Deutschland in der Krise - Die Soft-Skills-Gesellschaft

Die Ursachen der derzeitigen Probleme liegen nicht ausschließlich in einzelnen Fehlentwicklungen. Es läuft etwas grundlegend schief. Insbesondere dort, wo man Verantwortung übernehmen müsste, regieren Weinerlichkeit und Selbstüberschätzung.

„Wir tun alles dafür, dass sie sich hier sicher fühlen“: Bayern-Trainer Thomas Tuchel / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Wer Deutschland im Herbst 2023 verstehen möchte – und das ist nicht ganz leicht –, der war gut beraten, die Pressekonferenz von Thomas Tuchel, Cheftrainer des FC Bayern München, am vergangenen Donnerstag zu schauen.

Auf die Frage eines Reporters, wie er, Tuchel, die deutschen Nationalspieler nach dem Desaster in Wien vorgefunden habe, antwortete der Übungsleiter des deutschen Meisters: „Wir tun alles dafür, dass sie sich hier sicher fühlen, dass sie sich hier wohl fühlen. Ganz egal ob sie gute Erlebnisse haben oder auch mal schlechte Erlebnisse.“ Und er fuhr fort: „Wir wollen ein Umfeld und eine Einheit bieten, wo man sich sicher fühlt, wo man sich ruhig fühlt, wo man die Dinge auch mal abstreifen kann.“

Wie bitte? Was? Da fahren gestandene Vollprofis zu einem Spiel mit der Nationalmannschaft, verlieren auf peinliche Weise und brauchen erst einmal eine zarte Seelenmassage, eine Wohlfühloase zur mentalen Regeneration, am besten noch ein Gespräch mit dem Mannschaftspsychologen? Da verlieren hoch bezahlte Leistungssportler, die schon hunderte von Fußballspielen auf teilweise höchstem Niveau bestritten haben, ein Match und benötigen erst einmal eine Art Safe Space, wo sie sicher sind und zu sich selbst kommen können? – Geht es noch?

Über den Irrsinn der deutschen Energiepolitik ist alles gesagt

Aber so ist Deutschland im Herbst 2023. Gefühlig, labil, weinerlich und ohne jede Resilienzfähigkeit. Das alles gepaart mit einer unappetitlichen Mischung aus Überheblichkeit und Laissez-faire, Arroganz und Trägheit. So ruiniert man nicht nur den Ruf einer einstmals großen Fußballnation (was zur Not ja noch zu verkraften wäre), sondern auch den Wirtschaftsstandort Deutschland, die Schlüsselindustrien, die Forschungszentren, die Infrastruktur und zu guter Letzt auch noch die Staatsfinanzen.

Jedes Problem für sich betrachtet kann man zur Not noch als Folge ganz spezifischer Umstände ansehen. Die Bahn kollabiert, weil man nach der Privatisierung nur den Shareholder-Value im Blick hatte und dabei vergaß, dass es sich um ein Infrastruktur-Unternehmen handelt, das nicht nach ausschließlich wirtschaftlichen Kriterien geführt werden kann. Die Straßen und Brücken Deutschlands bröckeln, weil über Jahre viel Geld in die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit und das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost flossen und zeitgleich immer mehr Regelungen und Vorgaben die Planung größerer Projekte schwierig machten. Denn schließlich kann die Verbreiterung der Schnellstraße schon am nächsten Feuchtbiotop scheitern.

 

Mehr aus der Grauzone:

 

Die Probleme der deutschen Automobilindustrie sind teils hausgemacht, teils das Ergebnis einer explizit autofeindlichen Politik. Über den Irrsinn der deutschen Energiepolitik ist alles gesagt. Und das Thema Staatsfinanzen ermüdet ohnehin nur. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass im Jahr 2002 (ein Jahr, in dem Deutschland nicht darbte, soweit ich mich erinnere) der Bundeshaushalt 249 Milliarden Euro betrug. Im Jahr 2012 (Deutschland darbte ebenfalls nicht) betrug er 307 Milliarden. Und 2022 umfasste er 480 Milliarden – was selbstredend nicht reicht, weshalb wir dringend mehr Schulden aufnehmen müssen, um Investitionen zu tätigen.

Letztlich sind es Menschen, die Strukturen schaffen und in Strukturen handeln

Wie gesagt: Isoliert betrachtet, scheint jede Fehlentwicklung ganz eigene Ursachen zu haben. Aber in ihrer Häufung und vor allem hinsichtlich der Vergleichbarkeit ihrer tieferen Ursachen, kommen einem doch Zweifel, ob das alles Zufall ist oder eine Laune der Umstände.

Zugleich wäre es billig und verlogen, jede Fehlentwicklung auf irgendwelche anonymen Strukturen zu schieben oder auf die äußeren Umstände. Letztlich sind es Menschen, die Strukturen schaffen und in Strukturen handeln. Und insbesondere dort, wo man im Scheinwerferlicht steht, wo man Teil des Medienzirkus ist, wo man in Kameras und Mikrofone sprechen muss (oder darf), hat sich zunehmend ein Typus Mensch festgesetzt, dessen Narzissmus die jeweilige Kompetenz mitunter deutlich übersteigt.

Für eine Mediengesellschaft ist das keine überraschende Diagnose. Gleichgültig ob Konzern, Unternehmen, Partei, Behörde, Verein oder Institut – dank der technischen Entwicklung steht jedes Führungspersonal automatisch im Fokus der allgegenwärtigen Medien. Das zieht naturgemäß Leute an, deren Stärke hauptsächlich in der Selbstdarstellung liegt. Der stille, introvertierte Macher hat ausgedient. Teamfähigkeit ist gefragt und natürlich Soft Skills. Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, das Anforderungsprofil für die Führungsjobs in unserer Gesellschaft zu überdenken. Im Zweifelsfall ist echtes Können wichtiger als kommunikative Kompetenz. 

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