Intensivbetten, Impfeffektivität, Inzidenzen - Corona: Täglich grüßt das Datenchaos

Die Grundrechtseinschränkungen in der Covid-Pandemie werden mit Daten begründet: zur Anzahl der Toten und Erkrankten, zu Anzahl und Belegung der Intensivbetten, zur Höhe der Impfquote etc. Doch die meisten dieser Daten sind fehlerhaft, unvollständig oder widersprüchlich. Ist Corona mit dem derzeitigen Datenmanagement überhaupt beizukommen?

Wie viele freie Intensivbetten gibt es denn nun, und wer liegt darin? / dpa
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Vor gut 20 Monaten – am 22. März 2020 wurden erstmals Kontaktbeschränkungen beschlossen – seither erleben wir in Deutschland Grundrechtseingriffe. „Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Infektionskrankheit COVID-19 seit März 2020 stellen die weitreichendsten und intensivsten staatlichen Eingriffe in grundrechtliche Schutzbereiche in der Geschichte der Bundesrepublik dar.“ Begründung nahezu aller Maßnahmen: Die Ausbreitung des Coronavirus solle be- und verhindert werden. Nicht nur Gerhard Strate erkennt eine fatale Weichenstellung“, wenn sich das „befreite Individuum in die Hand des übermächtigen Staates begibt“ bzw. übergeben wird. Staat und Regierung als Hüter körperlicher Unversehrtheit: Herangezogen werden dazu Daten, aus denen die Unvermeidlichkeit legislativer Übergriffe abgeleitet wird. Umso bemerkenswerter, dass die „beschlossenen Maßnahmen auf Grundlage einer absolut unzureichenden Datenlage stattfinden“. Auch den epidemiologischen Erfolg der bisherigen Lockdown-Maßnahmen kann man unterschiedlich interpretieren, da man das Land nicht mit sich selbst vergleichen kann, d. h. wir haben keine 83 Millionen umfassende Kontrollgruppe.

Die allgemeine Verunsicherung spielt selbst in simple Sprachmuster hinein: Man konnte zuletzt nicht einmal mehr sicher sagen, ob es sich um eine „Pandemie der Geimpften“ oder eine „Pandemie der Ungeimpften“ handelt. Christian Drosten stellte klar: „Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen – auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger.“ Und etwas ausführlicher: „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie. Und wir haben Menschen, die noch sehr gefährdet sind, die älteren Ungeimpften. Bei den über 60-Jährigen haben wir nur eine Impfquote von 86 Prozent vollständig Geimpfter, das ist irrsinnig, das ist wirklich gefährlich.“ Die Entscheidungsträger des Landes wissen sich (oder uns) – inmitten der größten Datenerhebung zu einer Krankheit, die die Menschheit bisher gesehen hat – mit nur einem Mittel zu helfen: neuen Kontaktbeschränkungen (und einer Impfpflicht durch die Hintertür). Datenbasierte Nachvollziehbarkeit? Eher Fehlanzeige. 

Daten – Informationen – Wissen – Handeln

Sind wir im Jahr 2021 etwa nicht in der Lage, aus Daten belastbare Informationen zu gewinnen? Fangen wir bei einem vermeintlich einfachen Datum an, und zwar einer absoluten Zahl: der Anzahl der Corona-Toten. Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) weist darauf hin: „In die Statistik des RKI gehen die COVID-19-Todesfälle ein, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-CoV-2 (direkter Erregernachweis) vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind. Das Risiko an COVID-19 zu versterben ist bei Personen, bei denen bestimmte Vorerkrankungen bestehen, höher. Daher ist es in der Praxis häufig schwierig zu entscheiden, inwieweit die SARS-CoV-2-Infektion direkt zum Tode beigetragen hat. Sowohl Menschen, die unmittelbar an der Erkrankung verstorben sind (,gestorben an‘), als auch Personen mit Vorerkrankungen, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren und bei denen sich nicht abschließend nachweisen lässt, was die Todesursache war (,gestorben mit‘) werden derzeit erfasst. Generell liegt es immer im Ermessen des Gesundheitsamtes, ob ein Fall als verstorben an bzw. mit COVID-19 ans RKI übermittelt wird oder nicht.“ Eine „abschließende Gewissheit“ in „allen Fällen“ gibt es nicht. Zudem erfasst die RKI-Statistik nicht das Todesdatum, sondern nur, wann das positive Testergebnis des Verstorbenen durch das zuständige Gesundheitsamt gemeldet wurde, was zu einer Verzögerung von gut zwei Wochen führen kann. Der Inzidienzwert setzt sich aus Melde- und Erkrankungsdaten zusammen; durch Meldeverzug wird eine abnehmende Fallzahl über mehrere Tage verursacht; dem RKI ist hier wenig bis nichts vorzuwerfen. Wer nun argumentiert, dass sich diese Verzerrungen mit der Zeit „glattbügeln“, frage sich, ob Gleiches auch für die entsprechenden, auf Todeszahlen beruhenden Maßnahmen gilt. 

Ein Thema für sich: die Definition des Corona-Toten im internationalen Vergleich. Die teils massiven Klassifikationsunterschiede lassen oftmals keinen seriösen Vergleich über die Ländergrenzen hinweg zu. In Frankreich wurden bis zum 2. April 2020 nur die in Krankenhäusern Gestorbenen gemeldet; Österreich hob Anfang August 2020 die Unterscheidung zwischen „an“ und „mit Corona gestorben“ auf. Auch die häufig zitierten Erhebungen der WHO und der Johns Hopkins University liegen aktuell um mehr als 20.000 Todesfälle auseinander.

Kohorten, Kontrollen und Klarheit

Wie das RKI an die relevanten Rohdaten gelangt, dürfte bekannt sein. Dass man jedoch etwa die „Abrechnungsdaten bei den Krankenkassen oder die Unterlagen zu den Krankenhausaufnahmen“ nicht dazu nutzt, diese als „Daten-Pool wissenschaftlich aufzubereiten“ mit dem Ziel einer „repräsentativen Kohortenstudie“, darauf hatte der Medizinstatistiker Gerd Antes hingewiesen. „Im Wesentlichen gibt es zwei große Versäumnisse: Einerseits wurde konsequent verhindert, eine repräsentative Kohortenstudie zu erstellen – eine Studie, mit deren Hilfe man ganz Deutschland durch eine repräsentative Gruppe aus 40.000 bis 60.000 Menschen hätte abbilden können. Man hätte von all diesen Menschen regelmäßig die notwendige Anzahl an Proben nehmen können, um so zu begreifen, was im zeitlichen Verlauf in der Gesamtbevölkerung passiert. Das aber ist nicht wirklich geschehen. Und da, wo eine solche Studie begonnen wurde, ist sie – ich muss es leider so hart sagen – gegen die Wand gefahren worden.“

Auch das von Viola Priesemann vorgeschlagene Screening („Am besten wäre es, wenn wir, genauso wie UK, ein Screening hätten, also rund 100.000 Zufallstests, die jede Woche ein objektives Bild des Ausbruchsgeschehen liefern.“): in der Form nicht umzusetzen. Wie auch, wenn selbst die Qualität der Routinedaten dürftig ist? Erst Anfang Oktober 2021 hatte das RKI auf eventuell zu niedrig ausgewiesene Impfquoten hingewiesen, Präsident Lothar Wieler ließ verlauten: „Das RKI kann nur die Impfdaten veröffentli­chen, die ihm entsprechend übermittelt worden sind.“ Das Digitale Impfquotenmonitoring, „ausschließlich in der Hand der impfen­den Stellen (Impfzent­ren, Impfteams, Krankenhäuser, Arztpraxen, Betriebsärzte)“, habe nicht zuverlässig geliefert. Klaus Holetschek, Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz, forderte stellvertretend: „Wir brauchen Klarheit und Wahrheit in der Frage der Daten.“ Dass das RKI diesen Fehler bereits zwei Monate vorher identifiziert hatte, folgenschwere Reports dann aber monatelang nicht anpasste, kann man als fahrlässig einstufen. Nur ein weiteres Beispiel für die durchwachsene Qualität der Basisdaten: Vereinzelt wurden veraltete Einwohnerzahlen genutzt, die ja wiederum Grundlage der Sieben-Tage-Inzidenz sind; so in München, am 18. September 2020: Der Münchner Sieben-Tage-Inzidenz lag eine von 2018 stammende, um etwa 90.000 Einwohner zu niedrige Zahl zugrunde:

Dass einerseits Berechnungsergebnisse auf die Dezimalstelle genau ausgewiesen werden, andererseits vollständige Berechnungsgrundlagen fehlen: ein unauflösbarer Zielkonflikt, für alle Beteiligten – Bürger, Politik, Wissenschaft.

Statistik-Jenga

Auch die Impfquote, meint man, sollte eine einfach zu berechnende Größe sein. Sogar ein „Impfquotenmonitoring“ wurde darauf basierend aufgesetzt. Der Wert nimmt bei Menschen, die älter als 60 Jahre sind, nach und nach ab, während er in anderen Altersgruppen, z.B. 18-59 Jahre, stetig zunimmt. (Übrigens verwendet das RKI bei der Meldung von Impfungen und Inzidenzen unterschiedliche Altersgruppierungen, was wohl historisch gewachsen ist.) Dr. Jana Schröder, Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie, äußerte am 24. September 2021: „Die Impfquote muss sich wesentlich erhöhen – noch vor dem Herbst. Vor allem, um das dritte G – die Gestorbenen – möglichst klein zu halten, und auch die Zahl der Langzeiterkrankten. Die Zahl der Ungeimpften ist  momentan noch recht hoch mit derzeit circa 30 Millionen Menschen. Zum Vergleich: In den bisherigen Wellen sind in Deutschland insgesamt vier Millionen Menschen infiziert gewesen. Und damit sind es wirklich noch viele, die selbst eine schwere Krankheitslast tragen und das Gesundheitssystem stark belasten können. Daher ist es wichtig, mit einem möglichst kleinen Anteil Ungeimpfter in den Herbst zu gehen. Es gilt: Ohne Immunität keine Normalität. Irgendwann wird jeder eine gewisse Immunität haben und dann geht es auch in Richtung Normalität.“

Eine nach wie vor zutreffende Zustandsbeschreibung, wenngleich die Anzahl der verabreichten Impfdosen zugenommen hat. Laut dem Johns-Hopkins-Dashboard hatten die absolut verabreichten Impfungen in der letzten Oktoberwoche 2021 einen Neunmonats-Tiefstand von gut 555.000 verabreichten Dosen erreicht; diese Zahl verfünffachte sich dann innerhalb von drei Wochen, was erfreulich ist, schließlich ist erklärtes Ziel der Impfung, vor einem schweren Krankheitsverlauf besser geschützt zu sein; nicht Ziel ist, nicht angesteckt zu werden, da eine Ansteckung nicht zwangsläufig zu einer Erkrankung führt. Allerdings ist der Impfstatus vieler akut Erkrankter nicht vollständig bekannt, deshalb weist „das RKI seit 30. September nur noch die gemeldeten erkrankten Geimpften aus, für die von den Gesundheitsämtern auch ein Impfstatus vollständig überliefert wurde“. Erneut unvollständig gemeldete Daten, erneut statistischer Anpassungs-/Deckelungsbedarf seitens des RKI, erneut Ungereimtheiten in der Kommunikation. Unter diesen Umständen wiederum eine datengetriebene Erklärung für Impfdurchbrüche zu formulieren, verschärft das Reportingproblem um eine zusätzliche Dimension. Und bevor nun sogar eine „Impfeffektivität“ deduziert werden soll, wäre eine „Datenverarbeitungseffektivität“ angemessener. 

RKI-Fehler wie im Oktober (hospitalisierte Patienten mit unklarem Impfstatus wurden als ungeimpft eingestuft), die letztlich hohe Impfquoten unterstellten und damit die Impfeffektivität sowie Impfeffektivitätentwicklung künstlich erhöhten, reduzieren das Vertrauen in die Ermittlung der Kennzahlen. Darauf angesprochen, warum trotz hoher Impfquote die Inzidenzen höher liegen als 2020, nannte Lothar Wieler drei Gründe: Heuer gebe es weniger Kontaktbeschränkungen als damals; die Delta-Variante sei ansteckender (relativ hoher R0-Wert); und die Impfungen reichten noch nicht aus, d.h. die Impfquote sei noch immer zu niedrig. Zur Erinnerung: Bis November 2020 wurde in Deutschland nicht gegen Covid-19 geimpft. Was Wieler meint: Am besten jeden impfen, der es verträgt. Ähnlich erklärt es Viola Priesemann: „Wenn immer noch über zehn Prozent der relevanten Altersgruppe nicht immunisiert sind, dann haben diese zehn Prozent das Potenzial, die Masse, um die Krankenhäuser zu füllen“; zwar sind hier mit der relevanten Altersgruppe die Über-50-Jährigen gemeint, und Immunität ist nicht mit Impfung gleichzusetzen, aber es zeigt ebenso die Dynamik des Infektionsgeschehenes bei zu niedriger Impfquote auf. Christian Drosten bemühte dazu am 11. November 2021 einen Ländervergleich mit dem Vereinigten Königreich:

Bedeutet: Je mehr Menschen geimpft sind, desto mehr vollständig Geimpfte sollten geboostert werden, angefangen bei den Älteren; klingt schlüssig, aber klingt es auch nach einer Aufgabe für die Politik? Randnotiz zum Thema Datenverzerrung: Das offizielle Impfdashboard weist darauf hin, dass hier „die Impfquoten angegeben werden, die dem RKI über das Meldesystem DIM berichtet werden. Sie sind als Mindestimpfquoten zu verstehen, da eine hundertprozentige Erfassung durch das Meldesystem nicht erreicht werden kann. Das RKI geht davon aus, dass die tatsächliche Impfquote bis zu fünf Prozentpunkte höher liegt, als auf dem Impfdashboard angegeben.“ Das erinnert ein bisschen an Statistik-Jenga: Zieht man nach und nach einen Stein nach dem anderen heraus, bricht das Gebäude irgendwann ein.

Seriosität von Ländervergleichen

Einen ländervergleichenden Zusammenhang herzustellen zwischen Impfquote und Inzidenzen ist übrigens zu einer eigenen Corona-Sportart geworden: So werden gern Frankreich, Irland und Portugal genannt als Länder mit relativ hoher Impfquote und gleichzeitig wieder steigenden Inzidenzen; Schweden und UK hingegen als Staaten mit in etwa stabilen Inzidenzen und hoher Impfquote. Eine Studie, erschienen am 30. September 2021, verglich 68 Länder und stellte fest, dass Zunahmen an Covid-19-Fällen in keinem Zusammenhang mit der Impfquote stehen; die oft kommunizierte These, dass eine hohe Impfquote zwangsläufig zu einer niedrigen Inzidenz führt, geht demnach nicht auf.

Geimpft ist geimpft, oder? 

Eine Tag für Tag dringender werdende Frage zur Impfquote: Wie wird verfahren mit dem abnehmenden Schutz eines verabreichten Impfstoffs? Die sinkende Wirksamkeit ist entkoppelt von Impfquote und Infektionsgeschehen. Stand heute ist ein Geimpfter ein Geimpfter ein Geimpfter, unabhängig vom Hersteller des Vakzins (von weiteren Einflussfaktoren wie etwa dem Alter abgesehen). Alle haben einen ungewichteten Wert von 1. Zum Beispiel soll aber, einer Studie vom 25. Oktober 2021 zufolge, in Schweden der Schutz (vor einer Infektion) von mit Astrazeneca Geimpften nach bis zu sechs Monaten auf das Niveau von Ungeimpften sinken; müsste dann nicht nach sechs Monaten und einem Tag der Impfstatus angepasst werden? Hierzu erneut Christian Drosten, am 1. Oktober 2021: „Sehr interessante Studie, die die Einschätzung aus den Podcasts der letzten Monate bestätigt: der Übertragungsschutz geht ca. 2-3 Monate nach der Impfung allmählich wieder verloren. Meine Schätzug basierte auf IgA-Testung, hier jetzt echte Epi-Daten. Ganz verlieren wird man den Übertragungsschutz aber nicht, denn Übertragungen ,von Geimpft zu Geimpft‘ sind insgesamt unwahrscheinlicher (aus der Paper indirekt ersichtlich). Und: Schlüsse über die Übertragung in verschiedenen Altersgruppen lässt das Paper eher nicht zu, denn es wurden nur Kontaktpaare mit getesten Kontakten eingeschlossen. Die Testindikation ist sehr unterschiedlich: Erwachsene meist wegen Symptomen, SuS oft wegen Fall im Umfeld.“

Ebenso hatte Drosten in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (02. September 2021) erläutert, „dass Geimpfte nach ein paar Monaten, nach vier, fünf, sechs Monaten deutlich den Übertragungsschutz verlieren“ und stattdessen virusbelastete Atemwege bekommen können. Sinkender Verbreitungsschutz in den relevanten Altersgruppen führt dann – ceteris paribus – zu einer steigenden Inzidenz, vor allem dann, wenn eine eher impfstoffresistente Variante grassiert. Uğur Şahin, Gründer und Vorstandsvorsitzender des Unternehmens BioNTech, stuft die Wirksamkeit des gleichnamigen Impstoffs bis zum neunten Monat zwar als sehr hoch ein, allerdings nehme der Schutz „ab dem vierten Monat“ ab. Umgekehrt wurde Johnson & Johnson gar nicht erst als Erst-, sondern direkt als Zweitimpfung erfasst, woraus man eine verzerrte und damit verfälschte, da zu niedrige Impfbereitschaft ableiten könnte. Gerd Antes zur Frage der methodischen Handhabe schwächer werdender Impfungen: „Schwieriger wird es schon bei dem allmählichen Rückgang des Impfschutzes. Derzeit reden wir ja schon über den Booster für die Vulnerablen – oder sogar für alle. Hier muss man dann tatsächlich genauer hingucken. Meiner Meinung nach deutet sich hier die nächste Fehlentwicklung an. Die Politik behauptet schon wieder, sie wisse genau, wie die derzeitigen Studien zu interpretieren seien, und empfiehlt daher das Boostern – oder sollte ich besser sagen: sie befiehlt es? Das ist nur noch verrückt. Wir haben zurzeit einen Irrationalismus, der der Gesellschaft schadet und mit einem modernen Land vollkommen unvereinbar ist. Eigentlich – aber er ist Realität.“ Das RKI rät vehement zu einer Impfauffrischung; 81,7% der im Rahmen von COVIMO (COVID-19 Impfquoten-Monitoring in Deutschland) befragten vollständig Geimpften gaben an, „(eher) eine Booster-Impfung in Anspruch nehmen zu wollen“. Notabene: „Die Impfquotenschätzung für medizinisches und Pflegepersonal fällt genauso hoch aus wie für die Vergleichsberufsgruppen. Die Gesamt-Impfquotenschätzung für medizinisches und Pflegepersonal beträgt 88.3 %.“

Irritierend inkohärente Inzidenzen

Die Schwächen der Inzidenz als zentralem Richtwert wurden zwar immer wieder andiskutiert, doch ist sie, da stark institutionalisiert, bis heute Teil der täglichen Updates. In einem Thesenpapier vom 22. November 2020 hielten Prof. Dr. med. Matthias Schrappe und weitere Autoren fest: „Gegenwärtig sind wir wegen des fortwährenden Fehlens von Kohorten-Studien leider nicht einmal in der Lage, verlässlich Angaben zur Häufigkeit des Neu-Auftretens der SARS-CoV-2/CoViD-19-Infektion (sog. Inzidenz) zu machen (auch wenn das Robert-Koch-Institut diese Bezeichnung verwendet). Es werden stattdessen unsystematisch gewonnene, Anlass-bezogene Testprävalenzen (Melderaten) verwendet, die über eine Woche akkumuliert werden, aus unterschiedlichen Stichproben stammen und weder zur Gesamtpopulation noch zur Dunkelziffer eine verwertbare Aussage machen.“ „Zur Zeit [wird] so vorgegangen, dass die Testprävalenzen einfach auf die Gesamtbevölkerung oder Region umgerechnet werden, ohne über die Dunkelziffer in der nicht-getesteten Bevölkerung Rechenschaft abzulegen. Diese Vorgehensweise kann in keinem Fall zu verlässlichen quantitativen Maßen führen.“ Zwischenfazit der Fachautoren: „Aus epidemiologischer Sicht sind daher die gegenwärtig verwendeten Daten (einschließlich der neuerlichen Bestimmungen und Setzungen der Neufassung des IfSG vom 18. November 2020) fachlich fragwürdig (,7-Tages-Inzidenz‘) und können daher weder zur Begründung von weitgehenden Einschränkungen noch zur Bildung von Grenzwerten dienen, von denen eine Steuerungswirkung ausgehen soll.“

Außerdem stellen die Autoren dar, dass keine der Voraussetzungen zur Berechnung einer brauchbaren epidemiologischen Inzidenz gegeben ist: Weder ist die Grundgesamtheit bekannt, noch wird die Population vollständig über einen bestimmten Zeitraum untersucht; ferner werden „die Merkmalsträger zu Beginn des Untersuchungszeitraumes nicht ausgeschlossen, obwohl deren Infektion nicht mehr ,neu auftreten‘ kann“; und es wird nicht der Empfehlung des European Center of Disease Control (ECDC) gefolgt, mindestens einen Berichtszeitraum von 14 Tagen zu implementieren. Kurz: Sieben Ein-Tages-Inzidenzen zu kombinieren, ergibt keine Sieben-Tage-Inzidenz. Die „unsystematisch generierten Punktprävalenzen“ lassen bestensfalls eine Melderate zu, jedoch keine Sieben-Tage-Inzidenz, weshalb Schrappe & Co. folgende Begriffsverbesserung vorschlagen: „7-Tage-Melderate“. Die Autorengruppe hebt treffend die Bedeutung dieser Richtigstellung hervor: „Es bleibt dabei die Frage offen, warum ist dieser Punkt so wichtig? Das Problem ist gewaltig und bestimmt die gesamte weitere Diskussion, denn die Verwendung des Begriffs der ,Inzidenz‘ gibt vor, man habe eine Kenntnis der in einem Zeitraum (7 Tage) tatsächlich neu auftretenden Infektionen, und man könne daran die Entwicklung zutreffend ablesen. Diese Sichtweise ist sehr wirkmächtig, denn sie insinuiert eine Handlungsgrundlage, auf der politische und gesellschaftliche Entscheidungen von großer Tragweite getroffen werden. Allerdings ist diese Handlungsgrundlage nicht tragfähig, zum anderen wird auf diese Weise der dringend notwendige Weg zur Nutzung sinnvollerer Vorgehensweisen versperrt.“

Politiker, die auf Inzidenzen starren

Zu welchen Fehleinschätzungen das „Starren auf Inzidenzen“ führen kann, darauf hat auch Detlev Krüger, ehemaliger Chef-Virologe der Berliner Charité, am 18. November 2021 hingewiesen. Zwar sei die Wichtigkeit der Infektionsinzidenz als Indikator anzuerkennen, „aber letztlich nicht das entscheidende Kriterium – wesentlich ist, wie viele Leute am Ende krank werden und wie viele von ihnen in der Klinik und sogar auf der Intensivstation betreut werden müssen. Die Inzidenz selbst sagt dazu nur indirekt etwas aus“. Wegen ihrer fehlenden Aussagekraft, der mangelnden wissenschaftlichen Evidenz, ja, der – in dieser Ausprägung – epidemiologischen Randrelevanz, ist die Sieben-Tage-Inzidenz wenig geeignet, um damit Lockdown-, Impfpflicht- und Großveranstaltungs-Hygienemaßnahmen zu begründen. Und so darf seit 1. April 2021 der „Inzidenzwert nicht mehr das alleinige Kriterium für Verbote, Einschränkungen und weitere Lockdown-Maßnahmen sein. Ab dann müssen das Kanzleramt und die Ministerpräsidenten für Beschränkungen laut Gesetz auch andere Zahlen und Werte berücksichtigen“. Auch hier entsteht der Eindruck: Statt datengetriebener Politik erleben wir auf der einen Seite Daten, auf der anderen Seite Getriebene. Beispiel: Kliniken ziehen Inzidenzen gern heran, um ihre „Klinikbelastung“ bzw. „Bettenauslastung“ zu begründen. Es heißt dann etwa: „Seit Beginn der vierten Welle im Oktober 2021 verzeichnen wir wieder einen Anstieg der stationär behandelten Covid-Patientinnen und -Patienten. Dies deckt sich mit den RKI-Meldedaten für Deutschland.“ Dies erhöht wiederum den Druck auf die Politik. Und so führen verzerrte Daten zu politischen Verzerrungen.

Im März 2021 hatte ein Mathematikstudent dem RKI eine methodisch unzureichende Berechnung der Inzidenz nachgewiesen, erstellte einen normierten Inzidenzwert mit der fabelhaften Bezeichnung „Testpositivenquote“, ging dabei aber selbst von fehlerhaften und unwahrscheinlichen Grundannahmen aus. Neben Mathematikstudenten unterlaufen auch Medien einfache, jedoch öffentlichkeitswirksame Fehler. Es folgt ein kurzer Ausflug in die Prozentrechnung. So titelte die BILD am 13. November 2021:

Diese Meldung beinhaltet ziemlich viele in die Irre führende Berechnungsfehler: Bezieht man auf korrektem Weg die Grundgesamtheit der Geimpften ein, erhält man als richtiges Ergebnis, dass – in dieser einfachen, hypothetischen Überlegung – das Impfen die Einlieferungswahrscheinlichkeit um ein Vielfaches senkt. Die von BILD vorgenommene Ableitung auf der absoluten Menge von Intensivpatienten auf die Grundgesamtheit: fachlich ungenügend. Aus dem ersten Fehlschluss zu implizieren, dass sich Impfen nicht lohne: ein verheerender Folge-Fehlschluss.

Hat Deutschland zu wenige Betten?

Nicht jeder, der sich mit Covid-19 infiziert (hat), ist damit ein Corona-Kranker. Und bei vielen Erkrankten verläuft die Krankheit ohne schwere Probleme. Auch sich in Quarantäne Befindende belasten das Gesundheitswesen im engeren Sinn nicht. Doch bleibt eine wichtige (und berechtigte) Frage: Wie kritisch ist die Situation auf den Intensivstationen (ITS)? Hier spielen nun verschiedene Faktoren hinein: Wie viele Intensivbetten stehen im jeweiligen Krankenhaus zur Verfügung? Wie schwer fällt die Erkrankung aus? Wie lange wird der Patient voraussichtlich noch behandelt werden? Wie alt ist der Patient? Wie hoch ist die epidemiologische Inzidenz im jeweiligen Landkreis? Wie viele andere Akut-Krankenhäuser gibt es im Umkreis? Und einiges mehr. Laut aktuellem Report des DIVI-Intensivregisters werden 52% der sich in intensivmedizinischer Behandlung befindenden Covid-19 Patienten invasiv beatmet. Vom Höchststand der ITS-Covid-19 Fälle sind wir um 1.692 Fälle entfernt; etwa 1.300 Akut-Krankenhäuser gibt es in Deutschland. Der Anteil der COVID-19-Belegung durch Erwachsene an allen betreibbaren Intensivbetten für Erwachsene ist innerhalb der letzten 30 Tage von gut 7% auf etwa 18% gestiegen, Tendenz steigend. Im gleichen Zeitraum hat die Anzahl von Covid-19-Fällen auf ITS von zwei auf fünf (pro 100.000 Einwohner) zugenommen; bedeutet für die Tendenz: steigend. Auch hier sind aufgrund des beschriebenen Übermittlungsverzugs die Werte der letzten circa zwei Wochen tendenziell unterschätzt.

Ein Vorjahresvergleich ist unter anderem deshalb schwierig, da von den zwischen Ende April und Ende Juli 2020 etwa 30.000 gemeldeten betreibbaren Intensivbetten bis Ende Dezember 2020 etwa 3.500 freie Betten und 20.000 belegte Betten übrig waren (falsche Anreize seitens der Politik an Klinikbetreiber, was auch der Bundesrechnungshof monierte, wobei das Bundesgesundheitsministerium keine künstlich zu hoch angesetzten Behandlungskapazitäten feststellen konnte), und z.B. Ende Oktober 2020 abrupt „etwa 1000 betriebsbereite Betten weniger gemeldet worden als vorher“, so Professor Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters sowie Leiter des ECMO-Zentrums der Lungenklinik Köln-Merheim. Dem folgte ein offener Brief von DIVI und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) an die Akut-Kliniken, in dem es heißt: „Heute haben wir die dringende Bitte an Sie, diese von Ihnen täglich übermittelten Meldungen nochmals zu verifizieren. Bei den Meldedaten übermitteln Sie auch die ,aktuell freien‘ und sofort betreibbaren Intensivbetten und ergänzend dazu die so genannte ,Notfallreserve‘, die innerhalb von sieben Tagen für die Versorgung verfügbar gemacht werden kann. An einigen Standorten sehen wir eine Diskrepanz bei diesen gemeldeten Daten dahingehend, dass zum Teil ,sofort verfügbare freie Betten‘ gemeldet werden, für die allerdings zunächst die Notwendigkeit besteht, den Regelbetrieb einzuschränken, um das für den Intensivbereich erforderliche Personal aus anderen Stationen zusätzlich bereitzustellen. Diese Betten sollten in der Rubrik ,7-Tagereserve‘ gemeldet werden.“

Sieht die aktuelle Datenlage danach aus, dass wir in eine Überlastung des Gesundheitssystems laufen oder uns bei ITS-Fällen vielmehr dem Vorjahresniveau nähern? Spekulativ. Zwingende Zusammenhänge herzustellen zwischen zunehmenden Inzidenzen und ansteigender ITS-Belegung, hat sich nicht wirklich bewährt. Das teilt auch das RKI mit: „Ein Anstieg der 7-Tage-Inzidenz lässt nicht mehr mit demselben Verhältnis einen Anstieg der 7-Tage-Hospitalisierungsinzidenz und der Intensivbelegungen erwarten. Auch das Verhältnis von 7-Tage-Hospitalisierungsinzdenz und Belegung der Intensivstationen ist zueinander nicht konstant, da dieses u.a. von den betroffenen Altersgruppen und dem Anteil der Geimpften unter den SARS-CoV-2 Infektionen abhängt. Bei gleichbleibender Hospitalisierungsinzidenz, aber längeren Zeiten der Intensivbehandlung steigt die Belastung der Kapazität weiter an.“

Zum Verhältnis der Kenngrößen Detlev Krüger: „Die gegenwärtigen Meldungen der vierten Welle beruhen hauptsächlich auf der Wahrnehmung der stark ansteigenden Infektionsinzidenz. Damit ist gemeint, wie viele Menschen pro 100.000 positiv getestet wurden. Das ist ein wichtiger Indikator der Entwicklung des Infektionsgeschehens, aber letztlich nicht das entscheidende Kriterium – wesentlich ist, wie viele Leute am Ende krank werden und wie viele von ihnen in der Klinik und sogar auf der Intensivstation betreut werden müssen. Die Inzidenz selbst sagt dazu nur indirekt etwas aus.“ Er hebt außerdem auf Finanzierungs- und Profitabilitätsaspekte ab, die sich öffentlichen Daten entziehen und sich nicht modellieren lassen: „Es gibt so viele andere Krankheiten, die unsere Intensivstationen voll machen, über die wir aber seit anderthalb Jahren kaum reden. Dass die Intensivstationen immer am Anschlag arbeiten, hat vor allem mit der Finanzierung unserer Kliniken zu tun. Keine Klinik hält sich freie Intensivbetten, sondern so viele, wie sie durchschnittlich belegen kann. Wenn dann so ein Ereignis wie Corona hinzukommt, sind die Kliniken natürlich überlastet, zumal schwerkranke Coronapatienten einen besonders hohen Betreuungsaufwand erfordern.“ Hier scheinen gesundheitsökonomische Zielgrößen epidemiologische Zielgrößen zu schlagen.

Im Interview mit Matthias Schrappe hatte Cicero nachgefragt, wo die vom Bund im Februar 2020 gut 14.000 besorgten Beatmungsgeräte geblieben sind. Das bleibt vorerst im Dunkeln. Schrappe weist darauf hin, dass „ja auch 600 Millionen Euro für die Neuanschaffung von Intensivbetten bereitgestellt wurden, die anschließend von den Krankenhäusern vereinnahmt worden sind. Diese Betten aber sind gar nicht da, oder sie sind noch immer eingepackt. Warum also, so muss man sich fragen, wird das Geld nicht zurückgezahlt?“ Vielleicht, so Gernot Marx, „weil entsprechend der Belastung viele Pflegekräfte entweder ihren Beruf beendet haben oder ihre Arbeitszeit reduziert haben“. Zudem waren, so Schrappe, „während der gesamten Krise immerzu Intensivbetten frei. […] Natürlich hat es punktuell auch Überlastungen gegeben, keine Frage – zumal die Covid-Patienten ja nicht in jedem Krankenhaus in gleichem Maße behandelt wurden. Dennoch muss man festhalten, dass die Krankenhausbetreiber das Geld offenbar nicht nur bei der Patientenversorgung eingesetzt haben, sondern zur Verbesserung ihrer Bilanzen. Die Helios-Kliniken etwa konnten 2020 die höchste Dividende in ihrer Geschichte an die Aktionäre ausschütten. Die Gelder scheinen also offensichtlich ganz woanders angekommen zu sein.“ Und außerdem: „Bis zum 6. Mai dieses Jahres haben wir ja nicht einmal gewusst, welches Geschlecht die Intensivpatienten hatten, geschweige denn, welches Alter. Ich will hier keinen Grundkurs in klinischer Epidemiologie geben, aber es ist leicht zu verstehen, dass etwa das Wissen um Begleiterkrankungen der Patienten hilfreich sein könnte. Es fehlen oftmals die Basisdaten. Oder, um es noch schlimmer zu machen: Wir haben eigentlich all diese Daten. Für die Abrechnung werden sie tagtäglich herangezogen; Millionen, Abermillionen Daten. Wir kennen sogar die Laborwerte der Patienten. Aber für die wesentlichen Fragestellungen werden sie nicht genutzt.“

Der neue Gral: die Hospitalisierungsrate

Im Juli 2021 (vorher fehlen tagesaktuelle Daten) vom RKI vorgeschlagen, ist nun die Hospitalisierungsrate das neue Top-Kriterium („Leitindikator“) bei der Einordnung (von Staatsseite) der „aktuellen Lage“. „Die Hospitalisierungsrate gibt die Anzahl der Krankenhauseinweisungen Infizierter der letzten Woche pro 100.000 Einwohner bzw. einer Bezugsgruppe an“; Datengrundlage hierfür: das DIVI-Intensivregister. Wenig überraschend liegt die Hospitalisierungsrate bei der Altersgruppe Ü80 am höchsten: am 22. September 2021 7,88; am 22. November 2021 25,07. Das RKI leitet daraus, dass von – als Basiswert – 100.000 Ü80-Menschen innerhalb von zwei Monaten 18 Personen mehr erkrankt sind, einen leicht steigenden Trend ab; der Anteil der Altersgruppe Ü80 an der Bevölkerung in Deutschland beträgt etwa 8%. Im Mittel werden an Covid-19-Erkrankte vier Tage nach Symptombeginn stationär aufgenommen; die mittlere Hospitalisierungsdauer beträgt im Mittel zehn Tage. Etwa die letzten zwei Wochen bei Hospitalisierungsrateverläufen sind wegen Verzögerungen bei der Übermittlung eher unterschätzt, da eine Hospitalisierung erst oft nach dem Meldedatum eintritt; die ins Hospital eingelieferte Person wird dann rückwirkend gemeldet, was aber dem Hospital nicht hilft, denn dieses hat nun einen Patienten bis zu 27 Tage zu behandeln. So reportet das RKI in bereits Wochen zurückliegende Vergangenheit hinein und damit nur einen Teil der aktuellen Patienten, d.h. die Gesamtzahl der Patienten wird nicht berücksichtigt, während sich die politischen Entscheidungsträger an 7-Tageswerten orientieren. ZEIT Online hat ausgerechnet, dass deshalb die tatsächliche Hospitalisierungsrate deutlich höher liegen kann – freilich kann auch der umgekehrte Fall auftreten. Sinkende Verläufe der Hospitalisierungsrate sind zumeist kein zwingendes Indiz einer Entlastung der Krankenhäuser (die Belastung misst man anhand der Einweisungen), was einen weiteren systematischen Nachteil entblößt: Als Frühwarnindikator ist ein sich über Wochen aktualisierender historischer Wert kaum geeignet. Das Problem in einfacheren Worten: „Das RKI nutzt nicht das Datum, an dem ein Erkrankter hospitalisiert wurde, sondern das Datum, an dem ein Gesundheitsamt vor Ort einen Erkrankten erstmals registriert hat.“ Dazu Karl Lauterbach am 14. September 2021:

Christian Drosten meint, man könne diese Zustände (Meldeketten in den Krankenhäusern) nicht „mal eben schnell verbessern“, was sicher stimmt, aber auch wenig ambitioniert klingt. Niedersachsen hatte sich dank eines fortschrittlicheren, datengetreueren Meldesystems von den dürftigen RKI-Daten unabhängig gemacht. Das Bundesland weist in seinem System eine etwa doppelt so hohe Hospitalisierunsrate aus wie das RKI – abhängig vom jeweiligen Schwellenwert löst Niedersachen die entsprechende Warnstufe aus oder eben nicht –, welches keinen dringenden Grund zur Anpassung des vom Institut verwendeten Systems sieht, obwohl Verzögerungen in der Erhebung, fehlende Einweisungsdaten, unvollständig veröffentlichte Daten und lückenhaftee Trends als inhärente Schwächen bekannt sind; das „Nowcasting-Verfahren“ hat sich noch lange nicht als neuer Standard etabliert. Das RKI ordnet ein: „Der größte Teil des Verzugs, bis die Informationen zur Hospitalisierung am RKI vorliegen, ist auf den natürlichen Krankheitsverlauf sowie auf die Ermittlungs- und Dokumentationsverzüge zurückzuführen. Die Datenvollständigkeit bei den Angaben zur Hospitalisierung liegt bei über 80%, variiert aber sehr stark nach Landkreis und z.B. verwendeter Software.“

Und nun?

Datenerhebung, Datenströme, Datenvalidität, Datenschutz, Datenverarbeitung, Datenstrukturen im Rahmen einer Pandemie – unvermeidliche Schwachpunkte gibt es jede Menge: So meldet das RKI bei Impfdurchbrüchen nur (man könnte auch sagen: genau) diejenigen „Erkannten“ (Impfdurchbrecher), für die Impf- und Symptomstatus vollständig übermittelt sind, was zu einer massiven Unterschätzung der „tatsächlichen“ Impfdurchbrüche führt; auch symptomfreie Impfdurchbrüche erfasst das RKI nicht, woraus sich wiederum erhöhte Impfeffektivitätsschätzungen ergeben. Logisch, dass mit steigenden Impfungen die Impfdurchbrüche zunehmen werden, aber wie wird das wahrgenommen: als logische Folge oder als vermeintlich mangelnde Wirksamkeit der Impfstoffe? Die Kommunikation der Übersterblichkeit führte monatelang zu Diskussionen, da hier versucht wurde, aus mehreren Unbekannten eine Bekannte herzuleiten, was zu Grenzen der Interpretierbarkeit führt; Felix zur Nieden, Fachmann für Sterebefallzahlen beim Statistischen Bundesamt, resümierte damals: „Wir sehen an den Sterbezahlen nicht, was passiert wäre, wenn die Politik keine oder weniger Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus getroffen hätte. Wir sehen nur, was tatsächlich passiert ist trotz all der Maßnahmen, die ja gerade zum Ziel hatten, zusätzliche Todesfälle zu verhindern. Die Übersterblichkeit gibt Hinweise darauf, wie gut das geklappt hat, auch im internationalen Vergleich. Deutschland steht hier nach den bisher vorliegenden Zahlen vergleichsweise gut da. Man kann aber nicht die grundsätzliche Gefährlichkeit des Coronavirus einschätzen, dafür muss man noch andere Daten etwa aus medizinischen Studien heranziehen.“ Abweichungen in Verläufen sind nicht automatisch Abweichungen von einer „Norm“.

Ein grundsätzlicher Mangel: Die Pandemie dauert noch nicht lange genug, um modellhaft(e) Langzeitbetrachtungen anzustellen. Sodann gibt es „Wahrnehmungsfehler“ bei Darstellungen exponentieller Art: Die Verlaufskurve bleibt am Anfang unten, wenn wenige Fälle vorliegen. Dass sich ein Virus nichtsdestoweniger enorm schnell verbreiten kann, „in den Exponentialbereich geht”, kommt dann bei Aufruf der absoluten Zahlen für die meisten überraschend und findet entsprechend Widerhall im öffentlichen Raum. Vielleicht werden demnächst neue Zielgrößen an Land gezogen, etwa zu Impfnebenwirkungen, oder alte wiederbelebt, wie z.B. „das Verhältnis der gemessenen [Covid-19-]Fälle durch Stichproben zur Intensivkapazität“. Und vielleicht sind hierzulande die meisten Datenprognosen und -auswertungen ein Stück weit irrelevant, solange in Deutschland innerhalb der letzten drei bis sechs Monate nicht mindestens 90% aller Einwohner geimpft wurden? Damit gehört das Schlusswort Christian Drosten: „Die Impfung ist der Weg aus der Pandemie, die Impflücken müssen geschlossen werden. Viel mehr gibt es jetzt nicht mehr zu sagen.“

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