Trainingslager der „Letzten Generation“ - „Wenn wir ins Gefängnis kommen, ist das gut“

Bundesweit lädt die „Letzte Generation“ zu Aktionstrainings ein. Wir sind in Berlin dabei und erfahren, warum die Hauptstadt der ideale Ort für die umstrittenen Klimaproteste ist. Am Ende wird es handgreiflich.

An einem Tag vom Neuling zum Klimakleber / dpa
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Robert Horvath hat Biochemie und Kommunikations-wissenschaften studiert. Derzeit absolviert er ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Am späten Nachmittag, gegen Ende des achtstündigen Ausbildungstages, wird es ernst. Raúl – um die 30 Jahre alt, lange blonde, zu einem Zopf zusammengebundene Haare, Stoppelbart – stimmt die verbliebenen rund 20 Teilnehmer mit einer Meditationsübung auf den harten Teil des Aktionstrainings ein. „Atme Negativität und Angst aus. Und atme Positivität und Freude ein“, sagt er mit ruhiger Stimme. Die bunt zusammengewürfelte Gruppe sitzt auf dem Fußboden eines als Büro und Treffpunkt genutzten Ladengeschäfts in Berlin-Mitte.

Raúl trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Stoppt den fossilen Wahnsinn“ und will die Neulinge, die sich bald im Namen des Klimas auf Straßen festkleben sollen, auf wütende Autofahrer vorbereiten. „Du bist jetzt auf der Straße. Es ist kalt. Stell dir vor du liegst in einer warmen, duftenden Badewanne. Leute schreien dich an, aber du bist ruhig, weil du weißt, du tust das Richtige.“

Seit einigen Monaten sorgt die „Letzte Generation“ für Aufsehen. Immer wieder verursachen deren Aktivisten Staus, indem sie sich auf Straßen und Autobahnen festkleben. Am Donnerstag gelang es einer Kleingruppe sogar, die Landebahn des Berliner Flughafens zu besetzen und so den Flugbetrieb für einige Stunden lahmzulegen. Die umstrittenen Aktionen sind keine spontanen Proteste, sondern werden akribisch vorbereitet. Das wird bei dem Training in Berlin-Mitte deutlich.

„Das Wichtigste ist, dass wir mediale Aufmerksamkeit bekommen“

Es sind Neugierige aller Altersklassen gekommen. Frauen sind deutlich in der Unterzahl. Die Teilnehmer kennen sich noch nicht. Neben Raúl führt ein zweiter junger Mann durch den Tag. Er stellt sich als Kevin vor, trägt Brille und Vollbart. Seine rechte Hand ist vollständig in einen Verband eingewickelt. Die beiden haben bereits eine längere Aktivistenlaufbahn hinter sich, erzählen stolz von Polizeieinsätzen, die sie ausgelöst haben. „Einmal musste sogar ein Hubschrauber kommen“, sagt Kevin und schwärmt: „Dieser Adrenalinrausch ist der Wahnsinn. Ich hoffe, das geht nicht weg.“

Später, nach der Mittagspause, nimmt Kevin seinen Verband ab. Auf der verwundeten Handfläche klebt ein großer, schwarzer Klumpen. „Ein Stück Straße“, erzählt er, „das habe ich bei meiner letzten Aktion mit abgerissen. Es gibt stärkeres Zeug als Sekundenkleber.“ In der Berliner Lokalzeitung B.Z. gibt es einen Bericht über Kevins schmerzhafte Aktion. Er hat sich einen Tag vor dem Training mit Zwei-Komponenten-Kleber auf der A 113 Richtung Flughafen BER festgeklebt. Polizisten mussten den Asphalt aufschneiden und seine Hand mit Hammer und Meißel befreien.

„Das Wichtigste ist, dass wir mediale Aufmerksamkeit bekommen. Das ist das Hauptziel“, sagt Raúl. „Wir haben schon viel ausprobiert, mit Straßenblockaden klappt das einfach am besten – und wenn Leute von uns festgenommen werden. Wenn wir ins Gefängnis kommen, ist das gut. Das bringt Aufmerksamkeit.“ Er erklärt: „Nach Aktionen nehmen euch Polizisten manchmal mit in die GeSa.“ Eine grauhaarige, offenbar protesterfahrene Teilnehmerin unterbricht ihn und ergänzt, weil nicht alle wissen, was diese Abkürzung bedeutet: „Gefangenensammelstelle.“

Für Ruhm und Anerkennung

„Auch wenn ihr hinterher als Strafe Tagessätze zahlen sollt, könnt ihr alternativ immer ins Gefängnis gehen“, sagt der Aktivist. „Wir raten zu Gefängnis statt Strafzahlungen.“ Zur Vorbereitung gibt es ein spezielles Training, die sogenannte „Gefängnisschmiede“. Ein paar Tipps geben Raúl und Kevin aber schon jetzt, sie haben Erfahrung. „Wenn die sagen, ich soll mich für Untersuchungen ausziehen, dann sage ich, dass ich das nicht mache. Die können mich ja nicht zwingen“, sagt Raúl. „Wenn die mich dann ausziehen müssen, dann bringe ich die in eine unangenehme Situation. Meistens geben die dann auf, und ich konnte meine eigenen Regeln durchsetzen.“

Die Unerfahrenen unter den Trainingsteilnehmern will er dann aber erstmal beruhigen: Meistens sei man am selben Tag schon wieder draußen. „Nehmt am besten ein bisschen Kleingeld mit zu den Aktionen“, rät Raúl. „Nach der GeSa habt ihr bestimmt Hunger. Dann könnt ihr euch was bei Burger King oder so holen.“ Was nach dem Gewahrsam außerdem wartet, ist Ruhm und Anerkennung der eigenen Gruppe. „Andere Teilnehmer der Aktion holen euch später ab, klatschen, klopfen euch auf die Schulter und ihr werdet umarmt“, verspricht er.

Auch um ganz handfeste Dinge geht es an diesem Tag. Im Sitzkreis werden verschiedene Sekundenkleber herumgegeben. „Geklebt wird heute nicht“, sagt Kevin, gibt aber praktische Tipps: Viel helfe nicht viel, den Kleber lieber auf der ganzen Hand statt punktuell auftragen und von Kleidung fernhalten. „Ich habe auf dem Oberschenkel eine Narbe, weil der Kleber mit dem Stoff meiner Hose reagiert hat.“

„Wir haben in Berlin eine Idealsituation für Aktionen und Proteste. Hier ist alles sehr locker“

Was Raúl und Kevin den Neulingen auch vermitteln: Die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ sind gut vorbereitet, es steckt Struktur und Organisation dahinter. Alle an einer Aktion beteiligten „Bienen“, so nennen sich die Aktivisten intern, treffen sich am Abend vorher in einer nahegelegenen Wohnung, um alles durchzusprechen. Der Kopf dieser Einsatzgruppe wird Bienenkönigin genannt. Sie besitzt als einzige alle Informationen zu Strategie, Ort und Zeit der Blockade. Sie steht außerdem im Kontakt mit dem „Backoffice“, der Zentrale der „Letzten Generation“. Am nächsten Morgen geht man unauffällig und in kleinen Gruppen zum Zielort. Das Handy soll zuhause gelassen werden, „damit niemand an eure Kontakte kommt“.

Gibt es an der zu blockierenden Kreuzung eine Ampel, wird auf grün gewartet. Dann muss es schnell gehen. „Wir sind mittlerweile erprobt darin, den Kleber schon beim Laufen aufzutragen“, sagt Raúl. Manchmal ist die Polizei bereits vor Ort. Dann wird entweder gewartet, bis sie wegfährt, oder ein anderer Ort gesucht. „Wir schaffen es aber auch, uns direkt vor der Polizei auf die Straße zu kleben“, freut sich Rául. Mit Polizei und Presse soll während der Aktionen nicht gesprochen werden, „die sind der Feind“, besonders Bild und „eigentlich alles von Axel Springer“. Dafür gibt es speziell ausgebildete Aktivisten, die „Pressebienen“, erfährt die Gruppe.

Warum die Hauptstadt zum Lieblingsort der Klimaaktivisten geworden ist, wird bei dem Ausbildungstag für Neulinge auch klar. „Wir haben in Berlin eine Idealsituation für Aktionen und Proteste. Hier ist alles sehr locker“, meint Raúl. „Polizei und Richter sind uns gegenüber freundlich gesinnt, verständnisvoll und unterstützen uns auch oft. In Bayern und BaWü greifen die härter durch.“ Wissendes Nicken geht durch die Runde.

40 Aktionen, keine Vorstrafen

Dann wird es etwas ernster. „Ich will es nicht kleinreden. Es sind Straftaten, die wir begehen. Rechtliche Konsequenzen können bei einer Aktion nie ausgeschlossen werden, und ihr begebt euch immer in ein Risiko“, sagt er. Das Gespräch wird juristisch. Es geht um Tatbestände der Nötigung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, um unangemeldete Versammlungen, zivilrechtliche Klagen und gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr. Es wird über Tagessätze, Ordnungswidrigkeiten und Straftaten gesprochen.

Aber man müsse sich diesbezüglich keine Sorgen machen, meint Raúl. „Ich habe allein dieses Jahr an über 40 Aktionen teilgenommen. Und ich habe immer noch keine Vorstrafen. Wir können viel gefahrlos machen. Und wir empfehlen auch viel zu machen, solang ihr noch keine Vorstrafen habt. Danach wird es schwieriger.“

Eine Teilnehmerin fragt: „Ich will an der Uni in die Lehre gehen. Gibt es da eventuell Probleme mit Vorstrafen?“ Kevin beruhigt: „Ihr kriegt erst ab 90 Tagessätzen einen Eintrag ins Führungszeugnis.“ Und: „Wir haben viele Leute bei den Blockaden gehabt, die leider nicht mehr so viel Zeit haben, weil sie jetzt an der Uni arbeiten. Du musst dir also keine Sorgen wegen deiner wissenschaftlichen Karriere machen.“

 

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Dann öffnet sich Raúl der Gruppe und gibt zu: „Ich will euch nichts vormachen. Auch ich habe Zweifel. Und in solchen Momenten hilft mir das Wissen, dass ich das Richtige tue. Dann habe ich wieder Kraft weiterzumachen. Auch wenn Autofahrer mich anschreien.“ Mittlerweile hat er seinen Zopf hochgesteckt. Das sei auch besser, „wenn wütende Autofahrer oder Polizisten nach euch greifen“, rät er den Teilnehmern mit längeren Haaren.

„Nachdem ihr weggetragen wurdet, versucht immer wieder, auf euren Platz zurückzukommen“

Nach einer kurzen Pause beginnt Raúl mit der Meditationsübung. Es ist eine innere Vorbereitung auf den praktischen Teil des Trainings – und auf das, was die künftigen Klimaaktivisten draußen auf der Straße erwartet. Die wärmenden Gedanken an eine duftende Badewanne sollen helfen, ganz ruhig zu bleiben.

Die Teilnehmer tun sich in Dreiergruppen zusammen. „Wir üben jetzt das Sitzen und Weggetragen werden. Einer sitzt, und die anderen beiden versuchen, ihn wegzutragen oder wegzuschleifen“, erklärt Raúl. Im ersten Durchlauf sollen die Beine angewinkelt und die Arme unter den Beinen verschränkt werden. „Wenn ihr die Hände dann noch in die Jackenärmel steckt, kann die Polizei keinen Schmerzgriff anwenden und muss euch wegtragen“, verrät Raúl einen Trick.

Es wird durchgewechselt. Jeder sitzt und trägt. „Das macht mein Rücken nicht mit“, entschuldigt sich ein mittelgroßer, älterer Mann mit grauen Haaren, Schnurrbart und Schiebermütze, als ein Zwei-Meter-Hüne vor ihm auf dem Boden sitzt. Raúl springt ein. Zu zweit lässt sich der Koloss bewegen.

Die nächste Übung gilt der Reaktion auf wütende Autofahrer. Jetzt soll der Körper so schlapp und schwer wie möglich gemacht werden. Zwei andere sollen versuchen, ihn wegzuschleifen. „Nachdem ihr weggetragen wurdet, versucht immer wieder, auf euren Platz zurückzukommen und euch wieder hinzusetzen. Irgendwann geben die Autofahrer auf“, erklärt Kevin. „Aber es kann auch sein, dass euch Gewalt angetan wird.“

Wütende Rollenspiele

Genau das wird dann auch noch trainiert. Als Rollenspiel. „Was jetzt kommt, erinnert mich an meine Schauspielausbildung“, kündigt Raúl voller Vorfreude an. „Teilt euch in zwei gleich große Gruppen auf.“ Eine Hälfte übernimmt nun die Rolle der wütenden Autofahrer, die andere zieht neonfarbene Warnwesten an und begibt sich in die Situation, die schon bald Realität werden soll. „Egal was jetzt passiert, uns ist wichtig, dass ihr euch wohlfühlt“ bereitet Kevin die Teilnehmer vor. „Wenn es euch zu viel wird, könnt ihr jederzeit eine Pause machen.“

Die Gruppen gehen an die zwei entgegengesetzten Seiten des langen Raums. Gleich einer Sportmannschaft steht jede der beiden Gruppen im Kreis um ihren Trainer herum, der Instruktionen gibt. Seitens der Blockierer heißt es: standhaft bleiben, Plakat halten, reden lassen, zeitnah gemeinsam hinsetzen und in Blockadehaltung gehen.

Im Kreis der Autofahrer wird ein Szenario vorgegeben: „Ihr nehmt die Rolle einer Person ein, die zum Flughafen muss. Ihr seid schon seit Jahren nicht mehr geflogen, aber diesmal habt ihr euch den Urlaub verdient. Und jetzt blockieren da ein paar Hanseln euren Weg, und ihr verpasst den Flug. Stellt euch das vor. Seid wütend. Und los!“

Neulinge an ihre Grenzen

Angepeitscht von Raúl, der die Gruppe der aggressiven Autofahrer anführt, gehen sie schnellen Schrittes auf die bereitstehenden Blockierer zu. Es wird laut. Die Autofahrer schreien. Die anderen versuchen, ruhig zu bleiben, alles über sich ergehen zu lassen. Nach drei Minuten ruft Raúl „Realität“, alle berühren mit beiden Händen den Boden, und die Simulation ist beendet.

Nach einem kurzen Feedbackgespräch mit dem „Trainer“ folgt eine zweite Runde. „Ihr müsst jetzt noch wütender sein“ motiviert Raúl die Autofahrer. Die Situation soll so realistisch wie möglich sein. Die Blockierer sollen an ihre Grenzen gebracht werden. Diesmal ist es noch lauter, noch aggressiver. Einige der Blockierer bleiben gelassen, anderen sieht man die Stresssituation an. Eine junge Frau hat sogar Tränen in den Augen, scheint von der gespielten Wut, die ihr entgegenschlägt, beinahe überwältigt. Aber sie will weitermachen.

Raúls Schauspielerfahrung hilft ihm, die Situation weiter zu eskalieren. „Geht arbeiten!“, schreit er mit wutverzerrter Stimme, während er mit einem zur Rolle geformten Blatt Papier laut knallend auf seine Handfläche schlägt. Es wird geschubst. Es wird versucht wegzuzerren, zu schieben, zu tragen. Bis das Stoppwort „Realität“ fällt. Jetzt wird getauscht. Wer Blockierer war, wird zum Fahrer und andersherum.

„Habt ihr alle was zum Schlagen?“

Es folgt ein zweites Szenario. „Wir hatten euch gebeten ein sauberes Paar Socken mitzubringen. Habt ihr alle welche dabei?“, fragt Raúl. „Gut. Dann jetzt bitte rausholen.“ Die Socken sollen ineinander gesteckt werden, sie dienen als gepolsterte Schlagwaffe. „Damit geht ihr gleich auf die Blockierer los.“

Diesmal sollen die Autofahrer eine andere Geschichte als Grundlage nehmen: „Stellt euch vor, eure Eltern, Kinder, Großeltern oder Freunde liegen im Krankenhaus im Sterben. Und ihr wollt die noch ein letztes Mal sehen, bevor es zu spät ist. Und jetzt ist die Straße blockiert.“

Auf der anderen Seite des Raumes schärft Kevin den Blockierern ein: „Egal, was euch gesagt wird, ihr müsst standhaft bleiben und dürft niemanden durchlassen!“ Die zwei Besprechungskreise lösen sich auf. Während die Blockierer sich in einer Reihe aufstellen und ein Plakat halten, vergewissert sich Raúl nochmal bei den Autofahrern: „Habt ihr alle was zum Schlagen?“ Dann geht es los.

Der Nachschub ist gesichert

Die Autofahrergruppe stürmt, aufgehetzt und angeführt durch Raúls wütende Schreie, auf die Blockierer zu. Wieder wird geschrien, mit den Sockenwaffen geschlagen. Es ist lauter als in der Übung zuvor, aggressiver. Man merkt den Blockierern den Stress deutlicher an. Doch die vorbereitenden Worte Kevins „Ihr dürft niemanden durchlassen!“ zeigen Wirkung. Niemand gibt, trotz hoher körperlicher und emotionaler Belastung, während der Simulation nach. Das ist der Sinn der Übung: Die Blockierer sollen lernen, all das stoisch zu ertragen. Sie sollen abgehärtet werden. Wer weggetragen oder -geschleift wurde, kehrt wieder an seinen Platz zurück.

Drei Teilnehmer können oder wollen irgendwann nicht mehr mitmachen. Sie setzen sich an die Seite. Beobachten still. Ein junger Mann, der aussieht, als hätte er gerade erst die Schule abgeschlossen, entschuldigt sich: „Ich bin kein guter Schauspieler“.

Bei der Abschlussbesprechung wirken die Gruppenleiter zufrieden. Erwartungsvoll fragen sie in die Runde: „Wer ist am Montag beim Kleben und Blockieren dabei?“ Unsichere Blicke werden ausgetauscht. Niemand will sich dazu durchringen, die Hand zu heben. „Wer ist generell dabei? Es muss ja nicht Montag sein“, starten sie einen neuen Versuch. Sieben Teilnehmer heben diesmal die Hand. Einer der Willigen, ein Mann mittleren Alters, fragt: „Wie lang macht ihr das denn noch?“ Die Antwortet: „Bis die Regierung eingreift.“

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