Diskussion über Laufzeitverlängerung - Atomkraft ja bitte? Die Lebenslüge der Grünen bröckelt

Vor den Koalitionsverhandlungen kursiert in der FDP ein Papier, das den Weg zur Erhaltung der deutschen Kernkraftwerke skizziert. Und auch bei den Grünen gibt es nachdenkliche Stimmen. Findet die Ökopartei den Mut, sich einzugestehen, dass ihr Anti-Atom-Kurs ein klimaschädlicher Irrweg ist?

Die Erkenntnis wächst, dass Wohlstand und Klimaneutralität ohne Kernkraft kaum miteinander zu vereinbaren sind. / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Viel Zeit bleibt nicht mehr. An Silvester sollen die Reaktoren in Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen endgültig heruntergefahren werden. Die Hälfte der sechs verbliebenen Kernkraftwerke in Deutschland wäre damit stillgelegt. Ein Jahr später die anderen drei. So sieht es der 2011 beschlossene Atomausstieg vor. Doch je näher der Zeitpunkt rückt, umso ernsthaftere Sorgen machen sich Fachleute um die sichere Stromversorgung Deutschlands. Zumal Europa gerade in eine ernsthafte Energiekrise hineinschlittert, bedingt durch Gasknappheit und Windflaute.

In einem bemerkenswerten Aufsatz warnen zwei Ingenieure des Kernkraftwerkbetreibers Preussenelektra vor drohenden Engpässen und wachsender Instabilität der Stromversorgung in Deutschland. Gleichzeitig aus Atomenergie und Kohlverstromung auszusteigen, so die Schlussfolgerung der Autoren, wird nicht funktionieren. Und sie belegen mit nüchternen Zahlen, dass der derzeit von fast allen Parteien in Deutschland geforderte massive Ausbau von Wind- und Solarenergie die grundsätzlichen Probleme der Energiewende nicht löst, sondern verschärft.

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Die deutschen Energiekonzerne haben sich mit dem Atomausstieg zwar längst arrangiert. Offiziell würde keiner ihrer Manager eine Laufzeitverlängerung der sechs verbliebenen Kernkraftwerke fordern. Dafür sei es jetzt ohnehin zu spät, heißt es oft. Doch intern ist die Meinungslage anders. Mit dem Fachartikel der beiden Ingenieure der E.on-Tochter Preussenelektra ist dies erstmals nach außen gedrungen.

In der FDP kursiert ein Kernkraft-Rettungsplan

Auch in der Politik gibt es inzwischen Überlegungen, wie man die deutschen Kernkraftwerke noch retten könnte. Zumal dies nicht nur im Hinblick auf die Versorgungssicherheit, sondern auch für den Klimaschutz sinnvoll wäre: Atomenergie ist nahezu CO2-frei. Innerhalb der FDP, deren Anhänger Angela Merkels energiepolitische Kehrtwende nach Fukushima mehrheitlich für einen Fehler halten, kursiert gerade ein Papier, dass den konkreten Weg aufzeigt. Verfasst hat es der parteiunabhängige und nuklearfreundliche „Arbeitskreis Energie & Naturschutz“ (Aken), der damit Einfluss auf die Koalitionsverhandlungen der Liberalen mit SPD und Grünen nehmen will.

Der Arbeitskreis beruft sich auf „Vorstände und Führungskräfte führender Unternehmen der Kerntechnik und der Betreiber von Kernkraftwerken“, die sich zu „den spezifischen technischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Herausforderungen“ einer Laufzeitverlängerung geäußert hätten. Dies allerdings unter der „Bedingung der Anonymität“. Das Papier liegt Cicero vor. Zuerst hatte die FAZ darüber berichtet. Beiden Redaktionen gegenüber bestätigten Brancheninsider unabhängig voneinander, dass die darin getroffenen Aussagen zutreffend und die vorgeschlagene Vorgehensweise möglich sei. Was bislang fehlt, ist der politische Wille.

Betreiber bräuchten Garantie für 15 Jahre

Dabei wäre Eile vonnöten. „Die rechtlichen und gesetzlichen Voraussetzungen wären zügig zu treffen, um auch die drei Kernkraftwerke weiter nutzen zu können, die am 31.12.2021 ihre Betriebserlaubnis verlieren“, heißt es in dem Aken-Papier. Als erstes müsste das Bundeswirtschaftsministerium „schnellstens auf dem Verwaltungsweg ein Rückbauverbot veranlassen“. Dann müsste der Bundestag das Atomgesetz ändern und den Kraftwerksbetreibern „Garantie für den Weiterbetrieb über mindestens 15, besser 20 Jahre“ geben.

Technisch seien die sechs deutschen Atomkraftwerke auf dem neuesten Stand. „Für einen langfristigen Weiterbetrieb müssten bestimmte Komponenten nach und nach ausgetauscht werden. Diese Maßnahmen seien aber nicht dringlich und würden sich über den Stromverkauf selbst finanzieren“, schreibt Aken. Das Fazit: „Eine Laufzeitverlängerung der verbliebenen Kernkraftwerke ist möglich, würde über die Jahre rund eine Gigatonne CO2-Emissionen einsparen und helfen, die Energiepreise abzusenken.“

Ob sich die künftigen Partner einer Ampelkoalition in ihren Verhandlungen mit dem Thema Atomkraft beschäftigen werden, bleibt abzuwarten. Bislang vermeiden die Führungsspitzen aller drei Parteien, sich dazu zu äußern. Vor allem für die Grünen wäre eine Laufzeitverlängerung schwierig zu begründen. Denn es käme dem Eingeständnis einer Lebenslüge gleich.

Grüne habe sich lange für Kohle eingesetzt

Bis vor wenigen Jahren galt in der Ökopartei der energiepolitische Leitsatz, dass Kohlestrom das kleinere Übel gegenüber der seit Jahrzehnten verteufelten Kernkraft sei. Ein Kapazitäts- und Arbeitsplatzabbau im heimischen Steinkohlenbergbau sei unverantwortlich, solange noch ein Atomkraftwerk in Deutschland betrieben werde, schrieb die Bundestagsfraktion der Grünen 1989. „Jede Schwächung der heimischen Steinkohle fördert den stärkeren Ausbau der Atomkraft in der Bundesrepublik Deutschland.“

Noch 2016 verabschiedete die damalige rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen eine Leitentscheidung zur Zukunft des Braunkohle-Tagebaus. Dass dieser notwendig bleibt, wird darin mit dem Atomausstieg begründet. „Mit der Abschaltung aller Kernkraftwerke ist klar, dass bis zur vollständigen Deckung des Strombedarfs durch die erneuerbaren Energien noch fossile Kraftwerke benötigt werden“, stellten Grüne und SPD damals fest.

„Das falsche Schwein geschlachtet“

Inzwischen haben „Ende Gelände“, „Fridays for Future“ und das Bundesverfassungsgericht den Klimaschutz-Druck deutlich erhöht und Politiker von Schwarz bis Grün unterbieten sich gegenseitig bei der Ankündigung eines noch schnelleren Kohle-Ausstiegs. Dass Wind- und Sonnenstrom die dadurch entstehenden Lücken verlässlich füllen könnten, ist illusorisch. Denn es fehlt an allem: Erzeugungs-, Transport- und Speicherkapazitäten. Ohne Atomkraft – diese Erkenntnis setzt sich zumindest außerhalb Deutschlands immer stärker durch – sind industrieller Wohlstand und Klimaneutralität kaum miteinander zu vereinbaren.

Dass das auch manchen Grünen klar geworden ist, zeigen Umfragen sowie Eingeständnisse hinter vorgehaltener Hand. „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet“, zitierte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2020 einen namentlich nicht genannten Spitzenpolitiker der Grünen. Uran sei zwar schlimm, CO2 aber schlimmer.

Vordenker der Grünen überrascht

Aufhorchen lässt auch eine Äußerung des ökoliberalen Grünen-Vordenkers Ralf Fücks. Der frühere Chef der Heinrich-Böll-Stiftung kommentierte den aktuellen Erdgasmangel auf Twitter so:

Das überrascht. Denn 2011 klang Fücks noch ganz anders. „Fukushima offenbart: Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie“, schrieb er damals. „Atomenergie ist weder verlässlich noch kostengünstig, noch brauchen wir sie, um den Klimawandel zu stoppen.“ 

Es bleibt also spannend. Finden die Grünen noch rechtzeitig den Mut, sich einzugestehen, dass ihr Anti-Atom-Kurs ein klimaschädlicher Irrweg ist? Nur dann hätte der Aken-Plan zur Rettung der sechs deutschen Kernkraftwerke überhaupt eine Chance, umgesetzt zu werden. Die FDP stünde, auch wenn sie sich derzeit nicht aus der Deckung wagt, sicher dazu bereit.

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