Krise des Verfassungsstaats - Das Grundgesetz stirbt leise

Die Ampelkoalition ist sehenden Auges in die verfassungsrechtliche Katastrophe gelaufen. Darin kommt wieder mal eine Geringschätzung des Grundgesetzes zum Ausdruck. Droht gar das Ende des Verfassungsstaates?

Das große Artensterben? Feierstunde zum Grundgesetz-Jubiläum im Museum König / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Die Haushaltspolitik der Ampelkoalition ist in weiten Teilen verfassungswidrig. Die Verfassungsverstöße sind grundsätzlich und sehr offensichtlich. Das ist schon schlimm genug. Noch schlimmer sind die allerersten Reaktionen der Spitzenpolitiker auf das Urteil, das ihnen sehr deutlich die Verletzung der Verfassung bescheinigt. Patzig im Ton, zielen sie vor allem darauf, wie die Verfassung in Zukunft geschickter umgangen werden kann. Von Unrechtsbewusstsein, Selbstkritik oder Demut vor der Verfassung keine Spur. In der Spitzenpolitik ist – so scheint es – die Achtung vor der Verfassung verloren gegangen. Das ist keine ganz neue, aber eine gefährliche Entwicklung. Und sie hat Gründe.

Verfassungsbruch mit Ansage

Für die staatliche Haushaltsplanung legt die Verfassung bestimmte Grundregeln fest. Diese Regeln sind keine willkürliche Bürokratie; sie haben einen tieferen Sinn. Es geht darum, dem demokratisch gewählten Parlament die ausschließliche Kontrolle über alle Staatsausgaben zu sichern. Diese Budgethoheit ist in der Demokratie ein Kernbereich der politischen Macht, die das Parlament hat.

Haushaltspläne sind strikt auf ein (Haushalts-)Jahr bezogen. Staatliche Ausgaben werden vom Parlament immer nur für ein Haushaltsjahr bewilligt, und sie müssen im selben Haushaltsjahr getätigt werden. Ausgaben sollen nicht durch undurchsichtige Umbuchungen über längere Zeiträume verschleiert werden können. Genauso wichtig: Wofür der Staat Geld ausgibt, muss das Parlament vorher festlegen. Nur dann haben die Parlamentarier eine echte Entscheidungsgewalt und Kontrolle. Nachträgliche Umbuchungen, die die Ampelkoalition hier vorgenommen hat, sind deshalb verfassungsrechtlich ein absolutes „No Go“.

Hybris und Verachtung

Von Anfang an gab es massive Kritik aus Expertenkreisen an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieser Idee. Das Gesetz hat sehr offensichtlich gegen Grundregeln des Haushaltsverfassungsrechts verstoßen. Wer sich nur ein bisschen damit auskennt, wusste das. Deshalb ist die Überraschung über das Urteil in Expertenkreisen nicht so groß. 

Die Ampelkoalition ist also sehenden Auges in die verfassungsrechtliche Katastrophe gelaufen. Warum? Wenn nicht alles täuscht, kommt darin eine Hybris und eine Geringschätzung der Verfassung zum Ausdruck. Ein Indiz dafür sind auch die spontanen Reaktionen der Spitzenpolitik nach dem Urteil. Dann müsse man halt den Klimanotstand ausrufen, hieß es früh. Oder eben die Schuldenbremse abschaffen, also die Verfassung ändern. Das klingt nicht nach Respekt vor dem Grundgesetz und Einsicht in die verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten..

Schleichender Bedeutungsverlust der Verfassung

Wer genau hinschaut, erkennt schon seit längerer Zeit einen schleichenden Bedeutungsverlust der Verfassung. Während der Corona-Pandemie trat das Grundgesetz viel zu sehr in den Hintergrund. Im Vordergrund stand der starke Staat, der das Virus mit allen – auch sehr autoritären – Mitteln bekämpft hat. Ob dabei Grundrechte und Freiheiten zu Unrecht eingeschränkt wurden, war zweitrangig. Das Verfassungsgericht in Karlsruhe ist dagegen nicht eingeschritten. Es hat keine „roten Linien“ gezogen und damit dem Grundgesetz Wirkung verschafft. Das war ein fatales Signal und hat – das ist zu befürchten – das Denken weiter Teile der politischen Klasse geprägt. Die unselige Botschaft war: Wenn es darauf ankommt, ist die Verfassung kein Hindernis für politische Initiativen und staatliches Handeln. Genau das soll eine Verfassung aber sein: ein Hindernis für staatliches Handeln, um die Demokratie und die Freiheit der Bürger zu schützen. 

Alternativlosigkeit als Totschlagargument

Der Bedeutungsverlust der Verfassung begann aber schon früher. Immer wieder hieß es von Merkel als Bundeskanzlerin, eine bestimmte politische Entscheidung sei alternativlos. Zwischen den Zeilen suggerierte das: Die naturwissenschaftlich geprägte Kanzlerin hat die wissenschaftlich fundierte und deshalb einzig richtige Lösung gefunden. Niemand, der vernünftig ist, könne ernsthaft auf eine andere Idee kommen und ihr widersprechen. Sie machte die – angebliche und scheinbare – Alternativlosigkeit zum effektiven Instrument im politischen Machtkampf. Mit dieser Methode hat Merkel tiefgreifende Entscheidungen durchgesetzt, die bis heute nachwirken. Die extrem teuren Bankenrettungen 2008, der Ausstieg aus der Atomkraft 2011 nach Fukushima, die Flüchtlingspolitik nach 2015 und die repressiven Coronamaßnahmen ab 2020 – alles war in ihrer Darstellung alternativlos. Gedanklich ist damit eine Relativierung der Verfassung verbunden. Denn wenn die wissenschaftlich fundierte Vernunft etwas erzwingt, ist Widerspruch dumm, auch wenn er vom Grundgesetz kommt. 

Moral und Politik

Immer öfter werden politische Forderungen nicht mehr politisch, sondern moralisch begründet. Das gilt – nicht nur, aber vor allem – in Fragen der Klimapolitik. Die Klima-Apokalypse, die immer wieder beschworen wird, mache eine bestimmte Klimapolitik notwendig, um jeden Preis. Denn hier geht es – scheinbar – nicht nur um Politik, sondern um die Rettung der Welt vor einer Klimakatastrophe. Wer also die Klimapolitik der Ampelkoalition kritisiert, hat nicht nur eine andere politische Meinung. Er macht sich – nach dieser weltweit wirkmächtigen Erzählung von der Klimakatastrophe – auch schuldig, weil er unmoralisch handelt. Ein moralisierender Sound lässt sich auch in anderen öffentlichen Diskussionen beobachten, nicht nur in Deutschland. 

Das Ende des Verfassungsstaates?

Denkt man die Moralisierung der Politik konsequent weiter, ist der Verfassungsstaat am Ende. Wer Moral hat, braucht keine Verfassung mehr. Denn was richtig und falsch ist, sagt dann die Moral der Mehrheit. Grundwerte, die von allen akzeptiert werden – und das ist ja eine Verfassung –, braucht man dann nicht mehr.

Die Moralisierung der Politik ist kein Fortschritt. Sie ist ein trauriger zivilisatorischer Rückschritt. Das Gefühl, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen und alternativlos zu handeln, fördert die Intoleranz, die Willkür und – im schlimmsten Fall – die Aggressivität. Zugespitzt: Der – angeblich – gute Zweck heiligt die Mittel. Die Moralisierung verhindert sachliche Debatten und rationale Lösungen, sie führt zu Ausgrenzung, Stigmatisierung und Spaltungen in der Gesellschaft. Die Corona-Jahre sind ein abschreckendes Beispiel dafür. Für eine Demokratie ist das fatal.

Ohne Verfassung geht es nicht

Die grundsätzliche Trennung von Recht und Moral in den modernen Verfassungen ist ein großer Gewinn an Freiheit und Demokratie für die Menschen. Denn staatliches Recht will nur das äußere Verhalten beeinflussen. Die Gedanken und Gefühle sind weiterhin frei. Moral dagegen zielt auf die inneren Einstellungen und Gesinnungen.. Sie will Gedanken und Gefühle in den Griff nehmen. Anders als modernes Recht ist das – jedenfalls potenziell – totalitär. 

Hier liegt die Bedeutung einer modernen Verfassung. Sie schreibt den Grundkonsens einer Gesellschaft auf. Sie garantiert die Werte, die nicht verhandelt werden können. Die Verfassung minimiert den Raum für die Schattenseiten der Politik, für Willkür und Macht, für Manipulation und Einschüchterung. Ohne eine moderne Verfassung hätten wir eine völlig andere Gesellschaft. Eine Verfassung muss aber im politischen Alltag beachtet, durchgesetzt, gelebt, werden. Sonst stirbt sie – zentimeterweise und leise. Im Augenblick geht es also nicht nur um Haushaltsfragen. Es geht um die Frage, welche Art von Politik und Gesellschaft wir wollen.

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