Gespaltene Linke - Das Wagenknecht-Projekt

Im Streit um den politischen Kurs steht die Linkspartei vor der Spaltung entlang der Wagenknecht-Linie. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wann die Partei implodiert.

Wann gründet Sahra Wagenknecht ihre eigene Partei? / Thomke Meyer
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Es ist nicht leicht für Martin Schirdewan, in diesen Zeiten Gehör für linke Inhalte zu finden. In schwarzem Jackett und Turnschuhen tritt der 47-Jährige an einem Montag im April in der Berliner Parteizentrale vor eine rote Wand, die über und über mit dem Schriftzug „Die Linke“ bedruckt ist. Vor ihm weniger als eine Handvoll Journalisten, die Schirdewan pflichtschuldig zuhören, wie er von „sehr, sehr guten Nachrichten“ spricht, nämlich gewonnenen Bürgermeisterwahlen in Köthen, Reichenbach und Heringen/Helme; wie er die Ampel dafür kritisiert, dass sie den Streit „auf dem Rücken der ärmsten Familien in diesem Land austrägt“; wie er eine Kindergelderhöhung bis auf maximal 681 Euro fordert.

Das einzige Thema aber, das die Medien derzeit an der Linken interessiert, ist der Modus ihrer Selbstzerstörung. Die Frage ist nicht mehr, ob sich die Partei spalten wird, sondern nur noch wann. 2022 eskalierte der Lagerkampf in der Partei entlang der Frage, wie man es mit Russland halten solle, in den vergangenen Wochen wurden entscheidende Weichen gestellt: Sahra Wagenknecht hat angekündigt, nicht mehr für die Partei zu kandidieren, und dass sie bis Jahresende entscheiden will, ob sie eine eigene Partei gründet. Seitdem ist kein Halten mehr. Aus dem Parteiestablishment tönt es von Tag zu Tag lauter: Geh, und zwar je schneller, desto besser. Aber auch ein Bundestagsabgeordneter aus dem Wagenknecht-Lager sagt: „Mir fehlt die Fantasie, wie das wieder gut werden kann.“ 

„Viele von uns suchen schon einen neuen Job“

Für die Partei, 2007 durch die Verschmelzung der westdeutschen SPD-Abspaltung WASG und der SED-Nachfolgerin PDS entstanden, geht es gut zwei Jahre vor der Bundestagswahl um die Existenz: Im Parlament ist sie nur deshalb mit 39 Abgeordneten vertreten, weil die drei Linke-Politiker Gesine Lötzsch, Gregor Gysi und Sören Pellmann Direktmandate holten.

Aber selbst wenn diese Sonderklausel im Wahlrecht auch 2025 gelten sollte: Alles wird anders sein. Denn Gysi, Zugpferd und Pate der Partei, ist schon heute 75 Jahre alt und könnte nicht mehr antreten. Der Leipziger Pellmann steht treu an Wagenknechts Seite, nur Lötzsch könnte der Partei erhalten bleiben.

Der Zerfall wird in diesem Jahr beginnen, vermutlich mit dem Auszug von bis zu zehn Wagenknecht-Getreuen aus der Bundestagsfraktion – mit dramatischen Folgen: Mit weniger als 36 Abgeordneten verlöre die Linke ihren Fraktionsstatus, viel Geld für die Bezahlung von Mitarbeitern, die Möglichkeit, Gesetze einzubringen, und Rederechte. Als Ausweg könnten sich die beiden Überreste als „Gruppen“ anerkennen lassen, aber darüber müsste der Bundestag entscheiden. Im schlimmsten Fall blieben die 39 Abgeordneten als freie Radikale im Plenum erhalten. „Viele von uns haben es satt und suchen sich schon einen neuen Job“, sagt ein Fraktionsmitarbeiter.

„Es muss sich trennen, was nicht zusammengehört“, sagt Sören Benn. Der 54-Jährige verlebt seine letzten Tage im Pankower Rathaus, in einem Job, den er sehr gerne gemacht hat. Benn hält nur noch „Stallwache“, seit die Linke bei der Berlinwahl zwar nicht viel verloren, die CDU aber in dem linksliberalen Bezirk – der Prenzlauer Berg gehört zu Pankow – 8 Prozentpunkte dazugewonnen hat und auf über 20 Prozent kam. Gut möglich, dass Benn ein CDU-Bürgermeister folgen wird.

Offene Flügelkämpfe

Der Richtungsstreit lähmt die Linke, seit Jahren fliegen ihre Abgeordneten aus einem Landtag nach dem anderen, mit großer Sicherheit wird sich das bei der Hessenwahl im Oktober fortsetzen. „Wer wählt schon eine Partei, von der er nicht weiß, wofür sie steht?“, sagt Benn. In seinem Bezirksverband sind die Reformerkräfte stark, aber es gibt auch Genossen, die ihn unmöglich finden. Eine Diskussion findet aber nicht statt: Die Lager existieren bis hinein in die Bezirks- und Ortsverbände. An die 10 000 Menschen hätten die Partei seit Beginn des Ukrainekriegs verlassen, „und zwar in beide Richtungen“, wie Benn sagt: die einen, weil ihnen die Parteilinie gegenüber Russland zu schlapp war, die anderen, weil sie gegen die Ausgrenzung Wagenknechts und ihrer Positionen protestieren. 

„Wir sind nicht diskursfähig“, sagt Benn. Schon seit Jahren gehe es nur um die Frage: siegen oder besiegt werden. Der Zusammenprall der Lager in der Ukrainefrage ist aber härter denn je: Hier Wagenknecht und ihre Adepten, für die das Kapital, der Westen und die Nato schon immer und auch diesmal die Hauptschuld am Krieg tragen, die für Waffenstillstand und die Aufhebung der Russlandsanktionen eintreten. Dort Realos wie der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow, die sich auch Waffenlieferungen an die Ukraine vorstellen könnten. 

 

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Die Härte, in der die Linke ihren Lagerkampf austrägt, erinnert an die politische Kraft am anderen Ende des politischen Spektrums, in der sich ein Parteichef nach dem anderen am „Flügel“ und seinem Anführer Björn Höcke die Zähne ausgebissen hat – nachdem man zunächst versucht hatte, ihn einzuhegen. Wie die AfD trägt auch die Linke ihre Flügelkämpfe offen auf Parteitagen, über Medien und in den sozialen Netzwerken aus. 

Alles dreht sich um Sahra Wagenknecht

Immer im Zentrum: Sahra Wagenknecht. Ihr gelingt das Kunststück, zugleich die landesweit beliebteste Politikerin der Linken zu sein – und die verhassteste innerhalb der eigenen Partei. 

Ein Grund dafür ist, dass sie zwar eine versierte Rednerin und Schreiberin ist, ihr die Mühen der parlamentarischen Ebene aber fremd sind. Der Spiegel hat ihre Fehltage im Bundestag zusammengezählt: Von den 89 Sitzungen bis Anfang März war Wagenknecht an 29 Sitzungstagen entschuldigt abwesend, bei weiteren acht war sie nicht als abwesend vermerkt, nahm aber nicht an allen namentlichen Abstimmungen teil. Stattdessen sammelt sie Fans über ihren Youtube-Kanal, tourt durch Talkshows – und organisiert Friedensdemos wie jene am Brandenburger Tor im Februar.

Auch inhaltlich wurde der Riss spätestens 2017 sichtbar: Wagenknecht versuchte, die Partei zu einer rigideren Flüchtlingspolitik zu bewegen, scheiterte aber immer wieder an den Mehrheiten auf den Parteitagen. 2018 leitete sie, damals eine der Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, mit der Gründung der Bewegung Aufstehen den Scheidungsprozess ein. Die Bewegung sollte sich an den Gelbwesten in Frankreich orientieren. „Es war aber völlig unklar, worauf es hinauslaufen sollte: Die einen sahen einen Thinktank, die anderen eine Bewegung, wieder andere träumten von einer Parteigründung“, erzählt einer, der führend beteiligt war. 

Altherrenrunde Aufstehen

Schon im Frühjahr 2019 verabschiedete sich Wagenknecht wegen eines Burnouts aus der Bewegung – und bald auch aus der Fraktionsspitze. Von Aufstehen sind heute nur noch Endmoränen sichtbar. 

An einem Mittwoch Ende März lässt sich Wagenknecht aber überraschend bei einer Aufstehen-Konferenz blicken: Per Zoom sind etwa 600 Leute versammelt, ältere Männer dominieren, es wird überdurchschnittlich viel gesächselt. Es sind Menschen, die von den bestehenden Parteien nichts mehr erwarten. „Im Grunde ist das System schon längst in Grund und Boden gefahren. Mir wird himmelangst, wenn ich an die Zukunft dieses Landes denke“, sagt Aufstehen-Mitglied Reiner Tennler. Stattdessen wird hier Basisdemokratie in aller Mühseligkeit praktiziert: Ein geloster Basisrat wurde gegründet, der nun, im Jahr fünf nach Gründung der Bewegung, ein Manifest erarbeiten soll. Es soll „richtungsweisend“ sein. 

Zunächst aber hat Wagenknecht ihren Auftritt, im dunkelblauen Blazer vor einer weißen Wand mit weißen Regalen und Grünpflanzen, wie immer perfekt gestylt. 20 Minuten lobt sie die Bedeutung von Basisbewegungen, die Berliner Ukrainekundgebung habe gezeigt, „wie man gesellschaftliche Debatten prägen kann“. Denn mindestens die Hälfte der Bevölkerung sei bis dahin ausgegrenzt worden.

„Tschühüs“

Die Friedensfrage sei das eine, extreme Lebensmittelpreise, Löhne, die nicht mitkommen: „Da müsste noch mehr in unserem Land passieren an Gegenwehr“, sagt sie. Und kommt dann zu ihrem Lieblingstopos: „Was sind die Probleme der normalen Leute? Die meisten Politiker leben in einer Blase, die wohnen nicht in armen Wohnvierteln.“ Im Bundestag kämen oft Entscheidungen heraus, die nicht von der Mehrheit getragen seien, „diese irren Pläne von Herrn Habeck“ etwa. 

Dann kommt sie auf den Punkt: „Viele wissen gar nicht mehr, was sie wählen sollen. Es gibt eine große Leerstelle im politischen Spektrum: Wie ändert man das?“ Ohne eine Antwort zu geben, verabschiedet sie sich mit „Tschühüs“, winkt, nimmt ihre schwarze Handtasche, verlässt den Raum.

Mit Wagenknecht verschwindet die Hälfte der Zuschauer aus der virtuellen Zusammenkunft, nur noch wenige erleben das Ende des Aufstehen-Gipfels: Dieter im rot karierten Hemd will Dudelsack spielen, aber der Sound streikt, stattdessen läuft „We shall overcome“ vom Band.

Wenig Potenzial für eine Wagenkecht-Partei

Sind das die Leute, mit denen Wagenknecht ihre neue Partei aufbauen will? Es ist ein Milieu der (gefühlt) kleinen Leute, in dem sie vergöttert wird. „Aber eine Parteigründung braucht die Jugend, und die hat sie nicht“, sagt Noch-Bürgermeister Benn.

In Umfragen ist sie aber ein Star: Das Potenzial für eine Wagenknecht-Partei sah eine Umfrage im März bei 19 Prozent, darunter überdurchschnittlich viele AfD- und Linke-Wähler. Ihre Fans sind im Osten der Republik aber doppelt so stark wie im Westen vertreten. 

Der Politikwissenschaftler Emanuel Richter von der RWTH Aachen hält die Umfragen jedoch für wenig aussagekräftig. Mit mehr als 2 oder 3 Prozent könne sie nicht rechnen. „Wir leben ja in Krisenzeiten, da schart sich die Bevölkerung eher um die politische Mitte“, sagt er. Die überzeugte Marxistin Wagenknecht dagegen stehe für einen Systemwechsel – eine Position, die nur an den extremen politischen Rändern Zustimmung finde. 

Was aber, wenn sich im Laufe des Jahres die Flüchtlingskrise erneut zuspitzte und der ohnehin knappe und teure Wohnraum in Deutschland noch knapper und teurer würde? „Dann würden eine Wagenknecht-Partei und die AfD auf demselben Feld um Wähler konkurrieren“, glaubt Richter.

Tausende Mitglieder sind weg

2021 hatte sich Wagenknecht mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ zur Galionsfigur der kleinen Leute stilisiert: hier das abgehobene Akademikermilieu in den Großstädten, moralisch auf hohem Ross, für Gendern und offene Grenzen, gegen AKWs und Autos; dort die arbeitende Bevölkerung. Wagenknecht tourte mit der Botschaft durch Land und Talkshows, die Linke konnte nur zuschauen. 

„Das Buch mit seiner Botschaft, wir seien von Lifestyle-Linken gekapert worden, hat uns enorm geschadet“, sagt Bernd Riexinger, einst Parteichef und heute in der Bundestagsfraktion Wagenknechts erbittertster Gegner. „Denn das Buch sendete ja zwei Botschaften: Für Arbeiter machen wir nichts. Und Gebildete wollen wir nicht.“ 

Dabei war die Partei bis 2017 auf dem aufsteigenden Ast: War die Linke zu Beginn noch von älteren PDS-Mitgliedern aus dem Osten dominiert, kippte das Mitgliederverhältnis in dieser Zeit zugunsten der westdeutschen Mitglieder, die Partei wurde jünger und urbaner. 2017 hatte die Partei deutlich über 60 000 Mitglieder, inzwischen hat sie nur noch knapp über 50 000, mehr als 6000 davon verlor sie 2022. Allein nach Wagenknechts umstrittener Rede im Bundestag im September, berichtet Riexinger, hätten 800 Mitglieder ihren Austritt erklärt. Besonders Wagenknechts Formulierung, die Grünen seien die „gefährlichste Partei“ im Bundestag, sei vielen übel aufgestoßen: „Die meisten sehen die AfD als gefährlichste Partei.“

Im Revier der AfD

„Verzweiflung ist kein Grund auszutreten“, sagt Artyom Stassyuk, ein 30 Jahre junger Dresdner mit ukrainisch-kasachischen Wurzeln. Er wechselte 2018 nach der Groko-Verlängerung von der SPD zur Linken, heute sitzt er im Stadtvorstand Dresden. Auf dem Bundesparteitag 2022 legte sich Stass­yuk ins Zeug, um ein Einschwenken der Partei auf den Wagenknecht-Kurs zu verhindern. Gegen den Widerstand von Wagenknechts Getreuer Sevim Dagdelen ließ er vor der Abstimmung über die Position zum Ukrainekrieg eine Botschaft ukrainischer Linker verlesen. 

Auf Sitzungen in Dresden trifft Artyom den „harten Kern“ der dortigen Linken: „Das ist ja kein Geheimnis. Viele davon sind frühere SED-Mitglieder, keine durchschnittlichen DDR-Bürger.“ Eine idealisierte Vorstellung von Russland und eine unkritische Wahrnehmung russischer Medien lernt er dort kennen. „Sie nehmen wahr, was ins eigene Weltbild passt“, sagt er. Wagenknecht ist ihre große Heldin, er nennt es eine „sektenhafte Verehrung“: „Selbst wer einzelne Positionen von ihr kritisiert, ist sofort Gegner. Dann heißt es: Sie kämpfen gegen Wagenknecht!“ 

Ihre große Jüngerschaft über Parteigrenzen hinweg insbesondere im Osten erklärt, warum die Partei sich lange schwer damit tat, härter gegen sie vorzugehen. Laut Insa-Chef Hermann Binkert könnte eine Wagenknecht-Partei die AfD im Osten sogar halbieren. Aus Björn Höckes Umfeld wird deshalb auf verschiedenen Wegen nervös ausgelotet, ob Wagenknecht eine eigene Partei gründet, denn im Herbst 2024 wird in Thüringen gewählt. Ihr politischer Quadrant ist jener „linkskonservative“, wie sie ihn selbst nennt: sozioökonomisch links, soziokulturell konservativ. Die Schnittmengen mit der AfD im Osten sind groß, ihre Gegner schimpfen den Kurs deshalb einen „nationalsozialen“. 

Worauf wartet Wagenknecht?

„Wir müssen uns überlegen, für wen wir Politik machen“, verteidigt ein Wagenknecht-Vertrauter im Bundestag den Kurs: „Für arbeitende Menschen mit wenig Geld, die sich von der Politik abgewendet haben? Oder für die urbane Akademiker-Bubble, die die Welt verändern will?“ Logisch wäre für ihn die Variante, bei der es mehr Wählerstimmen gebe. „Stattdessen wird bei uns gekämpft, härter als bei allen anderen. Bei der CDU klatscht man sich den Handschuh ins Gesicht, bei uns schlagen sie sich die Axt auf den Kopf.“ Er erzählt von einer Fraktionssitzung im April: „Ihr wollt doch eine Partei gründen“, giftete die eine Seite. Die Wagenknecht-Fraktion erwiderte: „Was denn sonst? Ihr sagt doch immer wieder, dass ihr uns nicht wollt.“ 

„Eine Spaltung würde die linke Partei retten“, ist der junge Linke-Politiker Stassyuk überzeugt. „Die Wagenknecht-Anhänger wählen uns nicht wegen Leuten wie Ramelow, die Progressiven wählen uns nicht wegen Wagenknecht“, sagt er. Die Politik der „Einheit um der Einheit willen“ in den letzten Jahren habe sich nicht bewährt. Auch Riexinger ist überzeugt: Verlassen Wagenknecht und ihre Anhänger die Fraktion, werde die Partei nach einer gewissen Durststrecke wieder Werte von 6 bis 7 Prozent erreichen. Derzeit dümpelt sie unter der Fünf-Prozent-Hürde. Ende 2022 hat sich das Netzwerk Progressive Linke formiert, das die inhaltliche Erneuerung für eine Post-Wagenknecht-Ära vorantreiben will.

Linke-Kenner Emanuel Richter hält das aber für Wunschdenken: „Der Zeitgeist steht gegen die Linke. Anders als nach der Wende oder nach den Hartz-IV-Reformen gibt es keine Leerstelle: Die Grünen und die SPD fangen linke Themen auf.“
Viele in der Partei fragen: Warum zögert Wagenknecht den endgültigen Bruch hinaus? Will sie der Partei maximal schaden? Will sie die Landtagswahl in Hessen abwarten, um der Partei nach der Niederlage triumphal den Rücken zu kehren? 

Wen Wagenknecht jetzt braucht

Nach zwei Zoom-Konferenzen im Januar und Februar treffen sich im Mai Hunderte Anhänger Wagenknechts in Hannover, um zu beraten, „welche Chancen ein organisationspolitischer Neuanfang“ hat. Die Zeichen stehen auf Neugründung. Der Wagenknecht-Vertraute und ehemalige Parteivorstand Ralf Krämer, 2022 aus der Linken ausgetreten, schreibt in einem programmatischen Aufsatz, es sei nötig, eine neue politische Kraft aufzubauen: „Ob es realistisch möglich ist und versucht wird, wird sich im Laufe dieses Jahres klären müssen.“

Die Gründung eines eigenen Projekts wird in der zweiten Jahreshälfte erwartet, um an der Europawahl teilnehmen zu können: Dort gibt es keine Prozenthürde. Um ein Mandat zu bekommen, reicht 1 Prozent der Stimmen. Zudem wäre eine bundesweite Liste ausreichend, nicht einmal eine Partei ist notwendig. Danach könnten sich ihre Unterstützer an den Aufbau von Landesverbänden machen, um zur Bundestagswahl 2025 anzutreten. In die Karten schauen lassen sich Wagenknechts Leute nicht. „Ich kann nur sagen: Es wird anders laufen als 2018 bei Aufstehen“, sagt ein Vertrauter.

Wagenknechts Problem: Sie braucht Leute, die für sie das tun, was sie nicht kann: Menschen organisieren. „Einen wie Lafontaine, nur 30 Jahre jünger“, sagt ein ehemaliger Aufstehen-Mitstreiter. Namen aus ihrem Umfeld fallen: Alexander King, zuletzt Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, Sevim Dagdelen, Wagenknechts engste Vertraute. Gespräche gab es auch mit dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi, der die Partei 2021 im Streit verließ und einst Wagenknechts Büromitarbeiter war. 

Schluss mit Durchwursteln

Aber was, wenn das Projekt aus dem Ruder läuft, und plötzlich Leute bei Wagenknecht mitmachen, die klar rechts sind? „Man weiß nie, was man da für Beifang macht“, warnt Benn. Das Problem ist auch Krämer bewusst: „Es gäbe Probleme mit vielen, die dann kommen würden, die politisch oder persönlich aber problematisch sind, rechts vielleicht oder Sektierer oder pure Karrieristen“, schreibt er.

Die Parteiführung indes will schnell für klare Verhältnisse sorgen. Der Parteivorstand hat Wagenknecht Terminvorschläge für ein Gespräch geschickt. Endlich soll Schluss mit Durchwursteln sein. Denn das grundlegende Problem der Partei, so der Pankower Bürgermeister Benn, sei schon seit dem Übergang von SED zur PDS: „Wir fassen die kritischen Themen nicht an aus Angst davor, dass dann der Laden explodiert. Stattdessen implodiert er nun.“

Der wie kein anderer für das jahrzehntelange Durchwursteln steht, sitzt an einem Abend im April auf der Bühne des Kulturhauses Bitterfeld-Wolfen vor Hunderten Fans: Gregor Gysi. Der heute 75-Jährige rettete die SED und strickte daraus die PDS, mit Oskar Lafontaine schuf er die Linke. 

Wie der Nahostkonflikt

Vielleicht noch voriges Jahr hätte Gysi die Autorität gehabt, die Partei zu retten, wenn er eindeutig Position bezogen hätte: zu Russland, zur Nato, zum Westen. Doch Gysi kleistert Differenzen lieber zu. Angesprochen auf die Krise in seiner Partei, wendet er sich „gegen Ausschließeritis“: „Ich kann Sahra Wagenknecht aushalten, sie kann mich aushalten. Warum können andere das nicht?“ Die Partei müsse nach außen „das Gemeinsame betonen“ und „Auseinandersetzungen intern führen“. Als ginge es nicht um ganz grundsätzliche inhaltliche Differenzen. Gysi erinnert an den AfD-Demiurgen Gauland, dem es immer um den Erhalt seines Lebenswerks ging – und der sich von Radikalen wie Höcke nie klar distanzierte.

Von einer Spaltung rät Gysi an diesem Abend ab, obwohl sie ja nur noch eine Frage der Zeit ist. Die Konsequenz, da ist er sich sicher: „Dann erleiden beide den Untergang.“ 

Kurz vor der Pause kommt er auf den Nahostkonflikt zu sprechen: „Da sehen Sie, was passiert, wenn man einen Konflikt schwelen lässt, aber nie löst.“ Einen passenderen Satz hätte er über sich und seine eigene Partei nicht finden können.

 

In einer früheren Version des Artikels stand, dass Fabio de Masi Büroleiter von Sarah Wagenknecht war. Dies ist unwahr. Er war ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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