Krieg ändert alles - Bundesregierung: Das Gegenteil von gestern

Der brutale Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat die Ampel-Koalition aus ihren Träumen geweckt. Bundeswehr, Klimapolitik, Landwirtschaft, Finanzen – alles sieht plötzlich anders aus. Die Regierung kann nicht weitermachen wie geplant.

Die Ampel hatte sich im Koalitionsvertrag die Welt so schön zurechtgelegt. Der Krieg in der Ukraine macht die Träumerein jetzt komplett wertlos / Karsten Petrat
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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„Mehr Fortschritt wagen“, so ist der Koalitionsvertrag der noch immer neuen Bundesregierung überschrieben. Er sollte die Grundlage für die Arbeit des Ampelbündnisses sein. Am 24. November 2021 wurde er von SPD, Grünen und FDP unterzeichnet. Gefühlt ist das eine Ewigkeit her. Russland wird auf Seite 145 des 177-seitigen Regierungsprogramms das erste Mal erwähnt. Es heißt dort mit Bezug auf Moskau: „Wir brauchen eine abrüstungspolitische Offensive und wollen eine führende Rolle bei der Stärkung internationaler Abrüstungsinitiativen einnehmen.“ Auf den Tag genau drei Monate später marschieren die Truppen von Wladimir Putin in die Ukraine ein. Und dann drei Tage später, am 27. Februar 2022, kündigt Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sondersitzung des Bundestags zur großen Überraschung auch vieler Abgeordneter im Plenum die größte Aufrüstungsinitiative der Nachkriegsgeschichte an. Aufrüstung statt Abrüstung: Das Gegenteil von gestern ist der Fortschritt für morgen. 

Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr soll gebildet werden. Das ist die völlig unerwartete 180-Grad-Wende der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, ungebremst bei Höchstgeschwindigkeit. Während in Kiew die Raketen einschlagen, fallen in Deutschland seit Jahren gepflegte Grund­überzeugungen schneller, als der Nachrichtenticker senden kann, aber zunächst fast ohne großes Aufhebens.

180 Grad Wende der Ampel

Emotionalisiert und geschockt durch den brutalen Angriffskrieg Putins wirkte die deutsche Politik wie in Trance und billigte noch informell, aber immerhin per Akklamation fast handstreichartig die Verschiebung der Grundsystematik deutscher Strategie. Das Zwei-Prozent-Ziel der Verteidigungsausgaben, bewaffnete Drohnen, Rüstungslieferungen in Konfliktgebiete, das Ende von Nord Stream 2, vielleicht sogar Nord Stream 1 – jetzt soll alles ganz schnell gehen. Es sei eine „Zeitenwende“, erklärt Scholz. Doch es wird sich zeigen, dass es nicht nur um Mehrausgaben im Verteidigungsetat geht. „Zeitenwende“ bedeutet mehr und erfasst nach und nach viele Politikbereiche. Was bedeutet das dann für die Arbeit der Regierung, wenn sich die gemeinsame Arbeitsgrundlage wohl in weiten Teilen als Makulatur erweisen wird?

Für das, was die Regierung jetzt macht, sind SPD, Grüne und FDP gerade nicht gewählt worden – ganz zu schweigen davon, dass sie darauf vorbereitet wären. FDP-Chef Christian Lindner stimmt einer riesigen Neuverschuldung zu, die als Tarnkappenbomber mit Namen „Sondervermögen“ am Haushalt vorbeidüst. Der ehemalige Grünen-Vorsitzende und heutige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sinniert über längere Laufzeiten für Kohlekraftwerke und eine Umkehr in Sachen Kernenergie und hat dafür die Zauberformel „Versorgungssicherheit“ in seinen aktiven Wortschatz übernommen. Und aus der Friedenspartei SPD wird nun im Handumdrehen doch eine Art Rüstungsunternehmen, das auch neue Kampfjets für die atomare Teilhabe kaufen will. Nur wie reibungslos sich die große Ankündigung von Scholz in praktische Politik umsetzen wird, ist noch offen. Widerstände deuten sich an, gar nicht so alte Widersprüche werden schon wieder hörbar. Auf der Vordenker­ebene meldet sich der Sozialphilosoph Hans Joas und beklagt: „In schneidigem Ton, mit einer schwer verständlichen Siegesgewissheit und voller Verfolgungsbereitschaft gegenüber Andersdenkenden wird in unseren Medien eine gigantische Aufrüstung gefordert und gefeiert.“ Und er beharrt auf dem alten Konzept des europäischen Friedensprojekts: „Wie lange auch immer Putin sich halten wird: An kooperativen Strukturen führt kein Weg vorbei“, sagt Joas gegenüber Cicero

Der 100-Milliarden-Euro-Kanzlermoment

Auf der Ebene der praktischen Politik hat die Juso-Vorsitzende und SPD-Bundestagsabgeordnete Jessica Rosenthal schon mal launig erklärt, sie würde dem 100-Milliarden-Aufrüstungspaket nicht zustimmen. Wie lange hält Scholz das aus, dass er für seine Sicherheitspolitik bei CDU und CSU mehr leidenschaftliche Zustimmung erhält als in seiner eigenen SPD-Fraktion?

Olaf Scholz hat den Schockmoment des brutalen Angriffskriegs für eine langfristige Neuorientierung der deutschen Politik genutzt, ohne dass es vor allem eine direkte Auswirkung auf die Lage in der Ukraine hätte. Abgesehen von den Waffenlieferungen an das gepeinigte Land, die die Bundesregierung und auch die Parteien im Wahlkampf noch vehement ausgeschlossen hatten, betrifft die Scholz’sche Wende die langen Linien der Politik. Er sagt selbst, dass das Sondervermögen der ausgeruhten und langfristigen Neuaufstellung der Bundeswehr dienen soll. Das ist ein ganz anderes Vorgehen als etwa bei der Corona-Krise, als kurzfristig Milliarden lockergemacht wurden, um direkt zu helfen. 

Der jetzige Kanzlermoment ist vielmehr vergleichbar mit Fukushima, als Kanzlerin Angela Merkel den Schrecken der konkreten Katastrophe für eine sehr weitreichende Entscheidung nutzte, auch damals in einer durchaus gewissen Überrumpelungsaktion. Und auch der Hartz-Moment von Kanzler Gerhard Schröder hatte im Nachhinein betrachtet vielleicht ähnliche Qualität wie jetzt der 100-Milliarden-Rüstungsdeal von Kanzler Scholz. Es sind die eigentlich eher seltenen politischen Situationen, wenn sehr gravierende und folgenreiche Entscheidungen sich konkret an einem ziemlich genau bestimmbaren Zeitpunkt ereignen.

Die eiskalte Realitätsdusche

Am 1. März hält Annalena Baerbock die Rede ihres Lebens. Die Bundesaußenministerin reißt die UN-Vollversammlung mit, ein emotionaler warmer Wind weht durch die heiligen Hallen am New Yorker East River, sodass die im Rund sitzenden Diplomaten zu spontanem Applaus ansetzen, was ungewöhnlich ist. Und die überraschend breite Unterstützung für die Resolution, die Russland verurteilt, wird als ihr persönlicher Erfolg gewertet. Doch Baerbock baut ein Schuldgeständnis in ihre Rede ein. Sie sei dazu bereit, „unser früheres Engagement kritisch zu hinterfragen“. Vielleicht meint sie ihre Aussage aus dem Wahlkampf, als sie noch im „Kanzler-Triell“ erklärte, Deutschlands Aufgabe sei es, die baltischen Staaten zu „beruhigen“, dass Abrüstung ihre Sicherheit nicht (!) beeinträchtige. „Ich glaube, dass Abrüstungspolitik ein gemeinsames europäisches Interesse ist“, erklärte Baerbock am 20. Mai 2021. Verblüffend ist, wie selbstbewusst sie dennoch heute auftritt und fast genau das Gegenteil sagt. Putin jedenfalls hatte auch im Mai vergangenen Jahres schon mit Krieg gedroht. 

In einer „anderen Welt“ seien wir aufgewacht, sagte Baerbock bei Kriegsbeginn, doch vielmehr scheint es doch die reale Welt zu sein, in der diese Regierung gestolpert ist, wüst geweckt aus eben süßen Träumen einer erwünschten anderen Welt, in der man mit Russland laut Koalitionsvertrag mehr über „Zukunftsthemen“ wie Gesundheit und Wasserstoff reden wollte und bei Klima und Umwelt an stärkere „Zusammenarbeit“ dachte (Seite 154). Der Text der drei Regierungsparteien entstand, als Russland schon mit massiver Truppenverstärkung an den Grenzen der Ukraine begonnen hatte, doch diese Realität kennt der Koalitionsvertrag nicht.

Tatsächlich wird der Konflikt erwähnt und ein „Ende der Destabilisierungsversuche gegen die Ukraine“ gefordert. Konkret dazu tun wollte man damals im November nichts, stattdessen hält das Ampelprogramm die schöne Formulierung parat: „Wir treten für die Lösung eingefrorener Konflikte in der Region ein.“ 

Die grünen Transatlantiker

Überraschend ist auch das neue überdeutliche transatlantische Bekenntnis der Grünen. Im Triell stellte Baerbock die atomare Teilhabe mit den USA noch zur Diskussion. „Für mich bedeutet Zusammenarbeit nicht: Der eine geht voran und die anderen gehen hinterher.“ Nun nach der „Zeitenwende“ klingt das bei Habeck doch schon deutlich anders: „Je stärker Deutschland dient, umso größer ist seine Rolle“, sagt der Minister bei seinem Besuch in Washington. Das Wort „dienen“ war natürlich Musik in den Ohren der amerikanischen Freunde. Und es ist ja nicht so, als ob bei den Grünen nicht auch schon früher einige über den Wert der transatlantischen Partnerschaft nachgedacht hätten.

In einem Papier „Transatlantisch? Traut Euch!“ hatte im Januar 2021 unter anderem die Vorständin der grün-gefärbten Heinrich-Böll-Stiftung, Ellen Ueberschär, für eine „neue Übereinkunft“ der transatlantischen Partnerschaft geworben. „Eine freiheitliche Ordnung“ falle nicht vom Himmel, heißt es darin, sondern müsse „stets aufs Neue durchgesetzt werden“. Deswegen sei auch die nukleare Abschreckung richtig. Im grünen Parteiprogramm war hingegen damals gerade festgeschrieben worden, die Amerikaner sollten ihre Atomwaffen aus Deutschland fortschaffen. 

Die Ueberschär-Initiative wurde vom Doyen grüner Regierungsverantwortung Jürgen Trittin grob abgekanzelt: „Wer das anachronistische Zwei-Prozent-Ziel, Aufrüstung und nukleare Abschreckung zum Kern eines neuen Bündnisses liberaler Demokratien machen will, singt ganz alte Lieder.“ Ein Jahr später singt Trittin die alten Lieder selber mit, die nur jetzt aus seinem Mund neu klingen sollen. 

Schwäche des Koalitionsvertrages wird offensichtlich

Mit einer konkreten Maßnahme schließt dann im Koalitionsvertrag doch der Russlandabschnitt: „Wir wollen die Möglichkeit des visafreien Reiseverkehrs aus Russland nach Deutschland für besonders wichtige Zielgruppen, zum Beispiel junge Menschen unter 25, schaffen.“ Was soll eine Regierung mit einem Koalitionsvertrag anfangen, in dem solche Sätze stehen? Angesichts der größten Flüchtlingskatastrophe in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Und wie soll eine Regierung arbeiten, die keine konsistent brauchbare Arbeitsgrundlage mehr hat? Zumal unter den drei sehr unterschiedlichen Parteien es als äußerst wichtig galt, ein solches schriftliches Fundament zu haben, um ideologische Gegensätze im Regierungsalltag nicht als ständig auftauchende Barrieren vor sich zu haben. Nun ist alles anders. 

Das ganze Dilemma der Ampelregierung offenbart sich infolge des schrecklichen Krieges auch in der Klima- und Energiepolitik. Der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des ganzen Projekts erweist sich nun als falsch montiert. Denn die klimapolitische Wende hin zu „Klimaneutralität 2045“ fußt auf dem Ausbau erneuerbarer Energien im Schatten der russischen Erdgaslieferungen. „Für eine Übergangszeit unverzichtbar“, heißt es im Koalitionsvertrag, die Errichtung „moderner Gaskraftwerke“ müsse beschleunigt werden. Allerdings wird der Bezug Erdgas und Russland nirgendswo direkt angesprochen. Das konzeptionelle und – wenn man so will – moralische Versagen war, das ganze umweltpolitische Zukunftsversprechen mit der Abhängigkeit von russischem Rohstoff erkaufen zu wollen. Das dämmert nun allen Beteiligten, auch einigen in der Unions-Opposition, die bekanntlich bis vor kurzem die Kanzlerin gestellt hat. 

Zur tragischen Gestalt in diesem Trauerspiel wurde unversehens Klimaminister Habeck, der tatsächlich ganz zu Anfang des Krieges noch versucht hatte, nun quasi in Putins Aggression einen Katalysator für einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energiequellen zu finden. Doch tatsächlich hat er sich da in einer Art Möbiusband-Argumentation verheddert. Ohne Putins Gas funktioniert ja gerade bekanntlich der Kohleausstieg nicht. Tatsächlich muss die Abhängigkeit von russischem Gas reduziert werden, aber das geht eben nicht so schnell mit den Erneuerbaren, zu denen es die Brücke des Gases, ausweislich des Ampelkoalitionsvertrags, unbedingt bedurfte. 

Zynische grüne Energiepolitik

Nun muss also der Kohleausstieg wohl verschoben werden. Schon allein das ist für die Grünen und die SPD eine so schwerwiegende Kehrtwende, die sie natürlich nicht selbst verschuldet haben, die aber doch von der Labilität der zuvor konzipierten Klimapolitik zeugt. Man kann es den Grünen ja nicht grundsätzlich verübeln, alle Parteien haben im wahrsten Sinne „Herdfeuerthemen“, an denen sich die Mitglieder sozusagen identitätspolitisch wärmen. Bei den Grünen ist es unzweifelhaft die Kern­energie beziehungsweise ihre Abschaffung natürlich, die Zusammenhalt stiftet und das Mitgliederherz höherschlagen lässt. In diesem Jahr sollen die letzten beiden deutschen Atomkraftwerke vom Netz gehen, es wäre der Triumph grüner Politik, auch wenn schließlich fast alle Parteien sich dem Ziel des Atomausstiegs verschrieben hatten. 

Es ist kaum denkbar, dass ein grüner Minister diesen so ersehnten Atomausstieg rückgängig macht, selbst wenn alle Lichter ausgehen – oder die Gefahr dafür bestünde. Immerhin lässt sich die neue Grünen-Chefin Ricarda Lang von solcher Dramatik der Realität nicht irritieren, sie twittert, mit einer „Solarpflicht“ und dem Ende der „absurden Abstandsgebote“ bei Windkraftanlagen werde jetzt endlich die „Energiesouveränität“ hergestellt. „Putins Angriffskrieg“ sei für einige der „Weckruf“ gewesen. Konnte man früher tatsächlich mit solchen flockigen (oder zynischen?) Sprüchen Politik machen?

Immerhin hat Habeck angesichts der Krise gesagt, zunächst unideologisch prüfen zu lassen, ob man die Meiler länger laufen lassen könne. Um dann diesem Ansinnen eine Absage zu erteilen. 

Schmoren in der realpolitischen Hölle

Das ganze moralische Durcheinander der Drei-Farben-Bundesregierung wird nun sichtbar, wenn Kanzler Olaf Scholz und eben Habeck sich gegen einen Stopp von Gaslieferungen aussprechen. Sie versuchen durch die fortdauernde Energieversorgung durch den Kriegstreiber Putin das Grundgerüst ihrer Regierungsarbeit trotz allem stabil zu halten. Dabei haben sie Unterstützung von unerwarteter und auch kluger Seite. Etwa auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer warnt vor einem Gasembargo. Es könne zu einer gefährlichen Eskalation führen und auch zu gravierenden wirtschaftlichen Folgen für Deutschland.

Doch wie will das Ampelkabinett den Spagat lange aushalten? Während viele ihrer Anhänger im Schrecken des Krieges und im Mitgefühl für die Ukrainer nun emotional und moralisch aufgeladen „Frieren für den Frieden“ rufen, zusammen etwa mit dem Alt-Bundespräsidenten Joachim Gauck, schmoren Scholz und Habeck in der realpolitischen Hölle, in der man vieles falsch und kaum etwas richtig machen kann. 

Tatsächlich nagt die Krise auch noch an anderen Grundpfeilern des Ampelbündnisses. Durch die Ernteausfälle in Russland und der Ukraine, immerhin der Kornkammer Europas, steigen die globalen Getreidepreise weiter. Beim Koalitionspartner FDP mehren sich Stimmen, die eine Neubewertung der Landwirtschaftspolitik fordern. Zwar sei die Versorgungssituation in Deutschland noch nicht akut gefährdet, doch Ernährungssicherheit müsse neben ökologischen Aspekten zum Ziel erklärt werden. Bauern zum Stilllegen von Flächen zu ermuntern, erscheint den Liberalen nun doch gefährlich. Zaghaft fast sprechen sie die Tabuthemen Düngemittel und Gentechnik an, die zu Ertragssteigerungen führen könnten. Teufelszeug für die Grünen. 

Koalitionsvertrag braucht Update

Renate Künast, Hüterin grüner Dogmatik, kontert auch gleich, am Ausbau ökologischer Landwirtschaft führe kein Weg vorbei, Tierhaltung müsse weiter reduziert werden. Auch hier meinen manche ideologische Vordenker, wenn nur schnell alle den grünen Zielen folgen, mehr Getreide kauen, anstatt es an die Rinder und Schweine zu verfüttern, werde alles gut. Dem neuen Agrarminister Cem Özdemir gehen solche Worte offenbar nicht ganz so leicht über die Lippen, er weiß um die globale Situation, die sich bei der Ernährung zuspitzt. Doch wenn er sich den Realitäten stellt, ist wiederum der Koalitionsvertrag für ihn nur noch: Mist. Auch bahnt sich hier eine neue Einigkeit zwischen CDU/CSU und FDP an. Immerhin der Spaltpilz in der Ampelregierung gedeiht an einigen Stellen ganz gut. 

Die Neuaufstellung der Regierung nach der „Zeitenwende“ passiert zunächst durch Druck von außen, dann hastig und eilig und schließlich werden Risse im Ampelbündnis unübersehbar. Die historische und dramatische Dimension der aktuellen Ereignisse schweißt die Regierung in einem Akt nationaler und internationaler Verantwortung zusammen. Doch wie soll das weitergehen? Eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrags oder zumindest eine neue Vereinbarung scheint irgendwie sinnvoll, wenn der Kairos der Ampel zu retten ist. Der strahlende Optimismus des „Bündnisses für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ scheint angesichts der neuen dramatischen Lage etwas aus der Zeit gefallen. 

Der Verdacht gegen das eigene Land

Der Koalitionsvertrag atmet einen eindeutig innenpolitischen Geist. Es geht um die Veränderung Deutschlands, mit Blick auf das Klima, mit Blick auf die Ökonomie und die gesellschaftliche „Modernisierung“. Was dann sozusagen nur abgeleitet Folgen für das Internationale hat, als eine klimaschutzorientierte und wertegeleitete Außenpolitik. Das kann nach der „Zeitenwende“ des 24. Februar so nicht weitergehen. 

Ein Ausläufer der alten Zeit scheint da eine Initiative von Bundesinnenministerium und Bundesfamilienministerium zu sein, die noch am 25. Februar vorgestellt wurde: der Entwurf für ein neues Demokratiefördergesetz. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte dazu: „Wir wollen unsere Demokratie von innen heraus stärken.“ Menschenverachtung, Demokratiefeindlichkeit, Hass und Intoleranz zu begegnen, sei nicht allein eine Aufgabe von Polizei und Justiz, vielmehr müssten wir alle unsere vielfältige und offene Gesellschaft verteidigen. So richtig und wohlfeil. 

Das Problem dieser Bundesregierung ist, dass sie in vielen ihrer Aktionsfelder eine Art Verdacht gegen das eigene Land hegt und aus diesem Verdacht heraus Politik betreibt. Nicht demokratisch genug, nicht klimafreundlich genug, nicht liberal, divers, menschenfreundlich genug. „Wenn sich im allgemeinen Befinden die Dinge auf die Alternative von panischer Erregung und stoischem Ertragen zuspitzen, dann wird deutlich, wie schwach und verzagt der Ampelaufruf ,Mehr Fortschritt wagen‘ ist“, kritisierte der Soziologe Heinz Bude die neue Regierung schon Anfang Februar. 

Bedrohung von außen, nicht von innen

Geradezu prophetisch schreibt er bereits Wochen vor dem Kriegsausbruch: „Wir werden an einen Ort zurückkehren, wo wir noch nicht waren.“ Für die Generationen der Weltkriegsteilnehmer und der Kriegskinder habe „das Schlimmste, was einem passieren kann“, immer hinter ihnen gelegen. Für die Generationen von 9/11, von Fukushima und der Pandemie käme das Schlimmste noch auf sie zu. Deswegen plädiert er für eine vertrauensbildende „Politik der intelligenten Adaption“. Die in den grün-gelb-roten Regierungskreisen hingegen gerne verwendete Formel von der „Großen Sozialökologischen Transformation“ kranke daran, den sozialen Frieden zu gefährden, so Bude.

Während unsere Art zu leben, unsere freiheitliche demokratische Gesellschaftsordnung also so stark von außen angegriffen wird wie noch nie in der Geschichte, meint diese Bundesregierung mit eigener Vision, das Land verändern, modernisieren und erziehen zu müssen. Das ist der große Irrtum, der in dem Koalitionsvertrag festgeschrieben wurde, und auf dessen Grundlage dieses Ampelbündnis nicht weiterarbeiten kann. Jetzt in der neuen Zeit hingegen sind Selbstachtung und eigene Stärke gefragt, ein Ende von „alternativloser Politik“ (Bude), um im Angesicht der von außen kommenden Widrigkeiten zu bestehen. 

 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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