Wielers Rückzug - Der Lothar geht von Bord

Mit dem Ende der Pandemie verlässt Lothar Wieler das Robert-Koch-Institut. Damit ist der Weg endlich frei, um das in der Corona-Krise zu oft negativ aufgefallene Bundesinstitut in die Zukunft zu entlassen.

„In der Pandemie hat das RKI seine Exzellenz unter Beweis gestellt“, sagt dessen Chef Lothar H. Wieler / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Er hat es geschafft! Lothar H. Wieler, der auf seinen täglichen Pressekonferenzen während der Hochphase der Corona-Pandemie immer eher wie ein ergebener Fußsoldat, denn wie ein freier Wissenschaftler agierte, hat fast drei Jahre nach Ausbruch der Sars-Cov-2-Pandemie seine Anstellung an den Nagel gehängt. Schon am vergangenen Mittwoch teilte das Berliner Robert Koch-Institut (RKI) in einer Presseaussendung mit, dass der 61-jährige Fachtierarzt für Mikrobiologie den seit März 2015 von ihm besetzten Platz an der Spitze der Bundesoberbehörde für Infektionserkrankungen auf eigenen Wunsch zum 1. April hin räumen werde. Der oft sehr steif und spröde wirkende Professor wolle sich „künftig neuen Aufgaben in Forschung und Lehre zuwenden", hieß es lapidar vom RKI-Hauptsitz am Weddinger Nordufer.

Das Ende dieser Dienstfahrt kam nicht überraschend. Und das nicht nur, weil das vom Virologen Christian Drosten jüngst verkündete Ende der Pandemie auch für Wieler ganz sicher ein willkommenes Ausstiegsdatum markiert hat. Besonders während des zurückliegenden letzten Pandemiejahrs, das der RKI-Präsident unter der Oberaufsicht und zuweilen auch der Kritik des aktuellen Gesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) absolvieren musste, machte der Veterinärmediziner aus der Nähe von Bonn immer wieder den Eindruck, er würde eher zur Ziellinie hin kriechen, als dass er die Seuchenbekämpfung noch fest in seinen Händen hielte. 

Das Schwarzbuch RKI

Dabei war der endgültige Wendepunkt wohl schon der 30. Juni des vergangenen Jahres. An jenem noch immer berüchtigten Donnerstag nämlich veröffentlichte ein von Bundesregierung und Bundestag eingesetzte Sachverständigenausschuss einen Bericht der Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik. Wer je dieses erschütternde Dokument in Gänze gelesen hat, der wird es eindeutig als das erkannt haben, als was es in weiten Teilen ganz sicher gemeint war: Als ein „Schwarzbuch Robert Koch-Institut“. Die das Krisenmanagement begutachtenden Wissenschaftler nämlich gaben sich in ihrem Bericht erst gar nicht die Mühe, sonderlich um den heißen Brei herumzuschreiben. 

Für sie krankte die deutsche Pandemiepolitik quasi vom ersten Tag an an fehlenden Daten und an unzulänglichen Begleitstudien: „Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von NPI [Non-pharmaceutical intervention, d.Verf.] genutzt wurden, ist eine koordinierte Begleitforschung während der Corona-Pandemie in Deutschland weitgehend unterblieben“, schreiben sie sehr sachlich und nüchtern schon in den ersten Kapiteln ihres 149 Seiten umfassenden Berichts und zeigen damit eindeutig mit dem Finger auf jene einst von Robert Koch selbst gegründete Institution, die für all diese Aufgaben zuständig gewesen wäre: das RKI unter seinem Chef Lothar Wieler. 

Die Kritik wächst

Spätestens von da an also war Weggucken nicht mehr möglich. Zumal die Autoren des Berichtes Ross und Reiter offen beim Namen nannten: „Bereits im Jahr 2001“, so schrieben sie, „wurde vom RKI darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit der im Infektionsschutzgesetz verankerten Non-pharmaceutical interventions […] nicht näher untersucht und deren Wirksamkeit daher unbekannt sei. Dem RKI war daher klar, dass demzufolge diese Maßnahmen nur probatorisch angeordnet werden können.“

Eigentlich hätte das der Tag von Wielers Rücktritt sein müssen. Zumal es nicht das erste Mal war, dass sein Institut während der Pandemie für extrem negative Schlagzeilen sorgte. Im Herbst 2021 etwa – Deutschland zerlegte sich gerade genüsslich über eine angeblich viel zu niedrige Impfquote, und die nächste Winterwelle war schon im Anmarsch – da musste Wielers Institut eingestehen, dass man sich bei der Erfassung der Geimpften sehr wahrscheinlich vertan habe. Es müsse, so hieß es jetzt von Seiten des RKI, eine Unterschätzung von bis zu fünf Prozentpunkten für den Anteil mindestens einmal Geimpfter beziehungsweise vollständig geimpfter angenommen werden. 
 

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Für viele war schon dieses Eingeständnis der endgültige Point of no Return. Die damalige FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus etwa wetterte jetzt ganz offen gegen Wieler und behauptete, dass sie schon vor Monaten um die viel zu niedrige Impfrate geahnt hätte: „Jetzt haben wir Oktober, und Herr Wieler korrigiert die Quote um fünf Prozent nach oben. Und es wird so getan, als wäre das ein Erfolg“, so Aschenberg-Dugnus damals gegenüber der Bild-Zeitung. Die Bevölkerung gab ihr unumwunden recht. Am Tiefpunkt der Debatte vertrauten 57 Prozent der Deutschen nicht mehr den Infektionszahlen des RKI. Im Schatten des Instituts war Wissenschaft zur Glaubenssache verkommen. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) mahnte damals: „Wir brauchen Klarheit und Wahrheit in der Frage der Daten.“ Wielers Institut müsse daher genau unter die Lupe genommen werden.

Wielers Eigenlob

Derselbe Holetschek beeilte sich nun, ein Tag nach Wielers Rücktrittsankündigung, den scheidenden RKI-Chef lobende Worte hinterherzurufen: „Herr Wieler hat mit Expertise, Besonnenheit und großem Engagement dazu beigetragen, Deutschland durch eine schwere Gesundheitskrise zu führen. Dafür gebührt ihm aufrichtiger Dank“, so Holetschek gestern in München. Fast ist es, als wollten alle diese ungute Zeit nur möglichst schnell vergessen. Außerdem hatte es für die Politik ja zuweilen auch etwas Gutes, das Bundesinstitut für Gesundheitsberichterstattung sowie für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten in zuweilen etwas zitternden Händen zu wissen. Immerhin konnte man so auch die dem RKI angegliederte Ständige Impfkommission (Stiko) gelegentlich ein paar uneingeforderte Ratschläge mit auf den Weg geben. Vom Institutsleiter Wieler jedenfalls ist nicht überliefert, dass er sich je einmal schützend vor seinen Stiko-Chef Thomas Mertens gestellt hätte.

So ist es letztlich an Wieler selbst, sich das Zeugnis für seine Corona-Jahre auszustellen: „In der Pandemie hat das Robert Koch-Institut seine Exzellenz unter Beweis gestellt“, schrieb sich der scheidende Präsident am vergangenen Mittwoch ins Stammbuch. „Es war ein Privileg, in dieser Krise an exponierter Position zusammen mit einem motivierten Team hervorragender Expertinnen und Experten arbeiten zu dürfen.“ In den kommenden Wochen wird das RKI von seinem Co-Chef Lars Schaade geleitet werden. Danach ist hoffentlich der Weg frei, um das bis dato weisungsbefugte Institut, das während der Pandemie zeitweise an die von einem Bundeswehr-Sanitätsarzt geleitete Abteilung 6 des Gesundheitsministeriums angegliedert war, weiterzuentwickeln.

Entweder führt der Weg dann in die einst angestrebte Unabhängigkeit oder es wird unter dem Dach des von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angedachten Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit weitergeführt. Die Zeit der ergebenen Fußsoldaten ist dann hoffentlich vorbei. Auch beim einstigen Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten. Für zukünftige Krisen braucht es keine fast schon militärische Fügsamkeit. Es braucht Evidenz, Daten und eine möglichst freie und ergebnisoffene wissenschaftliche Debatte - gerade auch in Zeiten der Krise.

 

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