Inklusion, Integration und Identitätspolitik in der Bildung - Wie viel Gleichheit verträgt die Schule?

Integrative Schulformen haben Gymnasien und Realschulen zahlenmäßig überflügelt. Während die Gesamtschule ordentliche Lernergebnisse erzielt, kommen an der Gemeinschaftsschule vor allem leistungsschwache Schüler unter die Räder. Denn die Pädagogik lässt das wichtigste Kriterium für die Qualität einer Schulform unter den Tisch fallen: die Leistungen. Die Einheitsschule hat schon in der DDR nicht funktioniert. Weil die Menschen eben nicht gleich sind, meint der ehemalige Gymnasiallehrer Rainer Werner.

Gleich und Gleich gesellt sich nicht: Zwei Fünftklässlerinnen in einer Gemeinschaftsschule / dpa
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Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Für eine Grundschullehrerin ist folgendes Szenario alltäglich: Laura, Tochter aus einer Akademikerfamilie, kann schon am Tag ihrer Einschulung lesen und schreiben. Elaboriert zu reden, fällt ihr leicht, weil ihre Eltern schon von klein auf mit ihr anspruchsvolle Gespräche geführt haben. Ronald hingegen, Kind aus einer prekären Unterschichtfamilie, spricht nur in abgerissenen Satzfetzen. Er hat auch kein Zutrauen in seine Fähigkeiten. Dann gibt es noch Asmara, Tochter einer Flüchtlingsfamilie aus Syrien. Sie hat die Kita nicht besucht und spricht deshalb kein Deutsch.

Da die Grundschule eine Gemeinschaftsschule ist, finden sich solche krassen Schülermischungen in allen 15.400 Grundschulen der Republik. Man kann sich vorstellen, wie groß der Spagat ist, den die Lehrkräfte täglich vollführen müssen, um allen Begabungen gerecht zu werden. Differenziertes Lernen gehört inzwischen an allen Grundschulen zum Standardprogramm. 

Die Stunde der Wahrheit: Vergleichsarbeiten VERA

Die erste ernsthafte Leistungsmessung erfolgt in der vierten Klasse mit einer bundesweiten Lernstandserhebung. Getestet werden die Schülerleistungen in Deutsch und Mathematik. Der interessierte Zeitgenosse kann sich durch die Seiten des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) klicken, um die Ergebnisse des Bildungstrends einzusehen. 2016 gab es folgende Resultate: In Bayern erreichten in deutscher Orthografie 12,5 Prozent der 4-Klässler nicht den Mindeststandard. In Sachsen waren es 19,1 Prozent. In Mathematik versagten in Bayern 8,3 Prozent der Schüler, in Sachsen 8,8 Prozent.

Am schlechtesten schnitten die Viertklässler in Berlin und Bremen ab. 33,6 Prozent von Berlins Grundschülern versagten in Rechtschreibung, in Mathematik waren es 27,6 Prozent. In Bremen versagten in Rechtschreibung 40,2 Prozent, in Mathematik 35,4 Prozent. Bremen und Berlin praktizieren seit über 20 Jahren eine Schulpolitik, die in erster Linie auf „gemeinsames Lernen“ setzt, während Sachsen und Bayern das begabungsgerechte Lernen favorisieren. In den Grundschulen der auf Gleichheit verpflichteten Länder ist das separierte Lernen in homogenen Lerngruppen tabu, während in den beiden Siegerländern gerade diese Methode zum Erfolg geführt hat. 

Qualität aus ungeahnter Quelle

Wenn schon die Grundschulen eine so unterschiedliche Qualität aufweisen, wie mag es dann um die Gemeinschafts- und Sekundarschulen bestellt sein, in denen ebenfalls Schüler aller Begabungen gemeinsam unterrichtet werden. Die in der Grundschule auftretenden Schwächen setzen sich in der weiterführenden Schule fort: Während in Bayern 4,9 Prozent eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss verlassen, sind es in Berlin 8 Prozent, in Bremen 9,9 Prozent (Zahlen von 2020).  Die Lebenschancen für junge Menschen werden nach Wohnort und politischer Färbung der Schulbehörden sehr unterschiedlich vergeben. 

Es ist die viel gescholtene Hauptschule, die in Bayern für eine hohe Schulqualität sorgt. Dieser Schultyp, der seit 10 Jahren Mittelschule heißt, wählt eine Leistungsdifferenzierung, die sich an den unterschiedlichen Begabungen ausrichtet. Für die Mehrheit der Schüler gibt es die Regelklasse, für leistungsschwache Schüler die Praxisklasse und schließlich den Mittlere-Reife-Zug für leistungsstarke und motivierte Schüler, die über die Berufsbildungsreife (Synonym für Hauptschulabschluss) hinaus den Mittleren Schulabschluss anstreben. In allen drei Zügen wechselt der Unterricht im Klassenverband mit sog. Modulphasen ab, in denen der Stoff einer Lerneinheit wiederholt, geübt und vertieft wird. Diese Mischung aus leistungsgerechten Lerngruppen und individueller Förderung schafft die Grundlage für die Erfolge dieser Schulform, die in anderen Bundesländern als Resteschule stigmatisiert und schließlich abgeschafft wurde. 

 

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Integrative Schulformen auf dem Vormarsch

Neben dem Gymnasium hat sich in den letzten Jahren eine zweite Schulsäule etabliert, die aus integrativen Schulformen besteht. Dem Föderalismus geschuldet, tragen sie unterschiedliche Namen: Integrierte Sekundarschule (Berlin), Stadtteilschule (Hamburg), Oberschule (Sachsen) usw. Einen wahren Hype erfährt zurzeit die Gemeinschaftsschule, in der das individuelle Lernen dominiert: Jeder Schüler bearbeitet im „Lernbüro“ selbstständig das an der „Lerntheke“ abgegriffene Unterrichtsmaterial. Dabei kann er zwischen mehreren Anspruchsniveaus wählen. In der Politik und in den Medien hat diese Schulform euphorische Befürworter.

Der ehemalige taz-Redakteur Christian Füller hat mit dem Buch „Muss mein Kind aufs Gymnasium?“ (2018) eine Werbeschrift für die Gemeinschaftsschule verfasst. Er lobt sie in den höchsten Tönen. Dabei benutzt er vor allem Wohlfühlfloskeln. Die Schule biete „sanftes Lernen mit Abiturgarantie“, „Slow Abi: sanft zur Hochschulreife“ und „Abitur ohne Druck“. Füller zitiert keine einzige wissenschaftliche Studie, die seriös Auskunft darüber geben könnte, wie es um die Qualität dieser Schulform bestellt ist - aus gutem Grund: Es gibt nämlich keine Studie, die die Lernergebnisse der Schüler aller Schulformen miteinander vergliche.

2016 präsentierte der Bildungsforscher Thorsten Bohl von der Universität Tübingen eine Studie, die eine von ihm geleitete Forschungsgruppe über die Gemeinschaftsschule erstellt hatte. Gravierender Schönheitsfehler: Auch in dieser Studie fehlt die Auskunft über die Lernergebnisse der Schüler. Könnte man sich eine Studie zur Wirksamkeit eines neuen Medikaments vorstellen, ohne dass die an Probanden ermittelten Testergebnisse bewertet würden? Die pädagogische Wissenschaft schafft es, das wichtigste Kriterium für die Qualität einer Schulform unter den Tisch fallen zu lassen: die von den Schülern erbrachten Leistungen. 

Lernergebnisse werden verschwiegen

Die Suche nach solchen Informationen auf der Homepage einzelner Gemeinschaftsschulen führt auch nicht weiter. Selbst die Schulen, die im Mai 2021 den Deutschen Schulpreis erhalten haben, verstecken ihre Leistungsdaten. Nach den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends und der VERA-Vergleichstests sucht man vergeblich. Eltern wüssten sicher auch gerne, wie hoch die Quote der Schüler ist, die die Schule nach der 10. Klasse ohne Abschluss verlassen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die schöne neue Lernwelt, für die die Gemeinschaftsschule in der Öffentlichkeit gerühmt wird, doch eher zu mäßigen Lernergebnissen führt. Wäre es anders, würden die Resultate mit Sicherheit stolz ins Schaufenster gestellt.

Einen unfreiwilligen Vergleich lieferte vor einigen Jahren der Berliner Senat. Seit der Schulreform im Jahr 2011 gibt es neben dem Gymnasium drei integrative Schulformen. Beim Mittleren Schulabschluss schnitt die klassische Gesamtschule mit ihrer Fachleistungsdifferenzierung am besten ab. Dann kam die Integrierte Sekundarschule, die die Binnendifferenzierung verwendet. Schlusslicht war die Gemeinschaftsschule mit ihrem individuellen Lernen. Da letztere Schulform das Lieblingskind des rot-rot-grünen Senats ist, war ihm dieses Ranking peinlich. Die Schulsenatorin verzichtete schließlich darauf, die MSA-Ergebnisse nach Schulformen getrennt auszuweisen. Man hält an einer mit Mängeln behafteten Schulform fest, versteckt aber deren Lernergebnisse vor den Eltern.

Es wird Zeit, dass die pädagogische Wissenschaft die Schweigespirale, die sich um die Qualität der Gemeinschaftsschule gebildet hat, durchbricht, indem sie diese glorifizierte Schulform auf den Prüfstand stellt. 

Veranlagung ist entscheidend, nicht Sozialisierung

Dem egalitären Schulkonzept liegt ein Verständnis von Bildung zugrunde, das unterstellt, dass alle Kinder im Grunde gleich begabt sind, dass die kognitiven Fähigkeiten bei einigen Kindern nur verschüttet sind, vornehmlich infolge ungünstiger häuslicher Bedingungen. Bildungspolitiker aus dem linken Lager werden deshalb nicht müde zu behaupten, das gegliederte Schulsystem, vor allem das Gymnasium, sei ungerecht, weil es Schüler, die in ihren Anlagen und Fähigkeiten gleich seien, selektiere und separiere, indem es sie in „leistungsgerechte“ Lerngruppen stecke. Sind Schüler in ihren Anlagen und Fähigkeiten wirklich gleich? Christian Füller polemisiert gegen den wissenschaftlichen Begabungsbegriff, wenn er kritisiert, dass „in (…) gesellschaftlichen Debatten natürliche Begabung nach wie vor als entscheidender Faktor von Lernerfolg angesehen“ wird. Sein Urteil: „Empirisch ist das alles nicht haltbar.“ 

Die egalitäre Denkschule ignoriert hartnäckig alle Studien aus der Verhaltenspsychologie, die nachweisen, dass Intelligenz zu einem hohen Grad durch die Gene bestimmt wird, die ein Neugeborenes von den Eltern erbt. Der britische Intelligenzforscher Robert Plomin hat in einem Test mit 11.000 ein- und zweieiigen Zwillingen herausgefunden, dass circa 60 Prozent der Intelligenz auf genetische Veranlagung zurückgehen. Unter Intelligenz versteht Plomin das abstrakte Denkvermögen, das Gedächtnis, die räumliche Vorstellungskraft und verbale Fähigkeiten. Die restlichen 40 Prozent verdankten sich Umweltfaktoren, zu denen die häusliche Situation, das Wohnumfeld und die soziale Zugehörigkeit zählen. 

Die Normalverteilung der Intelligenz 

Plomin wollte bei seinen Tests vor allem herausfinden, warum einige Kinder in der Schule viel und auch schnell lernen, während andere langsam lernen und schließlich ganz abgehängt werden. Seine Befunde sind ernüchternd. Die Kluft zwischen einem guten und einem schlechten Schüler lassen sich nur zu 10 Prozent durch den Unterricht schließen. Für die Entwicklung kompensatorischer Unterrichtskonzepte ist es wichtig zu erfahren, ob die Fördermethoden auch einen effektiven Nutzen zeitigen. Sie tun es nur sehr begrenzt. Der Grund liegt auf der Hand: Die genetisch bevorzugten, leistungsstarken Schüler profitieren von jedem Unterricht – auch von einem schlechten – sehr viel mehr als die schwachen Schüler, denen das Lernen und Begreifen ohnehin schwerfällt. Letztere geben, wenn sie sich ständig überfordert fühlen, schließlich auf und resignieren. 

Die Züricher Psychologie-Professorin Elsbeth Stern, die sich intensiv mit der Lernpsychologie befasst hat, vertritt die Meinung, dass das Gymnasium als Massenschule nicht funktionieren könne, weil bei einer zu großen Spreizung der Begabungen der für diese Schulform typische anspruchsvolle Fachunterricht nicht mehr möglich sei. Gymnasialer Unterricht diene der Vorbereitung auf das Studium. Und diese müsse in allen Fächern so effektiv wie möglich geschehen. Elsbeth Stern hält deshalb eine Gymnasialquote von 25 Prozent für ideal und begründet dies mit den Beobachtungen, die sie hinsichtlich unterschiedlicher Begabungstypen gemacht hat. „Die meisten Gymnasiasten sind nur mittelmäßig begabt und intellektuell nicht ganz auf der Höhe. Das ergibt sich zwangsläufig aus der Normalverteilung der Intelligenz. Sie können nicht so gut logisch denken oder sich in abstrakte Themen einarbeiten.“

Mythos der unbegrenzten Geistesentwicklung

In allen Bereichen des menschlichen Lebens gilt es inzwischen als selbstverständliche Tatsache, dass die Gene ihre Hand im Spiel haben. Die Veranlagung für Krankheiten wird durch Gene weitergegeben, Sportlichkeit oder Musikalität gelten als Resultate günstiger Erbanlagen. Ein Kuckuckskind können Verwandte und Bekannte schon von weitem durch Augenschein erkennen. „Die Bildung ist die letzte Bastion, die den Einfluss der Gene ignoriert.“ – so Plomin. Elsbeth Stern zieht einen historischen Vergleich: „Wir haben auch akzeptiert, dass die Erde keine Scheibe ist. Es gibt nun einmal erhebliche Unterschiede bei Intelligenz und Lernfähigkeit, viele davon sind genetisch vorbestimmt.“ – Bleibt zu hoffen, dass es mit der Anerkennung dieser genetischen Gewissheiten nicht so lange dauert wie bei der Rehabilitierung Galileo Galileis durch den Vatikan.

Der Grund für die genetische Ignoranz selbst vieler Pädagogen liegt auf der Hand. Jahrhunderte lang gehörte es zum Selbstverständnis von Lehrern und Erziehern, die ihnen anvertrauten Kinder „modeln“, sie also in ihrem Sinne beeinflussen zu wollen. Diese Mission verlangt, dass man an die unbegrenzte intellektuelle Entwicklungspotenz der Kinder glaubt. Nur konservative Geister ahnten, dass der Mensch – wie es Immanuel Kant formulierte – „aus krummem Holz geschnitzt“ ist, also in vielem schwach und beschränkt – auch in seinen Geistesgaben.

Leistung in der Bildung nicht mehr gefragt

Nach dem Gesagten drängt sich die Frage auf, warum es so wenig populär ist, auch im Bildungssystem am Leistungsgedanken festzuhalten. Warum fällt das Mantra vom „gemeinsamen Lernen“, das zur Nivellierung der Schülerleistungen führt, auch im Bildungsbürgertum auf fruchtbaren Boden? Im Show-Business und im Sport gilt es als selbstverständlich, dass die Sieger im harten Ausscheidungswettbewerb ermittelt werden. Spitzenkönner werden wie Ikonen verehrt und in die Hall of Fame aufgenommen. Kein Mensch käme auf die Idee, in die deutsche Fußballnationalmannschaft einige Spieler aus der Kreisklasse aufzunehmen, damit der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit Genüge getan wird.

Warum will man in der Bildung die „Einheitskost“, indem man diejenigen, die die Masse an Geistesgaben überragen, an der optimalen Entfaltung ihrer Anlagen hindert?

Anscheinend ist es kränkender, weniger intelligent zu sein als weniger sportlich. Die Vertreter der Gleichheit in der Bildung können es nicht ertragen, dass ein Gut wie die Intelligenz nicht gerecht unter den Kindern und Jugendlichen verteilt ist, weil der eine offensichtlich mehr von diesem kostbaren „Rohstoff“ abbekommen hat als der andere. Der Kampf um die Einheitsschule, der zum Kernbestand der Bildungspolitik vornehmlich der linken Parteien und Verbände gehört, ist Ausdruck einer tiefsitzenden Kränkung darüber, dass es junge Menschen gibt, denen – unverdient – alles zufliegt, weil sie das Glück haben, in bildungsbeflissenen Elternhäusern heranzuwachsen, während andere – unverschuldet – in Milieus hineingeboren werden, die sie von Anfang an in ihrer geistigen Entwicklung benachteiligen. 

Gleichheitsidee – historisch gescheitert

Die DDR hatte – ideologisch bedingt – ein auf Gleichheit aufbauendes Einheitsschulsystem. Wenn die Hypothese der Befürworter dieses Schultyps stimmte, müsste sich also nachweisen lassen, dass es dieser Schulform gelungen ist, die auch in der sozialistischen Gesellschaft auftretenden familiären Benachteiligungen von Kindern auszugleichen. Alle Befunde belegen auch hier das Gegenteil. Die Polytechnische Oberschule (POS), wie sich die Einheitsschule nannte, umfasste die Klassen 1 bis 10. Daneben gab es noch die Erweiterte Oberschule (EOS) mit den Klassen 9 bis 12.

Die guten POS-Schüler, denen Studierfähigkeit attestiert wurde, wechselten am Ende der 9. Klasse in die Erweiterte Oberschule (EOS) über, während der große Rest die Polytechnische Oberschule verließ und eine berufliche Ausbildung begann. Der Anteil eines Schülerjahrgangs, der die EOS besuchte, betrug nie mehr als 10 Prozent. Diese Schulform war also eine elitäre Veranstaltung. Warum konnten nicht alle Schüler in die EOS wechseln und studieren?

Weil es der POS offensichtlich nicht gelungen ist, die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in gleiche Lernergebnisse umzumünzen. Deshalb musste auch das sozialistische Schulsystem differenzieren. Wenn man so will, hatte die DDR ein zweigliedriges Schulsystem, wie es heute die meisten Bundesländer aufweisen. Liefert die DDR-Schule einen Beleg für die Wirksamkeit des Einheitsschulgedankens? Mitnichten.

Gleichheitsfuror im Geiste der Jakobiner 

Die Erfinder der Menschenrechte im Jahrhundert der Aufklärung, die französischen Revolutionäre, wussten, weshalb sie „nur“ die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz forderten, nicht aber die Gleichheit der Lebensbedingungen. Ihnen war klar, dass dies in einer freien Gesellschaft nicht verwirklichbar wäre, weil sich die Menschen aufgrund unterschiedlicher persönlicher Voraussetzungen unterschiedlich entwickeln und sich dadurch ungleiche Lebensbedingungen herausbilden. Den radikalen Jakobinern und Sansculotten blieb es vorbehalten, auch hier die Schere der Gleichheit anzusetzen und die Gleichheit der Lebensbedingungen zu erzwingen, letztlich mit Hilfe der Guillotine. 

Wenn man die Werbeschriften von Befürwortern der Gemeinschaftsschule liest, hat man manchmal den Eindruck, die Autoren seien vom Geist des Jakobinismus beseelt, so sehr vertreten sie dessen Gleichheitsfuror. Christian Füller unterstellt dem Bildungsbürgertum eine kaltherzige Selektionsmanie, die er „pädagogisches Reinheitsgebot“ nennt: „Die jeweils Besseren können ungestört lernen, wenn die anderen nicht dabei sind.“ Dass gerade „die anderen“, also die lernschwächeren Schüler, beim individuellen Lernen benachteiligt sind, weil sie die helfende Hand der Lehrkraft benötigen, ficht ihn nicht an. Der amerikanische Pädagoge und Autor Paul F. Brandwein vertrat zeitlebens eine Pädagogik, die sich der Gleichmacherei widersetzte. In seiner Tätigkeit als Schulleiter hatte er gelernt: „Es gibt nichts Ungerechteres als die gleiche Behandlung von Ungleichen.“

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