Sabotage an Nord Stream - Kanzleramt soll bereits im März Pipeline-Lecks befürchtet haben

Rechnete die Bundesregierung mit Sabotageangriffen auf die Nord-Stream-Leitungen? Sechs Monate vor dem Sprengstoffanschlag auf die Ostsee-Pipeline soll ein Kanzleramtsvertreter vor einer Umweltkatastrophe gewarnt haben. Das Gas müsse „unbedingt aus der Leitung heraus“, man sei auf der Suche nach einer „schnellen Lösung“ mit der US-Regierung in Verhandlungen, heißt es in einer E-Mail von Mitte März, die Cicero vorliegt. Was ist danach geschehen?

Das Nord-Stream-1-Gasleck in der Ostsee, fotografiert aus einem Flugzeug der schwedischen Küstenwache. An den Nord-Stream-Gasleitungen in der Ostsee gibt es insgesamt vier Lecks / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Wer hinter dem mutmaßlichen Sabotageakt an den Nord-Stream-Gaspipelines steckt, ist noch nicht aufgeklärt. Am 26. September kam es an den deutsch-russischen Ostsee-Röhren zu mehreren Explosionen. Urheber unbekannt. Spekulationen gibt es viele. Doch der Vorfall ist nicht nur ein Politkrimi, sondern auch ein massives Umweltproblem. Denn das Erdgas, das durch die Lecks herausströmt, besteht vor allem aus Methan. Unverbranntes Methan, das in die Atmosphäre gelangt, gilt als 25 Mal klimaschädlicher als Kohlendioxid und ist laut Weltklimarat für 0,5 Grad der weltweiten Erwärmung verantwortlich. Laut Schätzungen des Umweltbundesamtes (UBA) könnten 300.000 Tonnen Methan aus den Lecks der Pipelines entweichen.

Genau deshalb machte man sich im Bundeskanzleramt bereits im März über die Gefahr eines solchen Lecks Gedanken. Nord Stream 2 war damals bereits befüllt, wurde als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine aber nicht in Betrieb genommen. „Die Leitung sei voll mit Gas gefüllt, dieses müsse unbedingt aus der Leitung heraus. Es dürfe keine Umweltprobleme/Umweltkatastrophe geben“, gibt eine Referentin der Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern in einer internen E-Mail einen Vertreter des Kanzleramts wieder. „Das Kanzleramt sei derzeit dazu mit der Regierung der USA in Verhandlungen. Es müsse eine schnelle Lösung geben“, schreibt sie weiter. Sie bezieht sich auf eine nichtöffentliche Sitzung der Arbeitsgruppe Energie der SPD-Bundestagsfraktion am 14. März. 

Sechs Monate später trat der Worst Case ein

Laut der Referentin sah das Kanzleramt damals große Dringlichkeit zu handeln. Nord Stream 2 stelle „in der Tat ein Problem“ dar: „Das Unternehmen habe alle Mitarbeiter entlassen, es bestehen die Sanktionsdrohungen der USA und es gebe derzeit keine Möglichkeiten, dass Firmen beauftragt werden können, sofern es zu Havarien komme“, gibt sie den namentlich nicht genannten Kanzleramtsvertreter wieder. Rund sechs Monate später trat das Worst-Case-Szenario ein – allerdings nicht infolge einer Havarie, sondern eines Sprengstoffanschlags.

Ausschnitt der E-Mail aus der Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern

Das Bundeskanzleramt will offiziell nichts mehr von den bereits Mitte März geäußerten Befürchtungen wissen. „Die angeblichen Aussagen sind dem Bundeskanzleramt nicht bekannt und lassen sich keiner bekannten Sitzung zuordnen“, behauptet ein Regierungssprecher gegenüber Cicero. Aus der Schweriner Staatskanzlei heißt es, der in der E-Mail wiedergegebene Kanzleramtsvertreter sei nicht ranghoch gewesen, sondern der Kategorie „Arbeitsebene“ zuzuordnen.

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Auf eine weitere Anfrage mit der Bitte um Auskunft, welche seiner Vertreter an der damaligen Sitzung der Arbeitsgruppe Energie der SPD-Fraktion teilgenommen haben, teilt das Kanzleramt nur mit: „Die Bundesregierung pflegt im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung den regelmäßigen Austausch mit parlamentarischen Akteuren. Dies schließt auch parlamentarische Kontakte mit den Fraktionen des Deutschen Bundestages mit ein.“ Im Übrigen verweise man auf die Antwort zur ersten Anfrage.

Sachverständige attestierten Festigkeit der Leitung

In Schwerin wurden die damaligen Aussagen aus dem Kanzleramt jedenfalls ernst genommen. Die Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern bat auf Grundlage des Vermerks ihrer Berliner Vertretung das Landeswirtschaftsministerium um eine Einschätzung zu den Fragen etwaiger Gefahren und Zuständigkeiten für Nord Stream 2. Ende März legte das Schweriner Wirtschaftsministerium nach Absprache mit dem für die Überwachung zuständigen Bergamt Stralsund seine Einschätzung dar. Der Bericht wirft die Frage auf, was genau das Kanzleramt laut Vermerk so sehr Schäden an der Pipeline befürchten ließ, dass es der Auffassung war, das Gas müsse „unbedingt aus der Leitung heraus“. Denn für Zweifel an der Festigkeit der Pipelines sprach – jedenfalls jenseits von gezielten Angriffen – nichts.
 

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Im Bericht des Landeswirtschaftsministeriums heißt es: „Gegenwärtig bestehen aus Sicht des Bergamtes Stralsund keine Bedenken hinsichtlich der Sicherheit und Integrität der gasgefüllten Leitungen (…). Es handelt sich um eine neue infrastrukturelle Anlage von komplexer Struktur“. Zudem wird angemerkt, „dass die Leitung NOS 1, die technisch noch nicht so aufwendig gearbeitet worden ist, seit über zehn Jahren komplikationslos betrieben wird.“

Hinzu kommt: Mit Fertigstellung der Leitungen des Doppelstranges Ende 2021 lagen laut Bericht „aktuelle Prüfbescheinigungen unabhängiger Sachverständiger vor, die eine Dichtheit und Festigkeit der Leitung attestieren.“

Ein Plan, um an das Erdgas zu kommen

Auch die Aussage, das Gas müsse „unbedingt aus der Leitung heraus“, nahm man in Mecklenburg-Vorpommern ernst. Das Wirtschaftsministerium MV unterbreitet in seinem Bericht einen Vorschlag, wie das Gas ohne Absprache mit Russland herausgeholt werden könnte. Zwar bestehe sicherheitstechnisch also kein Grund, Gas zu reduzieren. „Es kann jedoch als wünschenswert angesehen werden, den Gasdruck zu reduzieren, um an das enthaltene Erdgas heranzukommen. Ohne Kooperation durch die russische Seite könnte das technisch so geschehen, dass die Leitung an die EUGAL-Deutschlandleitung angeschlossen wird, die dann auf den niedrigsten Druck, der technisch machbar ist, gefahren wird. Dadurch könnte vermutlich alles Gas von 103 bar bis ca. 40-50 bar herunter verleitet werden und in die EUGAL abfließen.“ Eine komplette Entleerung sei „jedoch nur dann möglich, wenn auch auf russischer Seite dazu eine Mitarbeit gewährleistet ist.“

Der Vorschlag wirft die Frage nach den Eigentumsverhältnissen auf, schließlich handelt es sich um russisches Gas.

Verhandlungen mit den USA

Was die im Vermerk erwähnten Verhandlungen mit der US-Regierung betrifft, teilt das Kanzleramt zwar mit, „konkrete Verhandlungen [der Bundesregierung] mit den USA zu Themen im Sinne der Fragestellung“ seien „nicht bekannt.“ Laut dem Bericht des Wirtschaftsministeriums MV wurde im März aber zumindest ein Schreiben vorbereitet, auf dem detailliert aufgelistet werden sollte, welche Wartungs- und ggf. Unterhaltungsmaßnahmen zukünftig vorgenommen werden müssen. Dafür wollte man dann von der für die Sanktionsprüfung zuständigen OFAC (Office of Foreign Assets Control) eine Freigabe von den Sanktionen erreichen. Das Bundeswirtschaftsministerium plante laut Bericht, dieses ins Englische übersetzte Schreiben über die Deutsche Botschaft in Washington der OFAC zukommen zu lassen. Das Schreiben soll in enger Zusammenarbeit unter den beteiligten deutschen Behörden gegenwärtig abgestimmt worden sein.

Das Bundeswirtschaftsministerium äußert sich auf Cicero-Anfrage nicht zu dem im Bericht erwähnten Schreiben und den beteiligten Behörden. Stattdessen verweist man auf die Zuständigkeit des Bergamtes Stralsund für die Aufsicht über die Wartung und die Überprüfung der Festigkeit. „Für eventuelle Arbeiten ist die Nord Stream 1 und die Nord Stream 2 AG zuständig. Ein Rückbau der Leitungen wäre auch auf Grund der Eigentumsverhältnisse nicht gegeben. Das Gleiche gilt auch für das Gas, welches sich noch in der Pipeline befindet.“

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