren haben. Die Union war aber nie eine Programmpartei. Anders als die SPD übrigens. Denn Programmpartei bedeutet: Man hat eine Meinung und will den Rest der Menschen zu dieser Meinung erziehen.

„Überzeugen“, könnte man auch sagen.

Bei den Linken ist es weniger der Überzeugungswille als vielmehr der Erziehungscharakter, der dominiert. Die Union war immer eher pragmatisch. Schauen Sie sich die Regierungszeit von Angela Merkel an. Die war weniger geprägt durch eine ideologische Struktur, sondern davon, drängende Herausforderungen zu bewältigen. Als Union müssen wir deshalb als Sammlungsbewegung den Bürgern eine geistige Heimat bieten und gute Konzepte anbieten, die die Probleme der Mitte der Gesellschaft lösen. Und eines dürfen Sie nicht vergessen: Die Stärke der Union ergibt sich künftig auch daraus, wie die Ampel agiert.

Sie sprachen gerade davon, dass bei Angela Merkel kein roter Faden im Sinne einer ideologischen Struktur zu beobachten war. Tatsächlich gab es in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft vielmehr zahlreiche Sinneswandel, die ihr vor allem die klassischen Unionswähler übel genommen haben. Hätte es mehr Fundament und weniger Fähnchen im Wind gebraucht?

Angela Merkel ist bis heute die beliebteste Politikerin. Die Veränderungen hatten damit zu tun, dass Parteien der gesellschaftlichen Entwicklung eher ein bisschen hinterherlaufen. Manche Entscheidung war daher sicher eine Herausforderung. Deshalb brauchen wir künftig eine bessere Synchronisation zwischen den Erfordernissen der Zeit und den Gefühlen der Menschen.

Früher galten Sie noch als Law-and-Order-Mann, haben Begriffe mitgeprägt wie „Asyltourismus“. Dann haben Sie angefangen, symbolisch Bäume zu umarmen. Wie kam es dazu?

Ökologisch gesehen war ich immer sehr engagiert. Als Umweltminister in Bayern habe ich mich gegen überzogene Agrar-Gentechnik und den Betonausbau der Donau gewehrt. Auch das Ende des fossilen Brennstoffs habe ich damals schon angedacht. Und ich gebe zu: Ich finde es einfach sympathischer, einen Baum zu umarmen als einen Betonpfeiler (lacht). Wenn ein Großteil der Menschen ein Thema als besonders wichtig ansieht, dann wäre es relativ überheblich und am Volk vorbei, wenn eine Regierung dies ignorieren würde. Wenn Arten- und Klimaschutz ein Kernanliegen der Bevölkerung ist, muss es auch ein Kernanliegen der Union sein. Die Bewahrung der Schöpfung ist ein urkonservatives Anliegen. Außerdem habe ich 2018 mit einem Programm begonnen, das aus der Herzkammer einer tiefschwarzen politischen Seele kam.

…die Ihre eigene war?

Ja. Die CSU war damals zu sehr auf sich und ihre Personalfragen fokussiert und hat verpasst, wie rasch sich die Gesellschaft verändert hat – gerade in Bayern. Alleine der enorme Zuzug: In Bayern leben heute mehr als 13 Millionen Menschen. Mit dramatischen Entwicklungen verändern sich auch die Erwartungen an die Politik. Wenn man, wie ich, als Flügelstürmer startet und dann ins Zentrum politischer Verantwortung rückt, muss man selbst auch mittiger denken. Das war bei Edmund Stoiber auch so.

Wir würden mit Ihnen gern noch über Ihren Freiheitsbegriff sprechen. Was bedeutet Freiheit für Markus Söder?

Der Freistaat Bayern heißt auch deshalb so, weil der Freiheitsbegriff für uns wichtig ist. Freiheit bedeutet für mich „Leben und leben lassen“, aber trotzdem Leitplanken zu setzen. Deswegen gilt für mich: gesellschaftliche Freiheit so viel wie möglich – und gleichzeitig staatliche Sicherheit, wo nötig.

In Bayern war die Corona-Politik mit besonders starken Einschnitten für die Bevölkerung verbunden. Haben Sie den Freiheitswillen der Bayern unterschätzt und dafür bei der Bundestagswahl auch ein bisschen die Quittung bekommen?

Das glaube ich nicht. Eine verantwortliche Politik zeichnet sich dadurch aus, auch in schwierigen Phasen Kurs zu halten. Aber in der Tat hat es bei Corona auch Kollateralentwicklungen gegeben, die die CSU bei der Bundestagswahl bestimmt 2 bis 3 Prozentpunkte gekostet haben. Das lässt sich sogar nachzeichnen: Dort, wo die höchsten Infektionszahlen sind, gibt es die niedrigsten Impfraten. Gleichzeitig waren dort die Zustimmung für das Volksbegehren „Landtag abberufen“ am höchsten und die Ergebnisse für die CSU bei der Bundestagswahl am niedrigsten. Diesen Zusammenhang nehme ich aber gerne auf meine Kappe. Denn der Schutz des Lebens ist wichtiger. Wir haben in Bayern laut Gesundheitsministerium bei den ersten Wellen mehr als 130.000 Leben gerettet und 850.000 Menschen vor Long Covid bewahrt. Nicht jede Maßnahme war perfekt. Aber es hat in der Summe gewirkt. Es ist für einen christlichen Politiker ein hohes und bleibendes Gut, Leben geschützt zu haben.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Ausgangssperre im März 2021 in Bayern für rechtswidrig erklärt. Das ist schon ein bisschen mehr als „nicht perfekt“.

98 Prozent aller Gerichtsentscheidungen haben die Maßnahmen der Bayerischen Staatsregierung bestätigt. Wir respektieren die Entscheidung des Gerichts, halten die Argumente aber nicht für richtig. Deshalb gehen wir in die nächste Instanz. Zu Beginn der ersten Welle gab es weder einen Impfstoff noch das Wissen, wie das alles ausgeht. Also haben wir entschieden, zum Schutz von Gesundheit und Leben mit einem Maximalansatz die Welle zu brechen. Der Erfolg hat uns recht gegeben.

Eine Alternative wäre gewesen, der eigenen Bevölkerung zuzutrauen, dass mündige Bürger selber entscheiden können, was sie tun.

Man darf nicht vergessen: Andere europäische Länder hatten damals sogar noch sehr viel härtere Maßnahmen ergriffen. Wir setzen auf so viel Eigenverantwortung wie möglich, stellen aber leider immer wieder fest, dass wir damit auch an Grenzen stoßen. Die Geimpften werden jetzt wieder konfrontiert mit der ganzen Unvernunft oder Unsicherheit der Ungeimpften. Und dadurch, dass der Impfstoff, wie zu erwarten war, nachlässt, haben wir nun auch immer mehr Impfdurchbrüche. Deshalb sind Auffrischungsimpfungen so wichtig. Ich mache schon länger Politik, und nie gab es so eine klare Kausalität zwischen den Entscheidungen der Politik und der tatsächlichen Bewahrung von Leben.

Sie haben vorhin die Ampelkoalition angesprochen. Von außen betrachtet, haben wir ein bisschen Schwierigkeiten zu sehen, wo da eigentlich die Klammer sein soll.

Die Klammer lautet: Macht (lacht).

Mag sein. Jedenfalls haben wir auf der einen Seite zwei etatistische Parteien, die wahrscheinlich noch etatistischer werden: SPD und Grüne. Und auf der anderen Seite eine liberale Partei, die stark auf Eigenverantwortlichkeit setzt. Wo soll da die Bindekraft für eine Regierungskoalition herkommen?

In der Tat sind die Unterschiede groß. Am Anfang gibt es, wie bei fast allem, einen Honeymoon. Deshalb hat man versucht, über gesellschaftliche Themen eine Brücke zu finden. Das sind übrigens die Themen, bei denen sich die Union sehr gut als Alternative präsentieren kann. Ich glaube, dass die Ampel sehr schnell auf dem Boden der Realität landet. Und ich glaube auch, dass die Ampel nicht ewig hält.

Weil es bei der Ampel deutlich mehr Sollbruchstellen gibt als bei einer Großen Koalition?

Viel mehr. Allein schon, weil es mehr Partner sind. Mit CDU und CSU waren wir in der Großen Koalition im Prinzip auch drei Partner, aber eine Ampelregierung ist noch mal etwas ganz anderes. Die Formalitäten, die Abstimmungen, die Interessen, die Sorgen um die jeweiligen Beteiligungen in den Bundesländern: Das alles macht es ziemlich kompliziert. Daher ist diese Ampelregierung ein Experiment.

Für den Fall, dass die Ampel scheitert, muss die Union allerdings regierungsfähig sein, insbesondere die CDU.

Die CDU wird zur Ruhe kommen und einen neuen Vorstand wählen. Dann ist das Ziel, dass wir die kommenden Landtagswahlen gut bestreiten. Wir haben nächstes Jahr vier Landtagswahlen – davon drei im ersten halben Jahr.

Und zwar drei Landtagswahlen, bei denen die Union eigentlich nichts zu gewinnen, sondern nur zu verlieren hat. Weil sie nämlich in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Schleswig-Holstein die jeweilige Regierung anführt.

Wenn es gelingt, diese Wahlen erfolgreich zu bestreiten, ist eine gute Basis für die Zukunft gelegt. Wenn man in Berlin regiert, sind die Länder zu einem gewissen Grad in die Regierungsdisziplin eingebunden. Das hat es der Union nicht immer leicht gemacht. Jetzt werden die Unionsländer eine wichtigere und freiere Rolle spielen. Deshalb werden wir uns als Ministerpräsidenten der Union ganz eng koordinieren, um im Bund Flagge zu zeigen gegen die Ampel.

Die Erzählung der Ampelkoalitionäre wird wohl sein: „Wir stehen für die Modernisierung Deutschlands.“ Wo sehen Sie den größten Modernisierungsbedarf?

Es ist nicht modern, Drogen zu legalisieren, das Wahlalter zu senken und Gendersternchen zu verteilen. Das ist keine Modernisierung, das sind alte Kamellen. Drogenlegalisierung stammt aus den achtziger Jahren, die Gendersternchen sind eine uralte Identitätsdebatte, und das mit dem Wahlalter höre ich seit 20 Jahren. Wenn das modern sein soll, dann gute Nacht, Ampel! Die Kernfragen sind: Wie schaffen wir die Digitalisierung im Alltag? Breitband, WLAN, Mobilfunk – da muss eine andere Gesetzesgrundlage her. Und dann die ökologische Transformation: Es ist nicht unbedingt eine kluge Idee, drei Windräder in jedes Dorf zu stellen, statt Trassen für die Stromverteilung schneller zu bauen. Im Norden werden Windräder sogar abgeschaltet, weil der Strom nicht in den Süden kommt.

Da geht es vor allem um die Genehmigungsverfahren.

Ja, die Verfahren müssen deutlich beschleunigt werden. Und am besten verlegt man so viel wie möglich unterirdisch – auch wenn das mehr kostet. Denn das ist eine Investition für lange Jahre. Diese Regierung muss es schaffen, auf erneuerbare Energien umzustellen, ohne einen Blackout zu riskieren. Daran wird sich die Ampel messen lassen müssen.

Noch eine Frage zur Außenpolitik. Die Bundesrepublik hat eigentlich keine echte geopolitische Strategie, weil man dachte, die EU würde einem diese Aufgabe schon abnehmen. Jetzt erleben wir aber, dass Europa und Deutschland drohen, zermalmt zu werden zwischen den Hegemonialansprüchen der Chinesen, die neu sind, und denen der Amerikaner. Wären Sie Kanzler geworden, hätten Sie sich auch damit auseinandersetzen müssen. Wie hätten Sie versucht, dieses Problem zu lösen?

Zunächst ist es wichtig, dass wir Europa wieder stärken. Dies geht nur, wenn wir die vorhandenen Spaltungen innerhalb der EU nicht weiter vertiefen. Wir haben zwei Trennungslinien in Europa: Nord-Süd, was das Geld betrifft. Dort ist mit dem Recovery Fund eigentlich eine Basis gesetzt worden. Allerdings dürfen wir nicht in eine dauerhafte Transferunion einsteigen. Daher lehnen wir Eurobonds ab. Und wir haben die politisch-kulturelle Trennungslinie Ost-West. Wenn es zum Beispiel von Polen einen zweiten EU-Austritt nach dem Brexit gäbe, würde Europa massiv geschwächt und schleichend von der Weltbühne abtreten. Daher müssen wir Europa festigen, was nur durch viele bilaterale Gespräche und mehr Verständnis gelingen kann. Auch wenn manche Partner schwierig sind und natürlich Regeln für alle gelten: Brüssel braucht auch untereinander wieder mehr Diplomatie und weniger Belehrungsmodus.

Das heißt?

Die Kommission könnte wieder mehr in einen partnerschaftlichen Stil hineinfinden. In Bezug auf die Beziehungen außerhalb der EU benötigt es die richtige Balance aus Werten und Interessen. Wir stehen für Demokratie und für Freiheit, aber wir werden nicht der ganzen Welt unser Nation Building verordnen können. Das hat sich in Afghanistan gezeigt. Deswegen glaube ich, dass Deutschland und Europa ihre Interessen auch stärker verfolgen dürfen. Dazu gehören ein vernünftiger Umgang mit Russland und wirtschaftliche Kontakte zu China. Wir werden die Welt nicht von einem Tag auf den anderen ändern können, aber wir können daran arbeiten.

Können Sie die Rolle Polens im aktuellen Verfassungsstreit nachvollziehen?

Zunächst einmal glaube ich, dass die polnische Gesellschaft etwas anderes ist als die polnische Regierung. Man sieht das an den Demonstrationen und der großen Bereitschaft der polnischen Bürger, in der EU zu bleiben. Zwischen der Vermittlungsrolle in Brüssel und der individuellen Ansprache muss es aber noch eine bessere Balance geben. Auch bilaterale Besuche sind in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen. Ich fand zum Beispiel den letzten Besuch der Kanzlerin in Frankreich sehr berührend. Bilaterale Gespräche können eine ganz eigene Dynamik entfachen.

Letzte Frage: Für die Union geht es wohl erst mal vier Jahre auf die Oppositionsbank. Atmen Sie jetzt noch mal durch und bringen sich ganz in Ruhe in Stellung für die Kanzlerkandidatur in vier Jahren?

Vor vier Jahren hat Horst Seehofer erklärt, wieder als Ministerpräsident anzutreten. Ein Virus wie Corona war unvorstellbar. Das zeigt: Niemand weiß, was in vier Jahren sein wird. Warten wir es ab.

Die Fragen stellten Alexander Marguier und Ben Krischke.

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige