Grundgesetzänderung gegen die AfD? - Mit der Verfassung allein lässt sich die Demokratie nicht retten

In den Regierungsparteien gibt es Überlegungen, die Stellung des Bundesverfassungsgerichts durch eine Grundgesetzänderung zu stärken, damit die AfD nicht eines Tages dessen Unabhängigkeit gefährdet. Doch so lassen sich Demokratie und Rechtsstaat nicht erhalten.

Mit Verfahrenstricks an den Rand drängen: Alexander Gauland und Alice Weidel (AfD) im Bundestag / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich 1949 von den negativen Erfahrungen aus der Weimarer Republik leiten lassen. Schließlich hatten sie selbst miterlebt, wie die Nationalsozialisten den Rechtsstaat außer Kraft gesetzt und die Demokratie abgeschafft haben.

Diese historischen Erfahrungen haben sich im Grundgesetz unter anderem in einem System der „checks and balances“ niedergeschlagen. Ein Kanzler lässt sich nicht ohne Mehrheit für einen Nachfolger einfach stürzen, der Bundespräsident ist anders als der Reichskanzler kein „Ersatzkaiser“ mit weitreichenden Vollmachten, es gibt kaum plebiszitäre Elemente, der Bundestag braucht für vieles die Zustimmung der Länder, und die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat bestimmt. Zudem hat der Parlamentarische Rat die Fünfprozenthürde eingeführt, um eine Zersplitterung der Parteien wie im Reichstag zu verhindern.

Schon das Beispiel der Fünfprozenthürde zeigt, dass institutionelle Vorkehrungen das Aufkommen von neuen Parteien nicht verhindern können, auch nicht von radikalen. So wurde das alte Dreiparteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP durch die Grünen zum Vierparteiensystem erweitert. Die inzwischen als Die Linke firmierende SED und die in Teilen rechtsextremistische AfD haben es abermals vergrößert. Im nächsten Bundestag könnten zudem noch das links-konservative „Bündnis Sahra Wagenknecht“ und die Freien Wähler sitzen. Dann wären wir nicht mehr allzu weit von Weimarer Verhältnissen entfernt – jedenfalls in Bezug auf die Parteienvielfalt im Parlament.

So wenig Verfahrensregeln das Aufkommen neuer Parteien verhindern können, so wenig helfen Verfahrenstricks, um neue Wettbewerber fern- oder zumindest kleinzuhalten. Wie einst gegenüber der PDS haben die „Etablierten“ auch bei der AfD versucht, deren Einfluss zu minimieren. Die früher bei der PDS angewendeten Folterinstrumente kamen und kommen gegen die AfD ebenfalls zum Einsatz: die Ablehnung ihrer Kandidaten für die Posten der stellvertretenden Parlamentspräsidenten im Bund und in den Ländern, die Praxis, ihre Kandidaten für den Vorsitz in einem Parlamentsausschuss durchfallen zu lassen, oder die Weigerung, der AfD einen Sitz im Kontrollgremium für die Geheimdienste zuzugestehen.

Nicht gerade souverän war der Beschluss der Großen Koalition im Frühjahr 2017, nicht mehr wie gewohnt den ältesten Abgeordneten den neuen Bundestag als Alterspräsident eröffnen zu lassen, sondern den mit der längsten Zugehörigkeit zum Parlament. Die fadenscheinige Begründung lautete, man brauche dafür einen Abgeordneten mit hinreichender Erfahrung. Tatsächlich ging es darum, nach der Bundestagswahl 2017 den AfD-Politiker Alexander Gauland als Alterspräsidenten zu verhindern. Was auch gelang: Das auf sehr kurze Zeit befristete Amt ging an den damals 74-jährigen Wolfgang Schäuble (CDU), MdB seit 1972.

Versuche, die PDS mit Verfahrenstricks kleinzuzkriegen, sind gescheitert

Ein ähnlich durchsichtiges Manöver hatte 1994 die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung unternommen. Alterspräsident war der parteilose, auf der Liste der PDS in den Bundestag gewählte Schriftsteller Stefan Heym, ein bekennender Sozialist. Das missfiel den Abgeordneten von CDU und CSU so sehr, dass sie nicht aufstanden, als Heym den Plenarsaal betrat, und ihm nach der Rede jeglichen Applaus verweigerten. Die Bundesregierung lehnte es sogar ab, Heyms Rede wie üblich im amtlichen Bulletin zu veröffentlichen. Sie tat dies erst nach heftigen Protesten von PDS und SPD.  

Genutzt haben alle diese Versuche, die Parteien am linken und rechten Rand mit solchen Tricks kleinzukriegen, nichts: PDS beziehungsweise Die Linke und später die AfD wurden immer stärker. Die Linke hat sich übrigens erst selbst zerlegt, als die demokratischen Parteien sie längst „normal“ behandelt hatten. Es spricht einiges dafür, dass die bewusste Benachteiligung der AfD dieser erlaubt hat, sich als Opfer zu präsentieren und dadurch zusätzliche Protestwähler zu gewinnen.

In den bundesweiten Umfragen liegt die AfD seit Sommer vergangenen Jahres bei rund 20 Prozent und ist damit zweitstärkste Kraft hinter der CDU/CSU. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen haben die Wähler sie mit 14,6 und 18,4 Prozent zur zweitstärksten Partei gemacht. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo im September gewählt wird, liegt die AfD mit Umfragewerten zwischen 30 und 35 Prozent sogar auf Platz eins.

 

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Entsprechend groß sind Nervosität und Besorgnis in Berlin. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht nicht mehr davon, die AfD bis 2025 auf ihr Bundestagswahlergebnis von 2021 (10,3 Prozent) zurückzudrängen, Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU/CSU) schon lange nicht mehr von der Halbierung der Rechtsaußenpartei. Im Gegenteil: In Berlin befürchten nicht wenige, die Höcke-Partei könnte bei der Bundestagswahl 20 Prozent oder mehr erreichen.

Umfrageprozente sind noch längst keine Stimmen. Doch ist nicht auszuschließen, dass die AfD bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen ein Drittel der Sitze erringen könnte. Dann verfügte sie über eine Sperrminorität bei der Wahl der Richter zum jeweiligen Staatsgerichtshof. Dies hat wiederum in Berlin Sorgen um das Bundesverfassungsgericht ausgelöst. So wird in der Ampel darüber nachgedacht, Einzelheiten zur Wahl und zur Amtszeit von Verfassungsrichtern im Grundgesetz festzulegen. Zurzeit schreibt das Bundesverfassungsgerichtsgesetz vor, dass die Mitglieder des Karlsruher Gerichts von Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit bestellt werden und nach einer Amtszeit von zwölf Jahren nicht wiedergewählt werden können. Würde das im Grundgesetz verankert, könnte das nur mit einer Zweidrittelmehrheit rückgängig gemacht werden.

Anders als die NSDAP will die AfD nicht die freien Wahlen abschaffen

Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz hingegen kann mit einfacher Mehrheit geändert werden. Bei einem Regierungswechsel ließe sich so beispielsweise die Abberufung von Richtern erleichtern. Freilich spricht es eher für Panik denn für eine realistische Betrachtungsweise, jetzt Vorsorge für den Fall treffen zu wollen, dass die AfD eines Tages im Bundestag über die absolute Mehrheit verfügt. Entsprechend höhnisch kommentiert der AfD-Fraktionsgeschäftsführer Stephan Brandner diese Diskussion: „Die Angst der Parteien vor einer absoluten Mehrheit der AfD, die es ihr ermöglichen könnte (…) eine massive Einflussnahme auf die höchste Gerichtsbarkeit auszuüben, ist offenbar enorm.“

Realistischer als eine absolute AfD-Mehrheit könnte sein, dass die Rechtsaußenpartei eines Tages über ein Drittel der Sitze verfügt. Die Verankerung einer notwendigen Zweidrittelmehrheit im Grundgesetz garantierte also nicht den Schutz vor einem maßgeblichen Einfluss der AfD auf das Verfassungsgericht. Sollte sie nämlich so stark werden, könnte sie jede Richterwahl blockieren oder ihre Zustimmung vom eigenen Einfluss auf die zu wählenden Richter abhängig machen.

Aus dem Parteiprogramm der AfD lässt sich keineswegs ablesen, diese Partei würde nach dem Erringen einer absoluten Mehrheit im Bundestag die freien Wahlen abschaffen und unsere freiheitlich demokratische Grundordnung außer Kraft setzen. Das war bei den Nationalsozialisten anders. Sie hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die „Schwatzbude Reichstag“ nach der Machtergreifung zu einer Akklamationsmaschinerie einer einzigen Partei degradieren würden. Dieses Versprechen haben sie auch eingelöst.

Selbst wenn die AfD solches vorhaben sollte, ließe sich das bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen letztlich nicht verhindern. Die Weimarer Republik ist nämlich nicht an manchen Mängeln der Verfassung gescheitert. Die erste deutsche Demokratie ist gescheitert, weil es zu wenige Demokraten gab, die dieses System mit dem Stimmzettel verteidigt haben.

Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das Dilemma eines demokratischen Gemeinwesens so beschrieben: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Dieses Wagnis besteht darin, dass sich eine Mehrheit gegebenenfalls gegen Freiheit, Pluralismus und Demokratie entscheiden kann. Wenn es hart auf hart kommt, kann keine Verfassung die Demokratie retten. Das können nur demokratisch gesinnte Bürger. Die waren in der Weimarer Republik zum Schluss in der Minderheit. In der Bundesrepublik sind sie nach wie vor in der Mehrheit. Und es liegt allein an ihnen selbst, ob das so bleibt.

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